„Nicht jeder Spezialist ist auch ein Intellektueller“

Forscher Florin George Călian erzählt von Antoaneta Sabău, der Antike und Dan Slusanschi

Florin George Călian
Foto: pivat

„Ich bin erschöpft“, sagt Florin George Călian sieben Monate nach dem schweren Herz- und Atemstillstand seiner Ehefrau Antoaneta Sabău im Juni 2021. Bald danach erbat er sich vom Institut für Ökumenische Forschung Hermannstadt/Sibiu (IÖFH) ein Sabbatjahr. Es erfüllt ihn, zeigt ihm aber auch seine persönlichen Grenzen und bestimmte Mängel Rumäniens auf. Dennoch ist Florin George Călian mit dem In-die-Welt-gestellt-Sein als Experte für klassische Sprachen, das er sich selber ausgesucht hat, zufrieden. Er hat in Bukarest bei Professor Dan Slusanschi studiert, an der Central European University (CEU) in Budapest promoviert und Forschungsaufenthalte in Tübingen, Toronto, Freiburg (Schweiz), Oxford und Dublin absolviert. Studiert hat er zudem Philosophie, Psychologie, Archäologie, Mediävistik und griechisch-römische Geschichte.
Der Pandemie gewinnt Florin George Călian viel Gutes ab. Zwar entfalle durch das Reisen zu Konferenzen der Kultur-Tourismus, aber auf einmal entstünden Kontakte, die vorher schwer möglich gewesen wären. Auch die Vergangenheit kann so vielleicht neu sortiert werden. Soll man Maler Caravaggio, weil er ein Mörder war, in die Mülltonne der Geschichte werfen? Und Komponist Richard Wagner wegen seines Antisemitismus? Am Fallbeispiel Mircea Eliade erklärt Forscher Florin George Călian, wie solche Streitfragen moderiert werden können. Das Gespräch hat Klaus Philippi geführt.


Herr Călian, was haben Kenner von Latein und Griechisch ihren Mitmenschen voraus?

Sich in diesen zwei klassischen Sprachen zurechtzufinden, ist eine Bedingung des „sine qua non“. Zum Verstehen des Christentums reicht der semitische Raum alleine nicht aus. Sondern man muss auch die Epochen von Alexander dem Großen, des Römischen Reiches und überhaupt die griechisch-lateinische Mythologie in Betracht ziehen.

Für Kenner der zwei klassischen Sprachen liegt es auf der Hand – ohne Griechisch, Latein und das Wissen um die damit verbundene Kultur kann man nicht verstehen, weshalb Europa heute säkular, humanistisch und sehr wissenschaftlich dasteht. Wir stehen unter dem griechisch-lateinischen Schirm, ganz gleich, was wir auch täten, um ihm zu entfliehen. Leider zeichnet sich deutlich die Tendenz ab, auf das Erlernen klassischer Sprachen und das Studium der klassischen Antike zu verzichten. Weil Griechisch und Latein zu Kolonialismus, Eurozentrismus und dem Aufwind geführt haben, den aktuell die extreme Rechte für sich beansprucht. Delikat, denn so neigen Linke stärker dazu, Kenner der klassischen Sprachen als Ideologen einer „Welt der Weißen“ anzusehen, die sich nicht-westlichen Kulturen gegenüber gerne als höhergestellt dünkt.

Um in der westlichen Welt von heute eine Selbstverschiebung zu bemerken, muss man nicht erst ihre klassischen Sprachen studiert haben, klar. Wer aber tatsächlich Latein und Griechisch studiert, wird zu mehr als nur einem Philologen toter Sprachen. Einzelne lernen dabei ein Instrumentarium kennen und gebrauchen, das intellektuell sehr weit öffnet. Hat man einmal Latein gelernt, geht das Erlernen von Französisch und Italienisch viel einfacher.

Und das Beherrschen von Griechisch befähigt zum Lesen griechischer Philosophie, Mathematik, Geschichte und Literatur der Antike in der Originalsprache. Es formt dich ganzheitlich, Homer und Platon lesen und verstehen zu können. Die griechische Kultur bietet alles, was man braucht, um seine intellektuellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Ehe er als Schriftsteller bekannt wurde, hatte Oscar Wilde die klassischen Sprachen studiert. Und Friedrich Nietzsche machte Karriere als Philosoph, hatte aber auch zuerst die Klassiker studiert.

Warum wohl wurde das Neue Testament zuerst auf Griechisch und nicht auf Latein oder Hebräisch notiert?

