Ohne „elektronische“ Märchen (I)

Wie ich die Zeit als Grundschulschüler und Gymnasiast von 1933 bis Ende 1946 in Nordsiebenbürgen erlebte

Dr. phil. Johann Böhm wurde am 25. September 1929 in der Gemeinde Botsch/Bato{ in Nordsiebenbürgen geboren. Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Schäßburg (1948 – 1952) war er bis 1960 als Lehrer in seiner Heimatgemeinde und Hermannstadt tätig. Zwischen 1960 – 1965 studierte er Geschichte in Klausenburg, zwischen 1971 – 1975 Politikwissenschaft, Geschichte und Pädagogik an den Unis in Bochum und Köln. 1984 verteidigte er seine Dissertation an der Uni Köln zum Thema „Das Nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Volksgruppe in Rumänien 1936 – 1944“. Dr. Johann Böhm ist Herausgeber der „Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik“. Mehrere Ehrungen wurden ihm erteilt. 2006 erhielt er die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Als ich geboren wurde und die Welt zum ersten Mal erblickte, konnte man im Lutzbach, in meinem Geburtsort Botsch/Nordsiebenbürgen, noch Fische fangen. Die Jahreszeiten waren altmodisch, jede ihrer Saison angepasst kühl, mild, heiß oder kalt. Wie ich mich erinnern kann - später, als ich noch Schüler war, bestanden die Sommerferien aus mehreren Wochen ohne Regen. Aus offenen Fenstern hörte man in den schwülen Nächten das Stöhnen der Schlafsuchenden. Man brauchte keine Wetterberichte, die es ohnehin kaum gab.
Wir Kinder von damals kamen ohne „elektronische“ Märchen aus. Unsere Eltern und Großeltern lasen sie uns vor, erzählten verschiedene Geschichten oder spielten mit uns. Eltern, die sich ein Grammophon oder Radio leisten konnten, mussten für den Batteriewechsel - es gab noch keinen elektrischen Strom - in die 14km entfernte Stadt Sächsisch Reen fahren. Wir musizierten selbst oder sangen schöne deutsche Volkslieder wie „Brünnlein am grünen Rain“. Alles war anders als heute, gemütlicher, gelassener, auch gemütsvoller. Es gab noch Kachelöfen mit einer Sitzbank davor, Küchenöfen mit einer Gusseisenplatte und Feuerringen, über dem Esstisch eine tiefhängende Petroleumlampe. In allen Küchen wurde das Essen auf dem Küchenofen zubereitet, der mit Holz geheizt wurde. Das Holz besorgte man sich aus dem Gemeindewald, von wo man es vom Gemeindeamt für Geld kaufen konnte. Mit Pferde- und Ochsenwagen brachte man das zugeteilte Holz nach Hause, wo es von Männern gesägt, gespalten und gestapelt wurde.
In unserer Gemeinde hatte nur Tierarzt Fleischer ein Auto. Wenn er damit durchs Dorf fuhr, liefen wir Kinder zusammen wie bei einem Autorennen. Botsch, der Ort des Geschehens, lag damals ab 20 Uhr wie tot am Lutzbach. Doch tagsüber war Botsch eine quirlige Ortschaft mit rund 1500 Einwohnern. Die Gemeinde steckt voller Geschichte, die in früher Zeit von den Agathyrsen und dann von den Skyten überwandert, aber nicht vernichtet wurde, abgeändert, weil das von der Grundsteinlegung für den Kommunismus nach 1945 fehlte, als manches Historische zerstört wurde. Sie hatte ein Gemeindezentrum mit einer neu gebauten Schule in den Dreißi-gerjahren und ein solides Gemeindeamt mit einem Jugendheim voller Charme, das strahlenförmig auf den Gemeindeplatz mündete.
Dass ich in diese Gemeinde hineingeboren wurde (1929) und eines Tages (September 1944) sogar deren Untergang, nach dem Einmarsch der Sowjetischen Armee, erlebte, stand zu dieser Zeit noch in den Sternen.
