„Rumänische Gastarbeiter und -arbeiterinnen verdienen Respekt und bessere Arbeitsbedingungen“

ADZ-Gespräch mit Szabolcs Sepsi, Leiter der Dortmunder Beratungsstelle „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)

Szabolcs Sepsi Bildquelle: Privatarchiv

Der Skandal um Deutschlands größten Fleischproduzenten Tönnies, bei dem sich in den letzten Wochen mehr als tausend rumänische Werkvertragsarbeiter mit dem neuartigen Corona-Virus infiziert haben, hat sowohl in den deutschen als auch in den rumänischen Medien für Negativ-Schlagzeilen gesorgt und eine rege Debatte über die schlechten Arbeitsbedingungen in der deutschen Fleischverarbeitungsindustrie, aber auch der osteuropäischen Gast- und Saisonarbeiter generell ausgelöst. Szabolcs Sepsi vom Projekt „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) berät seit Jahren Werkvertragsarbeiter von Großbetrieben wie Tönnies und steht zurzeit in ständigem Kontakt zu den betroffenen rumänischen Gastarbeitern. ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica sprach mit dem aus Rumänien stammenden Gewerkschafter über die derzeitige Lage der Tönnies-Werkvertragsarbeiter sowie der rumänischen Wanderarbeiter im Allgemeinen.

Herr Sepsi, rumänische Werkvertrags- und Saisonarbeiter in Deutschland haben sich in den letzten Wochen infolge prekärer Arbeits- und Unterkunftsbedingungen zu Hunderten mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Sie selbst stehen als DGB-Berater aktuell in ständigem Kontakt zu den betroffenen Arbeitern der Tönnies-Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück. Wie geht es den rumänischen Arbeitern zurzeit, wie ist die Stimmung unter ihnen?
Die Menschen fühlen sich unwohl und sind wütend über die Zustände. Viele konnten nicht nachvollziehen, warum sie vier Wochen oder länger in Quarantäne mussten, beklagten, dass sie nicht ausreichend informiert worden seien, beklagten Versorgungslücken. Viele leben in Massenunterkünften auf engstem Raum – in einer Dreizimmerwohnung wohnen oft acht bis zehn Menschen gleichzeitig. Sie teilen sich eine Küche und ein Bad. Diese Wohnungen sind eigentlich dafür gedacht, dass man sich dort nur zum Schlafen und Essen aufhält, nicht dass man dort mehrere Wochen lang den ganzen Tag verbringt. Viele sind nach Ende der Quarantäne abgereist und sagten, sie hätten kein Interesse mehr, wieder in der Fleischindustrie in Deutschland zu arbeiten.

Was passiert mit diesen Menschen im Quarantäne- oder Krankheitsfall? Wer trägt die Kosten?
Während der Quarantäne oder Krankheit muss der Arbeitgeber den Lohn weiterzahlen. Ob dies in der Praxis dann geschieht, werden wir sehr genau prüfen. Einige Subunternehmen von Tönnies haben z. B. schnell Vereinbarungen zur Kurzarbeit verfasst und ihre Mitarbeiter noch während der Quarantäne dazu gedrängt, diese zu unterzeichnen. Ob es zur Kurzarbeit kommen wird, wissen wir erst, wenn die Lohnabrechnungen da sind. Kurzarbeit würde einen erheblichen Lohnverlust für die Beschäftigten bedeuten.