Obwohl uns zahlreiche Indizien für die Präferenz des Griechischen vorliegen, kann man dabei doch nur im Trüben fischen. Eigentlich wäre es damals normal gewesen, das Neue Testament auf Latein zu schreiben, wo es doch im Römischen Reich verbreitet werden sollte.

Davor aber war das Imperium von Alexander dem Großen mächtig gewesen – von Alexandrien über Jerusalem und Kappadokien bis nach Athen war der Großraum, wo das Neue Testament erstmals niedergeschrieben wurde, griechisch vorgeprägt. Die Revolution, Eroberung und Kolonialisierung durch den Geist der griechischen Sprache hatte Alexander der Große geleistet. Griechisch war etwa das, was heute weltweit die englische Sprache ist. Als Sprache war Latein noch nicht sehr weit entwickelt. Vergil und Cicero fingen zu der Zeit gerade mit Schreiben an. Während das Lateinische sich erst formieren musste, war Griechisch schon zu der Quelle einer Kultur geworden.

Es gibt eine These, derzufolge einige Evangelisten ihre Texte zuerst auf Aramäisch oder Hebräisch vorgefasst, dann aber auf Griechisch übersetzt haben. Vielleicht steckte auch eine abwehrende Haltung gegenüber der alttestamentarischen Tradition dahinter. Zum Bruch mit Tradition gehört auch das Austauschen von Sprache. Zu sagen wäre auch, dass das vorchristliche Altgriechisch von Platon und Aristoteles eine raffiniertere Sprache als das Griechisch des Neuen Testaments war.

Wie können Laien sich Dan Slusanschi (1943-2008) vorstellen, nach dem die 2019 von Ihnen und Ihrer Frau Antoaneta Sab²u gegründete Schule für Klassische und Orientalische Sprachen benannt ist? Und wer war eigentlich Andrei Scrima (1925-2000), Namensgeber eines Stipendienprogramms an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu?

Professor Dan Slusanschi war ein sehr belesener Humanist, der viele tote Sprachen und folglich eine Menge moderner Sprachen beherrschte. Er hatte echte Berufung zum akademischen Lehramt und den Ehrgeiz, Dritte für das Studium der klassischen Sprachen zu begeistern. Ich zähle mich zu jenen, bei denen er damit auf der Stelle Erfolg hatte. Professor Slusanschi kann als Überbringer der Tradition von Bogdan Petriceicu Ha{deu (1838-1907) und Nicolae Iorga (1871-1940) gesehen werden, auch wenn etliche Leser mir die Einordnung vielleicht übelnehmen. In fünfzig, spätestens hundert Jahren jedoch wird ihm sein Platz in dieser Reihe sicher eingeräumt werden.

Dan Slusanschi war ein lebendes Nachschlagewerk für klassische und vorklassische, also vorgriechische Kulturen. Es genügte ihm nicht, sich nur mit der griechischen und lateinischen Sprache zu beschäftigen, nein. Er wollte tiefer graben, vor allem in der indo-europäischen Kultur, und deutete Parallelen mit Sanskrit und der iranischen Kultur.

Dan Slusanschi war ein Universalgelehrter und der Nicolae Iorga des 21. Jahrhunderts. Für das Verständnis seines allgemeinen Weltbildes empfehle ich das auf Youtube verfügbare Fernsehgespräch mit ihm in der Reihe „Înapoi la Argument“ von Horia-Roman Patapievici, gefolgt vielleicht von dem Sammelband „Dan Slusanschi. Portret de clasicist“, den Ana-Maria Răducan und ich im Dezember 2019 im Verlag Ratio et Revelatio herausgegeben haben.

In unserer Kultur heute, wo alle Welt einer Spezialisierung nacheilt, würde Dan Slusanschi mit ein und demselben Denken beides, also ein spezielles und das Allgemeinwissen, bedient haben können.

Ich weiß nicht, ob Rumänien jemals noch so einen vielseitigen Kopf hervorbringen wird, der alles unter einen Hut bekommt: historische Philologie, Archäologie und breites Wissen über den Zeitraum von Homer bis hin zu Dimitrie Cantemir. Der Drang, Spezialisierungen immer noch mehr auszudifferenzieren und all das Nicht-Spezielle auszublenden, birgt die Falle, den Blick für das Ganze zu verlieren. „Spezialisierung ist für Ameisen“, habe ich mal gehört. Slusanschi war eben nicht nur ein Spezialist, sondern auch ein Intellektueller. Intellektuelle zeichnet die Fähigkeit aus, Wissen mit Leichtigkeit von einem Fach in ein anderes zu transferieren. Ein Spezialist tut sich damit schwer.

