Onkel Aurel, Frauenheld Nichifor und Idealist Diego

Vorstellungen des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt 2019 sind ausverkauft

Mercedes Echerer (Bildmitte) stellt sich Klischee-Attacken westlicher Zuschauer auf die exotische Vielfalt Osteuropas schützend entgegen. Foto: Klaus Philippi

Kaum ein Etikett des edlen Sortiments „Măiastru“ der Kelterei Oprișor im Südwesten Rumäniens, das nicht für die aktuelle Jahresauflage des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt/Sibiu (FITS) wirbt. Künstler und Zuschauer aus allen Erdteilen üben sich seit Freitag, dem 14. Juni, genüsslich im zehntägigen Dauerrausch des FITS 2019. Dem einen Festivalgast mag glasklarer Wein des offiziellen Traubenalkohol-Lieferanten als Krone auf Gedanken und Gespräche munden, dem anderen ist eher nach ungefilterten Hausprodukten zumute. Rechtzeitig vor Abwicklung des informellen EU-Gipfeltreffens am 9. Mai und eines Abschiedsprotokolls am 2. Juni auf dem Lokalflughafen anlässlich der Staatsbesuchsreise von Papst Franziskus hat Hermannstadt sich in Eigenregie aufgemotzt. Was der Trabant auf deutschen Autobahnen, ist die Dacia 1300 auf rumänischen Asphaltstraßen – Drahtfedersystem-Passagiersitze und Zweitaktmotoren haben hier wie dort ausgedient. BMW ist die Automarke des FITS. Nur gut, dass noch braune Wassermassen des Zibins über Hermannstadts Flussbett rollen. Sonst gelangte die Kulturwelt gar in den Irrtum, Rumäniens Schlammstoffe am Boden globaler Sammelbecken hätten Geschichtswert erlangt.

Das kulturelle Sonderbiotop Osteuropa muss erhalten bleiben! Österreicherin Mercedes Echerer, Jahrgang 1963 und Schauspielerin, Medienmoderatorin, Herausgeberin und Kulturaktivistin zugleich, spricht Deutsch, Ungarisch, Englisch, mittleres Französisch und etwas Italienisch, Spanisch und Rumänisch. Sieben an der Zahl sind auch die Mitglieder des Instrumentalensembles, das der europapolitisch erfahrenen Akteurin am ersten Abend des FITS 2019 musikalischen Feuerschutz auf der Bühne des Kinder- und Jugendtheaters „Gong“ bot. Andreea Chira (Panflöte), L’ubomír Gašpar (Hackbrett), Branko Jovanovic (Gitarre), Vuk Vsilic (Kontrabass), Alexander Wladigeroff (Trompete, Flügelhorn), Konstantin Wladigeroff (Klarinette) und Adrian Gaspar (Klavier) entstaubten angegilbte Notenblätter jüdischer, ungarischer und zigeunerischer Folklore seitlich der 684 Kilometer von Wien nach Klausenburg/Cluj-Napoca/Kolozsvár.

Mercedes Echerer ist Tochter eines Österreichers und einer siebenbürgischen Ungarin. Straßen- und Personennamen ihrer 2017 als Hörbuch veröffentlichten Vorstellung „Rumänisches Roulette“ sind Pseudonym. Und doch müssen Singsang und Wortwahl im Klausenburg der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wie in der Bühnenerzählung Echerers geklungen haben. 1999-2004 hat sich die Theaterdame als Mitglied des Europaparlaments versucht. Heute lässt sie ihre Sommerferienaufenthalte im Land von Krautwickeln und Korruption Revue passieren. Als Mercedes Echerer das Tagebuch von Arika Lacrima Moraru auspackt, der Brüsseler EU-Kommissionsdirektorin für Regionalpolitik und Stadtentwicklung ihre Stimme leiht und kurz vor Heiligabend auf einsamer Straße Rumäniens ausgeraubt wird, sucht sie Hilfe in der Polizeistation Feleacu/Erdöfelek. Geld, Mobiltelefon und Ausweispapiere sind futsch. Auf der Dienststelle im Örtchen Fleck ist sie dem Beamten Iacob Brăteanu ausgeliefert. Ein Schock für die Europäerin Moraru, an diesem „Fleck im Nirgendwo“ gestrandet zu sein.

Klausenburg und der alte Wartburg von Onkel Aurel Hoffmann auf der Libertății-Straße 12 im Viertel Gheorgheni stehen um die Ecke zum Greifen nahe. Trotzdem muss Arika Lacrima Moraru die Nacht in der klinisch sauberen Gefangenenzelle verbringen. Was anderes erwarte sie denn zu vorgerückter Stunde und bei streikender Internet-Flatrate? Polizist Brăteanu rät Madame Ungeduld freundlich zu entspannter Bettruhe. Wachhund Radu bezieht unbestechliche Position an der Türe und gibt bis zur morgendlichen Happy-End-Stunde keinen Laut von sich.

