Quo vadis, deutsche Minderheit?

Der seltsame Schwund und das unsichtbare Plus: Eine etwas andere Betrachtung der ersten Ergebnisse der Volkszählung (Teil 1)

Minderheiten erleiden einen natürlichen Schwund in einer zunehmend globalisierten Welt und einer Zeit nach außen gerichteter Offenheit. Abschottung zum Schutz der eigenen ethnischen Gruppen und Sesshaftigkeit am Ort der Kindheit sollten selbst für die Mitglieder von Minderheiten längst keine erstrebenswerten Ziele mehr darstellen. Die moderne Gesellschaft verlangt Flexibilität und Integration, die Jugend lässt sich ohnehin nicht einschränken. Im Vordergrund steht heute Individualität mehr als Gemeinschaft. Gemischte Familien werden nicht nur toleriert, sondern sind längst Normalität. Ist das gut? Ist es schlecht? Oder ganz normal? Und warum soll es sich lohnen, Minderheiten trotzdem zu schützen und eine Minderheiten-Identität zu bewahren?

Die vorläufigen Ergebnisse der im letzten Jahr durchgeführten Volkszählung haben ergeben, dass es nur noch knapp über 22.000 ethnisch Deutsche gibt - im Vergleich zu 36.000 vor zehn Jahren und fast 60.000 vor 20 Jahren dennoch ein  seltsamer Schwund von über 36 Prozent zwischen 2011 und 2022 (bzw. Stichtag 1. Dezember 2021). Dabei wurde seitens des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) kein Aufwand und keine Mühe gescheut, bei der Selbstzählung möglichst alle zu erfassen.  Allerdings haben laut INS nur 16,5 Millionen Menschen von insgesamt 19 Millionen Einwohnern überhaupt Angaben zu ihrer Ethnie oder Muttersprache gemacht. Über jene, die es nicht taten, kann man nur spekulieren: War der Fragebogen zu kompliziert? Haben sie nicht an die Anonymisierung der Daten geglaubt und befürchteten Missbrauch? Ist die Zahl also ein Maß für das Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat? Oder war die Methodik der Erhebung fehlerhaft, wie seitens des DFDR vermutet wird, das die vorläufigen Zahlen zu den Deutschen  anzweifelt (siehe Lokalteil)?  Die folgende Betrachtung gilt demnach nur für diese 16,5 Millionen Bürger. 2,5 Millionen bleiben ethnisch „unsichtbar”.

Nach den vom Nationalen Statistikinstitut veröffentlichten vorläufigen Ergebnissen gehört die deutsche Volksgruppe mit Platz 5 - nach den Rumänen, Ungarn, Roma und Ukrainern – immerhin noch zu den größten ethnischen Gruppen in Rumänien. Die deutsche ist die viertgrößte nationale Minderheit. Allerdings hatte sie, wenn die Zahlen stimmen,  in den letzten zehn Jahren auch den zweitgrößten Schwund zu verkraften.

Schwund der Minderheiten im demografischen Kontext

Den größten Schwund verzeichnet mit 43,1 Prozent die relativ kleine griechische Minderheit: 2011 waren es noch 3668 Griechen, 2022 nur noch 2086. Platz 2 belegt die vergleichsweise große deutsche Minderheit mit 36,4 Prozent (2011: 36.042 Deutsche/ 2022: 22.907 Deutsche), gefolgt von den Tschechen mit Platz 3 und 36,4 Prozent Schwund (2011: 2477 /2022: 1576), den Serben mit Platz 4 und 33,5 Prozent (18.076/12.026), den Juden mit Platz 5 und 27,3 Prozent (3271/2378), den Slowaken auf Platz 6 und 25 Prozent (13.654/10.232), den Türken auf Platz 7 mit 24,4 Prozent (27.698/20.945), den Bulgaren auf Platz 8 mit 18,5 Prozent (7336/5972), den Ungarn auf Platz 9 mit 18,4 Prozent (1.227.623/1.002.252), den Lipowanern auf Platz 10 mit 17,4 Prozent (23.487/19.394), den Polen auf Platz 11 mit 16 Prozent (2543/2137), den Makedoniern auf Platz 12 mit 13,8 Prozent (1264/1089).

