Ökonomischer Stillstand, gesellschaftlicher Kollaps

Die Coronavirus-Epidemie offenbart die Krisen in der Krise

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Seit mehr als vier Wochen befindet sich Rumänien nun im Ausnahmezustand und die Zwischenbilanz schmeckt bitter: Mittwoch Mittag zählte das Land 7216 Infizierte und 362 Tote. Deutlich weniger also als in anderen EU-Staaten, aber inzwischen dürfte jeder wissen, dass bei 74.827 Tests (die bis Mittwoch Mittag bearbeitet wurden) die Dunkelziffern viel höher liegen müssten.

Während die Bürger, in Angst und Schrecken versetzt und in ihren Wohnungen eingesperrt, vor allem auf die Krankenstatistik sowie bei jedem neu bekannt gegebenen Covid-19-Toten auf die sogenannte Komorbidität schauen und den vielen Konspirationstheorien verfallen, baut sich eine Statistik auf, die einem einen kalten Schauer über den Rücken treibt. Seit Staatspräsident Klaus Johannis den Ausnahmezustand verhängt hat und der Innenminister seine Militärverordnungen vom Blatt abliest, verlieren Rumäniens Unternehmen laut einer Schätzung der Wirtschaftspresse etwa eine Milliarde Euro Umsatz pro Tag, eine Million Arbeiter sind in Kurzarbeit gegangen, 209.000 Arbeitsstellen wurden gänzlich gestrichen. Jede Stunde sollen 80 bis 90 Firmen im Land dichtmachen und 150.000 Kreditnehmer haben bei ihren Banken die Aussetzung ihrer Monatsschuld bis Jahresende beantragt. Ende April soll das Defizit des Staatshaushaltes bei vier bis fünf Milliarden Euro liegen, laut dem Jahreshaushaltsgesetz sollte es für die ersten vier Monate des Jahres 900 Millionen Euro nicht überschreiten.

Knapp und deutlich: Rumänien droht der Wirtschaftskollaps und die Regierung verfügt keinesfalls über die Mittel, die den ökonomischen Niedergang dämpfen, bzw. den Aufstieg leichter und schneller machen könnten. Sie kann zwar die Teilarbeitslosigkeit einige wenige Monate finanzieren, sie kann einige Hilfspakete schnüren, aber der Spielraum ist sehr begrenzt. Und keinesfalls mit jenem zu vergleichen, den wohlhabende EU-Länder haben und – das ist das wahrhaft Traurige – nicht mal mit jenem, den die Regierung Bulgariens hat, weil die dortigen Machthaber in den vergangenen Jahren nicht derart verantwortungslos wie ihre Bukarester Kollegen regiert haben und das bulgarische Staatshaushaltsdefizit gering ist. Das bedeutet, dass Rumänien die vielen Milliarden, die es benötigt, um den wirtschaftlichen Kreislauf in gelenkte Bahnen zu bringen und gleichzeitig Gesamtnachfrage und Gesamtangebot zu stützen, kaum oder nur mit sehr hohen Kosten bekommen kann. Die Glaubwürdigkeit Rumäniens auf den internationalen Finanzmärkten war nie besonders hoch, an der Fähigkeit rumänischer Regierungen, eine strikte Wirtschaftspolitik zu verfolgen, glaubte kaum jemand bisher und in der gegenwärtigen Lage sind die Aussichten ebenfalls nicht rosig. Dass das so ist, dürften einige in der jetzigen Regierung wissen, genauso wie es auch BNR-Gouverneur Mugur Isărescu weiß.