„Meine Ohren hören mehr als nur die Sprache!“, pflegt Onkel Aurel in der Erinnerung Arikas zu sagen. „Aus der Wojwodina, aus Novi Sad, Budapest, dem Banat, Wien und Moskau stammen meine Vorfahren. Fünf Sprachen sind bei mir zuhause üblich! Wen soll ich denn da verdammen?“, so die entnervte Reaktion des bildungsbürgerlichen Freigeistes auf die Stichkontrolle eines knorrigen Beamten der Miliz, der sich allein durch zwei Gratis-Tickets für das Fußballstadion gütlich stimmen lässt. „Geschenk“ für die miteinander feilschenden Männer vor kommunistischer Kulisse Rumäniens, „Bestechung“ für die Nichte aus Wien und „westliche Unsitte“ in Mercedes Echerers Erzählton. „Ich war 15 damals und wollte die Welt verändern. Vorsicht und Rücksicht zählten nicht als Kriterien. ,Wichtig ist, Gleichgesinnte erkennen zu können´, hat Onkel Aurel immer gesagt. Doch wie konnte man sichergehen, dass Gleichgesinnte von gegenüber nicht etwa doch Spitzel der Securitate sind?“Stilecht lamentierend, schüttelt Mercedes Echerer das „Lume, lume“ in rumänischer Sprache aus Hals und Ärmel. Aaron Lebedeffs Klezmerhit „Romania, Romania“ macht das Rennen, den Platz des Non-Plus-Ultra in Arikas pubertierender Gerechtigkeitswahrnehmung jedoch nimmt die ernste Parodie des Partisanenlieds „Bella Ciao“ ein: „Se-cu-ri-ta-te...heißt deine Waffe... Du schickst Soldaten in unsere Köpfe...Du schickst Soldaten uns zu ersticken, doch meinen Schrei erstickst Du nicht!“ Onkel Aurel weiß es besser. „Denken ja, aber nicht hinausschreien. Mit vollen Hosen ist leicht stinken. Sei achtsam, aber nicht furchtsam!“, rät er seinem „Augenstern“. Für Mercedes Echerer konnte niemand in Ceau{escus Rumänien subversive Zivilhaltung so gut wie Onkel Aurel. Der nicht gerne mit dem Feuer spielte und sich dennoch keinem Konflikt entzog, wenn Widerstand gefragt war. Kurz vor den blutigen Weihnachten 1989 grölt er die „Bella Ciao“-Parodie mit und handelt sich Gefängnishaft ein. „Bleib an der Grenze, fahre nicht ins Land hi-nein! Man weiß nicht, was als nächstes geschieht!“, ordnet er Nichte Arika an, die ihn aus dem Schlamassel herausholen will. So und nicht anders geht „Rumänisches Roulette“.

Pfeffrige Possen sind auch bei Kultautor Ion Creangă in der Moldau üblich. Allseitiger Lachhunger war am Montagabend, dem 17. Juni, im vollbesetzten Zuschauerraum der Sporthalle des Octavian-Goga-Gymnasiums Hermannstadt zu spüren. Leider ging die Hälfte von mehr als 300 Personen, die sich an dem Bühnenrollenspiel der Erzählung vom voyeuristisch aufgelegten Haudegen „Moș Nichifor Coțcariul“ ergötzen wollten, leer aus. Wer einen Sitzplatz in den hinteren Reihen ergattert hatte, konnte Ruxandra Maniu als Interpretin einer ängstlichen Verlobten auf Pferdewagenreise gut verstehen, wohingegen Marcel Iureș ganz und gar nicht bemüht war, sich gegen die trockene Akustik des zur Theaterhalle umfunktionierten Sportsaales durchzusetzen. Regisseur Alexandru Dabija ist nichts vorzuwerfen, da im Zweifelsfall alles mangelhafte Sprachverstehen am Interpreten selbst hängen bleibt. Der große Marcel Iureș hat enttäuscht.

Von tiefernsten Szenarien wie Pest und Diktatur spricht der 1948 von Albert Camus verfasste „Belagerungszustand“ (L’État de siège) der spanischen Provinzhauptstadt Cádiz. Star-Regisseur Emmanuel Demarcy-Mota und das Théâtre de la Ville Paris haben ihn Dienstag, am 18. Juni, sowie am darauffolgenden Mittwoch in der Faust-Halle der Kulturfabrik nachgestellt. In Originalsprache und ohne jede exzentrisch aufgesetzte Bühnengewalt, bringt doch das Libretto alles nötige mit: Angst, Schockstarre, Gleichgültigkeit, Weinen, Bestechlichkeit, Tyrannei. Und die Opferbereitschaft des Einzelhelden zugunsten der siegreichen Gesellschaft. Hermannstadts Stehapplaus für selbstlose Gäste aus Frankreich schreit es frei heraus: Wir und unser FITS kämpfen hier in Rumänien für Europa!