Einen Schwund von 11,9 Prozent (16.792.868/14.801.442) verzeichnet die Ethnie der Rumänen, korrekterweise werden ja Ethnien und nicht Minderheiten gezählt, damit liegt sie auf Platz 13, gefolgt von den Armeniern mit 10,9 Prozent und Platz 14 (1361/1213), den Tataren mit 10,48 Prozent und Platz 15 (20.282/18.156), den Kroaten mit 10,46 Prozent und Platz 16 (5408/4842), den Ukrainern mit 10 Prozent und Platz 17 (50.920/45.835), gezählt wurde noch vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine und den Flüchtlingsströmen nach Rumänien. Den geringsten Schwund verzeichnen die Roma mit 8,4 Prozent und Platz 18 (621.573/569.477).

Doch tatsächlich schrumpfen im Vergleich zum demografischen Schwund der Mehrheitsbevölkerung nur die Ethnien  auf Platz 1 bis 12, während jene auf Platz 14 bis 18 relativ betrachtet einen Zuwachs verzeichnen.

Es gibt aber auch Ethnien, die absolut betrachtet wachsen: die Ruthenen vermehrten sich von 2011 auf 2022 um 67 Prozent, mit allerdings nur 497 auf 834 Personen, die Albaner um 58,5  Prozent von 407 auf 645 Personen, die Italiener um 26,1 Prozent von 3203 auf 4039 Personen. Für so kleine Minderheiten sind die Prozentangaben in Bezug auf die demografische Entwicklung wenig aussagefähig.

Nach Größe belegen die Ethnien folgende Positionen: 1. Rumänen, 2. Ungarn, 3. Roma, 4. Ukrainer, 5. Deutsche, 6. Türken, 7. Lipowaner, 8. Tataren, 9. Serben, 10. Slowaken, 11. Bulgaren, 12. Kroaten, 13. Italiener, 14. Juden,  15. Polen, 16. Griechen, 17. Tschechen, 18. Armenier, 19. Makedonier, 20. Ruthenen, 21. Albaner.

Gründe für das stärkere Schrumpfen einer Minderheit als die Mehrheitsbevölkerung mag es viele geben: Abwanderung, Einheirat in andere Ethnien, abnehmende Identifikation. Je kleiner die Minderheit, desto wahrscheinlicher auch ihr Schwund, schon deshalb, weil es in den eigenen Reihen nicht genug Ehepartner gibt, oder in ihren Regionen nicht genug Arbeitsplätze. Zuwachs zu einer Ethnie erklärt sich vermutlich hauptsächlich mit Einwanderung aus den Mutterländern. Gefragt wurde bei der Volkszählung ja nicht nach der Minderheitenzugehörigkeit, sondern nach der Ethnie. Die Zahlen geben daher nur bedingt Auskunft über die Entwicklung der Minderheiten oder die gemeinschaftliche Verbundenheit innerhalb der einzelnen Ethnien. Interessant wäre eine Betrachtung der typischen Minderheitengebiete. Etwa: Nimmt die Anzahl der ethnisch Deutschen in den traditionellen Hochburgen der deutschen Minderheit ebenso stark ab wie in anderen Gebieten? Oder zieht die Minderheit in ihren Ballungszentren sogar Einwanderer (deutsche Unternehmen) an?