Die Serie von Corona-Clustern in der deutschen Fleischverarbeitungsindustrie hat eine rege Debatte über die Arbeitsverhältnisse in der Branche entfacht; in der Kritik stehen vor allem die sogenannten Werkverträge, dank derer die Betriebe die Verantwortung für ihre Mitarbeiter an Subunternehmer abschieben können. Welche Arbeitnehmerrechte werden dabei vornehmlich verletzt?
Die Menschen, die zu uns kommen, beklagen sehr lange Arbeitszeiten, die Missachtung von Arbeitsschutzstandards, spontan angeordnete Überstunden, spontane Schichtwechsel. Die meisten von ihnen leben abgeschottet in Gemeinschaftsunterkünften und haben kaum Kontakte außerhalb der Arbeit. Die Einstellung der Arbeitgeber ist, dass die Mitarbeiter permanent zur Verfügung stehen, permanent einsatzbereit sein sollten, für private Verpflichtungen wie z. B. Deutschkurse bleibt keine Zeit. Die Mitarbeiterfluktuation ist enorm hoch, wer krank wird, die geforderte Leistung nicht mehr erbringen kann oder gar Rechte wie etwa die Bezahlung von Überstunden einfordert, wird von den Subunternehmen einfach ausgetauscht.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), hat nach einem Gespräch mit seiner rumänischen Amtskollegin Violeta Alexandru (PNL) besagte Werkverträge als „Wurzel“ des Übels bezeichnet, inzwischen will die Bundesregierung sie zum 1. Januar 2021 verbieten lassen. Ist das Problem damit gelöst?
Aus meiner Sicht ist das neue Gesetz ein wichtiger, substanzieller Fortschritt. Wir sind aber schon besorgt, dass einige Unternehmen versuchen könnten, Ausweichschritte zu gehen, z. B. indem sie das Werkvertragssystem über Tochtergesellschaften weiterführen. Deshalb werden wir im zweiten Halbjahr die Beschäftigten sehr intensiv über die anstehenden Veränderungen und über ihre Rechte und Möglichkeiten informieren.
Ich bin mir sicher, es wird noch ein langer Weg, bis wir in der Fleischindustrie gute Arbeitsbedingungen haben werden. Wir werden diesen Weg begleiten. Nun muss auch die Branche zeigen, dass sie bereit ist, sich zu ändern.

Was würde das Verbot von Werkverträgen beispielsweise einem rumänischen Metzger bringen, wenn künftig nur noch Angestellte des betreffenden Betriebs Tiere schlachten und zerlegen sollen? Werden mit den Werkverträgen nicht auch zahllose Jobangebote für Gastarbeiter wegfallen?
Nein, das werden sie nicht. Zunächst einmal muss man klarstellen, dass wir die Werkverträge fast nur in den großen, industriellen Betrieben der Fleischindustrie haben. Bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück arbeiten etwa 4000 Menschen in der Produktion, davon mehr als 3000 über Subunternehmen. Wir wollen, dass all diese Menschen bleiben, aber nicht mehr bei den Subunternehmen, sondern bei Tönnies direkt arbeiten.
Die Wahrheit ist, dass es überhaupt keinen inhaltlichen Zusammenhang gibt zwischen den Werkverträgen und der Rekrutierung von Menschen aus Rumänien, Polen usw. Dies wird von der Fleischindustrie nur insinuiert, um die Werkvertragspraktiken zu verteidigen. Die Schlachthöfe sollten die Menschen selbst einstellen und ihnen feste Arbeitsverträge, geregelte Arbeitszeiten und eine Perspektive bieten. Die Rekrutierung von neuen Mitarbeitern aus dem Ausland kann problemlos über Personalvermittlungsfirmen erfolgen. Dass in Deutschland nicht genug Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, ist bekannt – und daran wird auch das Verbot von Werkverträgen nichts ändern.

Corona-Infektionen gab es auch unter rumänischen Erntehelfern, viele klagten zudem über nicht ausgezahlte Löhne und/oder Überstunden, verheerende Unterkunftsbedingen usw. Welches sind Ihrer Erfahrung nach die gängigsten Methoden, mit denen bei Saisonbeschäftigten der gesetzliche Mindestlohn unterlaufen wird? Wird Stunden- oder Akkordlohn gezahlt?
Sehr häufig wird statt dem Mindestlohn ein Akkordlohn gezahlt, z. B. bestimmte Beträge pro Kilogramm oder Kiste Spargel, Erdbeeren usw. Die Akkordvereinbarungen sind so, dass die überwiegende Mehrheit der Saisonkräfte unterm Strich kaum den gesetzlichen Mindestlohn erreichen kann. Dann werden einfach weniger Arbeitsstunden erfasst, als tatsächlich geleistet wurden.