Was mir in die Wiege gelegt wurde, habe ich erst später erfahren oder gelesen. Die Jahre um 1925 bis 1935 waren die Scheidelinien zwischen dem Ende vom Anfang und dem Anfang vom Ende. Die Hoffnungen auf einen aussichtsreichen Neubeginn nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der „Karlsburger Beschlüsse der rumänischen Nationalversammlung vom 18. Nov. 1918, des „Volksprogramms des 4. Sachsentages in Schäßburg 1919“ sowie der „Minderheitenschutzvertrag der Westmächte mit Rumänien vom 9. Dez. 1919“, waren erschöpft. Ziellos und zügellos breitete sich das Chaos aus, weil die rumänischen Regierungen die „Karlsburger Beschlüsse“ missachteten. Die Siebenbürger Sachsen wurden in ihren Fundamenten gerüttelt, auch in den Minderheitenrechten zeigten sich bald neue Risse. Not und Verzweiflung führten zu Unruhen und zu häufigen Zusammenstößen zwischen den deutschen Parlamentariern und der rumänischen Regierung. Am 18. November 1926 wurden auf der 32. Landeskirchenkonferenz die Schul- und Kirchensteuern erhöht, weil der rumänische Staat sich weigerte, seinen Pflichten gegenüber der deutschen Bevölkerung – wie bei den Blutsrumänen – nachzukommen. Die trostlose Lage verschärfte sich durch die Agrarreform von 1921 und dem Abbau der deutschen Beamten in der Verwaltung, dazu gesellten sich die volksgruppeninternen Probleme durch die Zerrissenheit der politischen Auseinandersetzung.
In den frühesten Erinnerungen, die ich im Kopf habe, war ich drei Jahre alt. Es gibt noch verblichene Fotos, auf denen ich mir zahnlos, haarlos, nackt oder als Kleiderpuppe auf vielen Schößen zulache. Es existieren Aufnahmen vom Heiligen Abend. Das gleiche Motiv aus mehreren Jahren, doch jeweils um Zentimeter gewachsener Körperlänge meinerseits: im Hintergrund der Weihnachtsbaum, alle schauten, samt Eltern, Großeltern, Onkels und Tanten auf den Fotoapparat, als würde etwas Entsetzliches passieren. Vieles blieb jahrelang so unverändert wie die früheste Erinnerung daran: das Kraushaar meiner Mutter, die silberne Uhrkette auf der Weste meines Vaters, Georg, der Dienstbote in seiner Arbeitskleidung.
Eines glaube ich schon früh verspürt zu haben zumindest intuitiv, so hilflos und willenlos ich auch war. Ich wuchs in einem guten Haushalt auf. Anders als die meisten in dieser unsicheren und bedürftigen Zeit, konnte meine Familie bis September 1944 als „gehoben“ und gut versorgt betrachtet gelten. Die Atmosphäre war gediegen-bürgerlich, gut situiert, aber nie provozierend. Ich musste nie hungern, darben oder auf etwas verzichten, aber auch nie befürchten, anderer Kinder Neid zu erwecken, weder durch das Erscheinungsbild noch durch die Kleidung.
Die Familie lebte bescheiden und unauffällig. Als ich vier Jahre alt war, wusste ich schon, dass eins und eins gleich zwei sind. Mein Bruder und ich waren zwei, Vater und Mutter waren zwei, aber die Welt draußen und drinnen: das war zweierlei, sogar dreierlei. Das spürte ich schon sehr früh. Genau wie Kinder aller Zeiten erlebte ich alles um mich herum wie gelernte Vokabeln.
Eltern, Großeltern, Verwandte, Nachbarn, das Zuhause, das Christkind. Man lernte zu lieben, was die Erwachsenen liebenswert fanden. Doch wie mit den Zuneigungen war es auch mit den Abneigungen. „Sei höflich zu Menschen“, sagte Mutter „Halte dich fern von bösen Kindern, spiel lieber mit den Nachbarskindern.“ Erst heute weiß ich, was damals anders war: wir mussten das Alphabet lernen, lesen und schreiben, wobei man bestimmte Vokabeln nicht benutzen durfte. Und das hatte ohne Zweifel etwas zu tun mit dem Stück Erde, auf dem wir wohnten.
Schon in früherer Kindheit teilte sich die Menschheit für mich durch drei: das eine Drittel, mit dem man nichts zu tun haben durfte, vom anderen Drittel sagte meine Mutter: „Die passen nicht zu uns“. Mit dem verbleibenden Drittel war es mitunter auch sehr schwierig. Zum Beispiel mit einer Familie in der Straße: „Ihre Kinder sind kein guter Umgang für mich“, befand meine Mutter. Es war schwer, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die auf merkwürdige Weise Abstand voneinander hält, sich misstraut. Ich bekam schon sehr bald ein Gefühl dafür, dass irgendeine unbestimmte Angst umging.