Das unsichtbare Plus

Was ist wichtig für uns als deutsche Minderheit? Dass wir zahlenmäßig möglichst viele bleiben? Oder dass wir in dem nicht aufzuhaltenden Prozess, Europäer und Weltbürger zu werden, gleichzeitig auch noch bewusst deutsch bleiben? Oder auch deutsch-rumänisch, deutsch-ungarisch, deutsch-rumänisch-nochirgendwas - also „deutsch-plus”, je nach Vater, Mutter, vielleicht auch Oma und Opa, Ehepartner undsoweiter. Das ist es, das unsichtbare Plus! Die Volkszählung hat es leider ausgeschlossen, weil jeder Teilnehmer nur eine Ethnie und eine Muttersprache angeben konnte. Dieses Plus aber scheint mir gerade wichtig zu sein, wenn es um Minderheiten und Mehrheiten in einem pluri- oder multikulturellen Europa und ein friedliches Zusammenleben geht.

Sind die abnehmenden Zahlen einer Minderheit nicht auch ein Hinweis auf zunehmend gemischte Familien? Was aber sprechen die Kinder gemischter Eltern? Eine Mutter- und vielleicht eine Vatersprache, beides vielleicht auf Muttersprachniveau; hinzu kommt eine dritte, die Landessprache, sofern nicht ein Elternteil Rumäne ist. Manche Menschen haben noch eine Ehesprache, eine Familiensprache, eine Schul- oder Arbeitsplatzsprache. Und Vielsprachigkeit ist ein Vorteil in einer immer globaler ausgerichteten Gesellschaft - ein deutliches Plus!

Ein weiteres Plus ergibt sich, wenn sich gemischte Familien ihrer Vielfältigkeit bewusst sind: Wer eine ungarische Oma hat, wird sich davor hüten, grundlos auf „die Ungarn” zu schimpfen. Wer gleichermaßen gut Deutsch, Ungarisch und Rumänisch spricht, wird sich vielleicht bei Jobsuche, Studium, Praktika, geschäftlichen und privaten Kontakten in allen Ländern dieser Sprachen orientieren - und damit automatisch eine offenere Haltung entwickeln. Das Wichtigste aber: Wer auf mehreren Sätteln sitzt, wird die Pferde nicht gegen-einander aufhetzen...

Was von außen betrachtet für den Erhalt von Minderheiten spricht

Das unsichtbare Plus macht uns als Deutsche also wettbewerbsfähiger, offener, friedlicher, europäischer - ohne dass man ein Quäntchen an Deutschtum und Gemeinschaftssinn einbüßen müsste, das Maß entscheidet jeder selbst. Dasselbe gilt für jede andere Ethnie, die ihre Sprache und Identität weiterpflegt, ohne auf Exklusivität zu pochen.

Oder, die ihre Geschichte lebendig erhält: Wer von historischen Ungerechtigkeiten aus lebhaften Erzählungen der eigenen Vorfahren weiß, wird auch sensibel gegenüber Unrecht an anderen - ein weiteres unsichtbares Plus. Unrecht erzeugt nicht immer Unrecht, vor allem, wenn kein Hass mehr im Spiel ist. Was vor drei, vier Generationen passiert ist, ist für die Nachkommen spürbar, doch mit Abstand.

Die Aufgabe einer ethnischen Identität wäre in jeder Hinsicht ein Verlust: Denn die Nachkommen verlieren dieses unsichtbare Plus ein für alle Male. Der Prozess ist schon nach einer Generation nicht mehr umkehrbar. Dies ist es, was für den Erhalt von Minderheiten spricht - und eigentlich auch den Staat und Europa interessieren sollte. Interessanter als nur die ethnische Zugehörigkeit wären die Fragen: Welche Ethnien vereinen Sie in Ihrer Identität? In welchen Sprachen fühlen Sie sich zuhause?  In welche Länder pflegen Sie kulturelle Verbindungen? Und wie sich die Antworten im Laufe der Zeit verändern...

Fortsetzung morgen: Quo vadis, deutsche Minderheit? Volkszählung und Minderheiten: Ein Blick auf Sprache und Bildung