Weil die Zahl der Arbeitslosen dramatisch ansteigen wird und mittelfristig die Löhne kaum noch steigen können, dürften letztendlich auch jene Unternehmen leiden, die noch gute Geschäfte machen: Supermarktketten, Apotheken und sonstige Einrichtungen des täglichen Bedarfs. In Kürze wird sie die Krise aber auch treffen, und zwar dann, wenn den Verbrauchern das Geld ausgeht, wenn der noch ausgezahlte März-Lohn weg ist und das Arbeitslosengeld verspätet oder gar nicht mehr kommt. Oder wenn auch noch die bisweilen im westeuropäischen Ausland arbeitenden Verwandten auf einmal vor der Tür stehen und mitversorgt werden müssen. Rumänien hat etwa 5 Millionen Rentner, die im Durchschnitt kaum über die Runden kommen können, und 1,2 Millionen Staatsangestellte, deren Einkommen – Renten und Gehälter – von all jenen getragen werden müssen, die ihre Jobs in der Privatwirtschaft behalten haben und weiterhin arbeiten.

Es wird hart. Sehr hart. Viel härter jedenfalls als 2009 und 2010, als zwar die Wirtschaftsleistung in Rumänien stark zurückgegangen ist und zahlreiche Unternehmen von der Bildfläche verschwunden sind, einige Branchen jedoch ziemlich schnell wieder auf die Beine kamen und bis 2011-2012 den gesamten Karren aus dem Dreck ziehen konnten. Doch die damalige Stabilisierung hatte auch Kosten: das IWF- und Weltbank-Darlehen von 20 Milliarden Dollar und die Austeritätspolitik der Băsescu-Boc-Regierung, deren negative Folgen auch heute noch zu spüren sind: die Auswanderung der Ärzte nahm damals ihren Lauf, kleinere Spitäler wurden damals geschlossen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte von heute auf morgen trieb unzählige Kleinbetriebe in den Ruin.

Zu erwarten ist, dass auch heuer Ähnliches geschieht: An den Gehältern der Ärzte wird sicherlich nicht mehr gerüttelt, aber eine Erhöhung der Lohn- und Gewinnsteuer, vielleicht auch der Mehrwertsteuer sind zu erwarten. Oder auch eine Besteuerung der Sonderrenten, die zwar dem Staatshaushalt nicht viel Geld einbringt, aber einen hohen symbolischen Wert haben könnte. Seit Keynes, der britische Ökonom der Weltwirtschaftskrise von 1929-1933, erklärt hat, was zu tun ist, und seit US-Präsident F. D. Roosevelt 1933 gesagt hat, dass sein Land sich vor nichts außer der Furcht selbst fürchten müsse, wissen wir, dass Krisen nur dann überwunden werden, wenn auch die richtigen Symbole vermittelt werden. Wenn man sich das Trio im Innenministerium anschaut, vor allem den stotternden Innenminister Marcel Vela mit seinen Lederjacken, die auf einem Flohmarkt der 1990er Jahre gekauft zu sein scheinen, versteht man, dass wir an der Symbolik noch zu arbeiten haben.

Zurück also zu den „harten Fakten“: Eine Politik des „whatever it takes“, des „es koste, was es wolle “, kann sich Rumänien nur schwer erlauben. Sie wird nur dann klappen, wenn es der Europäischen Union gelingt, sich nicht selbst zu demontieren und vor allem die wirtschaftsstärkeren Staaten in wenigen Tagen zu einer Politik der Normalisierung zurückkehren. Sodass bei strenger Einhaltung aller Vorbeugemaßnahmen die Produktion wieder hochgefahren werden kann. Dass sich die unzähligen Räder der kapitalistischen Wirtschaft langsam wieder zu drehen beginnen, auch wenn diesmal Schmieröl in ungeahnten Mengen aus öffentlichen Kassen fließen muss. Auch in einem Land wie Rumänien, das zum Großteil von Produktionsabläufen abhängig ist, die anderswo geplant und kontrolliert werden. Letztendlich aber bietet diese Coronavirus-Krise die Chance, die sich auch nach der 2009er Krise gezeigt hat: Das Land braucht dringend ein eigenes ökonomisches Rückgrat, ein Netz an kleinen und mittelständischen Unternehmen, das in der Lage ist, die Versorgung mit Lebensmitteln und jenen Dienstleistungen sicherzustellen, die in solchen Zeiten unverzichtbar sind. Es müsste der Regierung vor allem daran liegen, dass dieses Rückgrat nicht bricht, sodass Finanzspritzen des Staates, so mager sie auch sein sollten, gerade dorthin fließen müssten.

