Religion instrumentalisiert

Es muss ein Hochfest der Irrationalität gewesen sein, wenn ein sibirischer Schamane in einem der schönsten Parlamentsgebäude der Welt mit seinem Hokuspokus die Macht, die Kraft und den Schutz einer „heiligen Krone“ „stärkte“, die vorher vom gleichermaßen antieuropäischen wie diktatorischen Staatschef mittels feierlicher Schiffsreise auf der Donau dorthin gebracht wurde. Anrufung vorchristlicher Kräfte eines Volkes – gegen die Gegenwart. Die Krone des Reichsgründers und Christianisierers, Sankt Stefan, wacht über die Legislative Ungarns, bestärkt durch einen sibirischen Schamanen (nicht Putin!). Ein Zeremoniengehabe, das (auch) an faschistoide Rituale erinnert...

Ob Orbán die Kraft zu seinen Spielchen mit der gesamten EU-Führung von dieser schamanisch bestärkten Krone nimmt, die Kossuth bei seiner Flucht in die Türkei am heute rumänischen Donauufer, am Ausgang des Donauengpasses vom Eisernen Tor, versteckt hatte? Glaubt der Manipulator an die Mystik des Fetischs?

Symptomatisch – nicht ungarnspezifisch – sind die Argumentationen, die beim Vor-den-Bug-Schießen gegen EU-Allgemeinwerte und -Wollen verwendet werden. Folgt man dem ungarischen Richtungsgeber, sind die Ungarn ein homogenes, erz- (wenn nicht fundamentalistisch) christliches Volk, das um seine Schutzpatronin, die Heilige Jungfrau, fürchtet, die allein befugt ist, die Ungarn zu beraten – und nicht die EU bzw. das Feindbild Brüssel (dessen einzig akzeptierte Rolle die der finanziellen Melkkuh ist, ohne Verpflichtungen, geschweige denn Solidaritätsgestik). Ähnlich, aber weniger mystifizierend, verhält sich Polen. Interessant, dass beide Länder auch an argen historischen Frustrationen leiden, die Ungarn wegen ihrer Gebietsverluste, die Polen wegen der Ungerechtigkeit der Geschichte und Polens Behandlung durch die näheren oder ferneren Großmächte. Beide schieben gern das Christentum vor, das zu verteidigen sei.

Zweckdienlich sind andere Religionen auch. Erdogan hat bis 2000 – so lange er hoffte, in die EU aufgenommen zu werden – alle fundamentalistisch islamistischen Vorstöße zur Rückwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee mit dem Argument abgewiesen, die vorhandenen Moscheen seien eh nie voll, um dann urplötzlich, als klar war, dass die Chancen einer EU-Aufnahme der Türkei gegen Null gesunken waren, festzustellen, dass die mohammedanische Gläubigenschar partout den von Byzanz errichteten Kultbau braucht, um Platz für ihre Andachten zu haben. Schließlich haben doch die janitscharischen Vorfahren der heutigen Türken 1453 mit Konstantinopel auch die Kultstätte für ihre Zwecke miterobert, oder?

Da tanzt auch der großrussische Schamane Putin nicht aus der Reihe und mit untertänigsten Predigtschubsern des Patriarchen Kyrill I. bringt er (ganz wie sein ungarischer Spezi Orbán) unter den immensen Hut des Christentums seine nationalistische und erzkonservative Propaganda unter. Dass die Neuchristen Putin und Kyrill die christlichen Schwestern und Brüder aus der Ukraine niedermetzeln, ist bloß ein unbedeutender Widerspruch zum Vorgegaukelten.

Die Religion wird zurechtgezupft „zum Zwecke“ von illiberalen, zunehmend faschistoid auftretenden Regimes. Davor die Augen zu verschließen und zu hoffen, dass es vorbeigeht (und ohne Folgen bleibt), ist falsch. Es sind Alarmsignale, vergleichbar dem Handstreich, mit dem Putin 2014 die Krim besetzen ließ.

Der Religionshistoriker Attila Jakab wird 2014 von „Le Monde“ zitiert: „Der Versuch, christliche Kirchen ins Zentrum einer krisengeschüttelten ungarischen Gesellschaft zu rücken, einer materialistischen und individualistischen Gesellschaft, ist ein absolut realitätsfremdes Projekt.“ Der Versuch Orbáns zielt eher auf eine totalitäre und erzkonservative Gesellschaft ab, die als „re-christianisiert“ darstellbar gemacht wird.

Was hält wohl der Reformpapst Franziskus wirklich davon?