Ich war vier Jahre und nun bereits unterwegs, nicht nur auf den Beinen, sondern auch mit dem Kopf: zu Onkel Johann, in den Garten, auf die Straße, nur ganz selten von den elterlichen Wegweisungen angefochten. Jeder Tag war sensationsreich, pausenlos. Nie kam Langeweile auf. Unterwegs. Die Bilder, Gespräche, Geräusche und Gerüche habe ich noch im Kopf: die stille Straße mit den duftenden Maulbeer- und Lindenbäumen, unter deren Schatten wir spielten, unser Geschrei bei „Verstecken-Spiel“, die Toberei zwischen den immer gefährdeten Blumen im kleinen Garten, unser albernes „Soldatenspielen“, mit Papierhelm und Baumzweigen als Gewehre. „Du bist Hauptmann, ihr seid die Soldaten, und ich bin der General.“ Und immer allgegenwärtig, die Blicke meiner Mutter, die auf der Veranda saß und darüber wachte, dass mir nichts zustößt oder dass ich keinen „schlechten Eindruck“ mache.
Bei schlechtem Wetter spielten wir auf der Tenne oder im Heuschuppen. Die Welt in Botsch gehörte uns, uns ganz allein. Kein Erwachsener schimpfte oder beschwerte sich oder drohte mit dem Finger. Alles war in erreichbarer Nähe: Schaukel, Sandkiste, Fußballtor, Bäume zum Klettern.
Was ganz anders war als heute: Wir konnten in der warmen Jahreszeit noch ins neu errichtete „Freibad“ am Lutz, baden gehen. Anders als heute: auch der Winter. Das rede ich mir nicht ein, obwohl Kindheitserinnerungen den Speicher im Großhirn mitunter blamieren. Als ich mit 17 Jahren - nach der Flucht 1946 - mein „Reich“ wieder sah, den mir grenzenlos erschienenen Gemüse- und Obstgarten hinter und neben dem Haus im Gässchen, da war das nur eine Parzelle, dreißig Meter breit und 100 Meter lang. Aber bei den damaligen Wintern bin ich mir ganz sicher. Da schneite es lange, und der Schnee blieb liegen, und die Gemeinde war frostig und abweisend. Rutschgefahr und Ohrenschützer blieben als Merkmale in meinem Kopf. Nur die Gehwege vor den Häusern wurden von den Eigentümern geräumt. In unserem Gässchen und auf der Hauptstraße im Dorf knackten und quietschten Schneehaufen und Eisschichten wochenlang unter den Schuhen. Aus allen Häusern quoll der Qualm von Küchen-, Guss- und Kachelöfen. Die Menschen bliesen Atemhauchfahnen vor sich her, waren dick verschalt und gekleidet. Im Dutzend gruppierte man sich um die Wärme, die Männer tranken Glühwein und erzählten Kriegserlebnisse, die Frauen strickten, stopften Strümpfe oder machten Näharbeiten, die Kinder vertrieben sich die Zeit bis zum Zubettgehen, ohne Fernsehen, manch-mal las der Opa oder die Oma allen gemeinsam etwas aus einem Buch vor. Der Winter rückte die Menschen so eng aneinander wie sonst nie im Jahr.
In unserem heimischen Wohnzimmer loderte das Feuer im Gussofen. Meine Mutter, die schnell fror, liebte es, sich neben den warmen Ofen zu setzen. In der Küche war es nur zu den Kochzeiten mollig warm, der Rest der Wohnung war kühl. Der Drang zur Toilette war ein Gang zum Plumpsklo. In den kältesten Nächten musste dafür gesorgt werden, dass das Wasser im Eimer nicht einfror. Für uns Kinder hatte der Winter einen Zauber, wie man ihn heute kaum noch kennt. Alles in sauberem Weiß, die Kulisse darauf angelegt, dass man sich wie der Mitwirkende in einem Weihnachtsmärchen fühlte. Wir bauten Schneemänner, die größer waren als wir, präparierten uns Eisbahnen, auf denen wir wie die Wilden Schlittschuh liefen, oder wir spielten zu mehreren um den Ofen in der Wohnung. Nachmittags gingen wir auf den „Honderberich“ Rodeln, so hieß die Rodelbahn in Botsch.