Und es müsste auch Rumäniens Regierung schnellstens einen Fahrplan für die Zeit danach entwickeln. Wenn sie schon das verflixte System der eidesstattlichen Erklärungen, die man bei sich tragen muss, wenn man sich aus dem Haus wagt, von Frankreich kopiert hat, könnte sie – zumindest was das Hochfahren der Wirtschaft und des sozialen Lebens – auch anderswo hinschauen, zum Beispiel nach Österreich, das seit Anfang dieser Woche etappenweise die Einschränkungen zu lockern beginnt, oder nach Deutschland, wo an ähnlichen Plänen gearbeitet wird. Dass zum Beispiel Stadtbewohner nicht aufs Dorf fahren können, um ihre eigenen Gärten zu pflegen und nach dem Elternhaus zu schauen, aber gleichzeitig Tausende Bürger mitten in der Nacht durch das halbe Land gekarrt und in gecharterten Maschinen eingepfercht werden, um deutschen Spargel zu stechen, ist ein Hohn sondergleichen. Aber man verstehe nicht falsch: Es geht ganz und gar nicht darum, rumänische Bürger zu verteufeln, weil sie sich in einer Stunde bitterer Not auf eine solche Reise gewagt haben, auch nicht den Staat, der dies erlaubt hat. Sondern es ist die Verhältnismäßigkeit einiger Maßnahmen zu hinterfragen, die an Absurdität kaum zu überbieten sind. Das ständige Ausfüllen von „Deklarationen“ zählt dazu.

Europa erlebt derzeit die schlimmsten Einschränkungen der Menschenrechte seit der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention vor 70 Jahren. Sie müssten ständig auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft und sofort außer Kraft gesetzt werden, wenn ihr Zweck nicht mehr gegeben ist oder sie durch leichtere Maßnahmen ersetzt werden können. Hierin besteht die dritte Krise, die Europa nach der Epidemie und der Wirtschaftskrise erlebt: die Krise des Rechtsstaates und der Demokratie. Auf nationaler Ebene entmachten sich Parlamente selbst, wie in Ungarn, wenn sie nicht schon vorher schleichend entmachtet wurden, indem sich Regierungen durch Notstandsverordnungen und Dekrete mit dem Coronavirus bekriegen und dabei Ratschläge von Experten bekommen, deren Probität im Angesicht überfüllter Spitäler niemand mehr überprüft. Darauf wird in den nächsten Wochen noch zurückzukommen sein.

Die Coronavirus-Krise ist nicht die erste Krise, die die Menschheit erlebt, aber sie ist sicherlich die schlimmste seit 1989. Für viele dürfte sie durch ihre ökonomischen und sozialen Folgen zur schlimmsten Herausforderung für Jahrzehnte werden. Genauso wie sie auch ziemlich schnell wieder vergessen werden könnte, vor allem wenn sich die Räder der Ökonomie wieder drehen und der Kapitalismus wieder Abermillionen Güter durch die Welt jagt, die Regale gefüllt und die Kneipen voll sind und im Stundenrhythmus Tausende Flugzeuge wieder abheben. Die Menschheit lernt schwer, meinen einige. Oder gar nicht, sagen andere. Fakt ist aber, dass die westliche Werte-Gesellschaft und der Kapitalismus, obwohl sie sich als erstaunlich resistent erwiesen haben, den Samen der Selbstzerstörung, jenen, den Karl Marx zu erkennen geglaubt hat, in sich tragen. Wie eine Art Coronavirus eben.