Andrei Scrima ist ähnlich wie Dan Slusanschi zu betrachten. Nicht von ungefähr sind die Archive beider Kapazitäten im New Europe College Bukarest untergebracht. Andrei Scrima ging das Mönchs-Gelübde als bereits sehr belesener Denker ein. Zeitlebens fiel ihm das Vermitteln zwischen katholischem und orthodoxem Glauben einerseits und zwischen Islam und Christentum an-dererseits leicht. In Rumänien haben wir kaum intellektuell gebildete Mönche, aber Andrei Scrima war genau so jemand.

Wie geht die Rehabilitation Ihrer Frau Antoaneta Sab²u voran, und was für ein reales Bild vom Gesundheitssystem Rumäniens haben Sie sich seit ihrem Unfall im Sommer vergangenen Jahres machen können?

Das System ist einfach nur desaströs, das Personal dagegen bunt besetzt, würde ich sagen. Es gibt zynische Ärzte, Assistenten und Hilfsangestellte, überall aber auch ausgesprochen leistungsbereite Leute. Mit Antoaneta habe ich drei staatliche und zwei private Krankenhäuser erlebt – der Unterschied ist wie zwischen Himmel und Erde.

Rumänien bietet Möglichkeiten für eine motorische, nicht aber auch neurologische Rehabilitation. Mein Glück ist, dass ich auch Psychologie studiert habe und meiner Frau dadurch gezielt auch ohne Reha-Klinik helfen kann. Die Mängel im rumänischen Gesundheitssystem sind heftig und viele Angestellte wickeln ihre Arbeit wie eine materielle Dienstleistung ab. Umso mehr schätze ich jeden Einzelnen, der in seinem Dienst an mehr als nur das Pekuniäre denkt. Solche Leute braucht Rumänien nicht nur in der Medizin.

Weil ihr Herz nur zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent Leistung erbringt, kommt Antoaneta auf die Warteliste für Transplantation in Neumarkt/Târgu Mure{. Noch ist unklar, ob sie die Transplantation dort bekommen wird, oder ob wir nach einer anderen Option in Europa suchen sollen. Dafür hat sie sich neurologisch schon sehr gut erholt. Sie spricht wieder fließend, die klassischen Sprachen eingeschlossen. Aber ich bin nicht sicher, ob ihr aktuell die bereits besten Medikamente für ihre kognitive Rehabilitation verschrieben wurden.

Noch eine persönliche Frage: Beim Googeln nach Ihrem Namen findet man einen auf Rumänisch verfassten Wikipedia-Eintrag und dazu ein Foto, das Sie 2014 in Lissabon vor einer Gedenktafel zeigt, die an Mircea Eliade erinnert – in den Jahren von 1941 bis 1944 war er Kultur-Attaché der Rumänischen Botschaft in Portugal. Nun ist bekannt, dass Schriftsteller Eliade seine Nachwelt polarisiert. Es gibt ein Publikum, das von ihm nichts wissen möchte, aber auch Leser, die seine Werke verehren. Wie kann man sich lesend von ihm faszinieren lassen, ohne ideologisch vereinnahmt zu werden?

Mit dem Faschismus hat Mircea Eliade auf eine Art und Weise liebäugelt, die ihm nicht zur Ehre gereicht. Er hat sich weder von der Legionärs-Bewegung noch von Mentor Nae Ionescu losgesagt. Bis zu seinem Lebensende stand für ihn fest, dass er dessen Grab in Bukarest aufsuchen würde, sollte er noch einmal nach Rumänien reisen. Aber das sind Rahmendetails, die mich nicht an erster Stelle interessieren.

Mich interessiert das Denken von Eliade. Wofür ich plädiere, ist die Trennung des Denkens eines Menschen von seiner Ethik. Als rechts gesinnter Intellektueller war Mircea Eliade ein Sonderfall – politisch rechts orientierte Leser merken bei ihm, dass etwas nicht so richtig stimmt, dass sie nämlich nicht finden, was sie erwarten. Stattdessen finden sie bei ihm eine große Öffnung gegenüber anderen Kulturen. Also genau das, was die exklusive Rechte nicht kennzeichnet. Wenn es etwas gibt, was wir Mircea Eliade verdanken, dann die Befreiung vom Eurozentrismus und die Bewusstmachung von Diversität in der Welt. Was doch auf Demokratie und nicht auf Abriegelung und Faschismus hinweist. Ja, ich weiß auch aus eigener Erfahrung, dass es aktuell nicht angesagt ist, Eliade zu zitieren. Aber ich bin dafür, die Dinge auseinanderzuhalten. Politisch hat er ganz klare Fehler begangen, akademisch jedoch war er stets verlässlich neutral. Ich vermute, dass Mircea Eliade früher oder später wiederentdeckt werden wird.