Dann der Höhepunkt des Winters und des Jahres! Da läuten heute noch „süßer die  Glocken klingen“ in meinem Kopf: Weihnachten. Bestimmt: Es war ganz anders damals in Siebenbürgen, herzerwärmender, erwartungsfroher, geheimnisvoller. Nicht nur für uns „Evangelische“, nicht nur für die Kleinkinder, sondern für alle, jedenfalls für die meisten. Ohne Kommerz, ohne vorlaute Reklame. Etwas unaufdringlich Feierliches lag über der Gemeinde und auch in den Menschen, trotz aller unfeierlichen, täglichen Mühsal. Mir kommt es heute vor, als hätten damals die Erwachsenen alles, was durch Krieg, Niederlage und Not abhanden kam, für wenige Tage noch einmal wiedergefunden: ihre Kinderillusionen, ihre unkritische Frömmigkeit und die Stillleben von Liebe, Familie und Frieden.
„Gesegnete Weihnachten“ wünschte man sich. Ich erinnere mich nicht nur an den weihnachtlichen Zauber, sondern auch an erste Lebensweisheiten, die mir die Weihnachtszeit beisteuerte. Aber noch war ja Kindheit. Weihnachten. In der Tradition der Vorväter wurde es gefeiert, mit siebenbürgischer Glaubensinbrunst und Schweine-, Gänse- und Entenbraten, gleich zweimal „beschert“, erst bei den Eltern, dann bei den Großeltern. Immer ging es nach demselben Ritual vor sich: Absingen von Weihnachtsliedern, das Glöckchenläuten des Christkinds, ein Gebet vor dem Weihnachtsbaum, später noch ein Weihnachtsgedicht, schon mit Schielblick auf die „Gaben“, dann die Inventur der viel zu vielen Geschenke.
Irgend etwas war am 22. Mai 1932 los, anders als sonst. Etwas Feindseliges, Lautes, Unergründliches. Aber was? Immer öfter hörte man im Zusammenhang mit schlimmen Dingen, die sich außerhalb unseres Gässchens abspielten, zwei Namen, mit denen ich nichts verbinden konnte: Fritz Fabritius und Adolf Hitler. Manche sagten auch „Adolf“ und sprachen von „Nazis“ und Organisationsrichtlinien der Nationalsozialistischen Selbsthilfebewegung der Deutschen in Rumänien (NSDR). Genaues wusste man nicht. Erst viel später erfuhr ich als Gymnasiast: 1932 legte die NSDR unter ihrem Führer Fritz Fabritius in Mediasch am 6. November 1932 ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus ab. Der Volkstag sollte eine einheitliche, energische Willenskundgebung darstellen, mit dem Ziel, der alt bewährten Volksführung das Vorhaben der Nationalsozialistischen Selbsthilfebewegung der Deutschen in Rumänien klar vor Augen zu führen. Die Sprecher auf dem Volkstag setzten sich mit Themen wie „Schule und Kirche“, „Jugend und Arbeiter“, „kirchliche und völkische Körperschaften sowie mit dem Nationalsozialismus auseinander und sagten der Volksführung den Kampf an, indem sie ein neues Volksprogramm forderten.
Ich war damals drei Jahre alt. Für politischen Ernst gab es noch keinen Platz in meinem Kopf. Fröhliche Dinge füllten ihn fortan aus, kindliche Sensationen, wie zum Beispiel das Spielen mit den Nachbarskindern. Das war noch im November 1932 gewesen, vor dem Einbruch eines erneuten, fast greifbaren Schweigens in den Reihen der Konservativen, in die Fritz Fabritius eine Lücke gerissen hatte, die größer wurde, weil nun auch die Mitglieder der NSDR der gleichen Meinung waren. Die Führung der NS-Selbsthilfe befand, man müsse durch eine rücksichtslose Aufopferungsbereitschaft für das deutsche Vaterland jenes wieder gutmachen, was man am deutschen Volke verbrochen habe. Einer für alle, alle für einen! Gott sei Dank, nein, dank des Führers und der Nationalsozialistischen Partei gäbe es schließlich so etwas wie Sippenhaftung und kollektive Verantwortung!

(Fortsetzung folgt)