Inwieweit wehren sich rumänische Gast- und Saisonarbeiter generell gegen mangelnden Arbeitsschutz, Missachtung des Arbeitsrechts, Sammelunterkünfte und sonstige Missstände?
In den vergangenen Jahren haben wir bei den Erntehelfern kaum erlebt, dass sich diese gewehrt hätten. Häufig wird erst am letzten Tag, am Ende der Saison, oft an einem Samstag, abgerechnet und ausbezahlt, nicht selten nur Stunden vor der Abreise. Falls die Abrechnung nicht stimmt oder überhöhte Summen für Miete oder Versorgung in Abzug gebracht wurden, werden die Erntehelfer vor die Wahl gestellt: Entweder ihr nehmt das Geld einfach und fahrt nach Hause oder ihr wehrt Euch, müsst aber die Unterkunft verlassen und bekommt gegebenenfalls vorerst gar nichts bezahlt. Die meisten entscheiden sich dann, einfach das anzunehmen, was die bekommen, und fahren heim.
Hier hatten Pandemie und intensive Berichterstattung durchaus eine positive Wirkung: Die Erntehelfer haben die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wahrgenommen und in vielen Fällen genutzt. In mehreren Fällen, die wir betreut haben, nahmen Erntehelfer Smartphone-Videos mit ihren Beschwerden auf und luden diese bei Facebook hoch. Das war neu und hatte aus meiner Sicht mit der intensiven Berichterstattung zu tun, die zum ersten Mal auch die rumänischen Medien erreicht hat. Auch die Behörden haben, offenbar aus Sorge um Corona, in der Regel prompt reagiert und Betriebe kontrolliert. Auf diese Weise konnten mehrere Landwirte dazu gebracht werden, Lohnabrechnungen zu korrigieren, Nachzahlungen wurden durchgesetzt.

Sowohl die deutsche als auch die rumänische Presse benutzt im Kontext der Gastarbeiter-Missstände oft die Termini „moderne Sklaverei“ und „Sklaventreiberei“. Was halten Sie davon, sind sie zutreffend?
Ich spreche lieber von systematisch bedingten Missständen und systematischer Ausbeutung in gewissen Branchen. Es ist sicherlich Geschmackssache, aber die Bezeichnung „moderne Sklaverei“ finde ich recht abwertend. Die Arbeiterinnen und Arbeiter kommen nach Deutschland, um Geld zu verdienen und sich ein besseres Leben zu erarbeiten. Dafür haben sie Respekt verdient und bessere Arbeitsbedingungen.

Was können und sollten EU, Deutschland und andere westeuropäische Länder tun, in denen Gast- und Saisonarbeiter aus ärmeren EU-Staaten arbeiten?
In erster Linie sollten sie Schieflagen auf dem Arbeitsmarkt rechtzeitig angehen. Es sollte kein Arbeitsmarkt zweiter Klasse entstehen, wie dies in Deutschland in Branchen wie die Fleisch- und Lebensmittelindustrie, Landwirtschaft, Gastronomie, Logistik- und Transportgewerbe, Pflege oder Bauindustrie leider der Fall ist. Davon sind nicht nur ausländische Beschäftigte betroffen.

Was sollte Rumänien tun, um seine Wanderarbeiter besser zu schützen?
Sinnvoll wäre es zum Beispiel, Interessenten schon vor ihrer Ausreise kostenlos Informationen zur Verfügung zu stellen oder die Botschaften und Auslandsvertretungen flächendeckend mit Beauftragten für Arbeit und Soziales auszustatten. Gerade auch in der Corona-Krise haben wir erlebt, dass Druck durchaus wirken kann. Die rumänische Politik hat bei der Bundesregierung sehr intensiv zur Situation der Wanderarbeiter nachgefragt. Dieser Druck hat eine große Rolle gespielt, etwa bei der Gesetzesnovelle in der Fleischindustrie. Es kommt meines Erachtens zum ersten Mal vor, dass die breite Öffentlichkeit in Rumänien die Probleme der rumänischen Wanderarbeiter intensiv wahrnimmt. Das hat schon eine wichtige Signalwirkung, die in Deutschland wahrgenommen wurde.

Und nicht zuletzt: Was können die Menschen selbst für einen besseren Arbeitsschutz tun? Was würden Sie als DGB-Berater rumänischen Gastarbeitern besonders ans Herz legen, worauf sollten sie achten?
Sie sollten sich vor ihrer Abreise möglichst genau informieren: Wo werden sie eingesetzt, wie lauten genaue Adresse und Name des Arbeitgebers, welche Hilfsangebote und Beratungsstellen gibt es vor Ort? Wichtig ist auch, den Arbeitsvertrag vor der Abreise zu verlangen und genau prüfen zu lassen. Wir oder unser rumänisches Partnerprojekt Fair Working Conditions in Bukarest können dabei helfen.
Wenn sie in Deutschland angekommen sind, ist es sinnvoll, ihre Arbeitszeiten von Anfang an täglich zu dokumentieren. Und wir empfehlen, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden. So bekommt man Informationen, Beratung und zur Not auch kostenlosen Rechtsschutz vor dem Arbeitsgericht.

Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.