Rumänische Weltpremieren bei der 68. Berlinale

Filme von Ioana Uricaru, Corneliu Porumboiu und Adina Pintilie

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Rumänien war bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Berlin, die am vergangenen Sonntag zu Ende gegangen sind, auf mehrfache und vielfältige Weise präsent. Beim European Film Market (EFM) etwa, einem der bedeutendsten Branchentreffs der internationalen Filmindustrie, waren allein sieben rumänische Produktionen zu sehen. Und in der Jury für die Verleihung des Preises der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF) für den besten Erstlingsfilm war u. a. der rumänische Regisseur Călin Peter Netzer als Jurymitglied vertreten.

Vor allem aber sind an dieser Stelle die drei rumänischen Filme zu erwähnen, die bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Berlin ihre Weltpremiere feierten: in der Wettbewerbssektion war dies Adina Pintilies Spielfilm „Touch Me Not“ (Rühr mich nicht an), in der Sektion „Forum“ Corneliu Porumboius Dokumentarfilm „Fotbal infinit“ (Unendlicher Fußball) und in der Sektion „Panorama“ der Film „Lemonade“ (Limonade) von Ioana Uricaru.

Ioana Uricarus anderthalbstündiger Film „Lemonade“ feierte am 19. Februar im Beisein der Regisseurin, der Schauspieler und der gesamten Filmcrew sowie des rumänischen Botschafters in Berlin, Emil Hurezeanu, und eines zahlreichen internationalen Publikums seine Weltpremiere. Der von Cristian Mungiu produzierte Film mit M²lina Manovici in der Hauptrolle schildert in berührender und zugleich bedrückender Weise das Schicksal der Krankenpflegerin Mara, die Mutter, Sohn und Haus in ihrer rumänischen Heimat zurückgelassen hat, um ihr berufliches und privates Glück in den USA zu finden. Dort hat sie kurz vor Ablauf ihres befristeten Arbeitsvisums einen Amerikaner geheiratet und wartet nun auf die ersehnte Green Card, d. h. die unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Film kritisiert die heimliche Zweiklassengesellschaft im amerikanischen Rechtssystem, in dem die Rechtlosen von den Besitzern des Rechts schamlos ausgebeutet werden. So versucht etwa der für die Bewilligung der Green Card zuständige Beamte Mara zu sexuellen Handlungen zu zwingen und droht ihr im Weigerungsfall mit der Nichterteilung der Green Card. Maras Ehemann entpuppt sich obendrein als straffällig gewordener Pädophiler und dann will auch noch die Polizei Mara den soeben in die USA geholten Sohn Dragoş wieder wegnehmen, weil sie ihn für kurze Zeit unbeaufsichtigt in ihrer Wohnung zurückgelassen hat. Zu allem Überfluss hat Mara in der Zwischenzeit ihr Haus in Rumänien verkauft und den Erlös auf das Konto ihres Mannes transferiert, von dem sie sich freilich jetzt scheiden lassen will, weil er gegen sie gewalttätig geworden ist. Eine durch und durch prekäre Situation also, die dem Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg im Land der unbegrenzten Möglichkeiten so gar nicht entsprechen will!

Der Protagonist in Corneliu Porumboius Dokumentarfilm, Lauren]iu Gin-ghin², hatte in seiner Biografie gleichfalls den Schritt in Richtung Amerika gewagt, um dort als Arbeiter auf einer Orangenplantage in Florida Fuß zu fassen und sein Glück zu machen. Nach dem erfolglosen Amerika-Abenteuer frönt er nun einem durchschnittlichen Dasein als Angestellter im Bürgermeisteramt einer rumänischen Provinzstadt, wobei er seinen eintönigen Alltag freilich durch eine fixe Idee wenigstens erträglich macht, wenn nicht sogar bereichert: Er möchte das Fußballspiel durch die Erfindung neuer Regeln (z. B. simultaner Spielablauf in zwei getrennten Spielhälften) oder durch die Abschaffung bestehender Regeln (z. B. der Abseitsregel) revolutionieren.

Die Absurdität dieser Innovationsideen entfaltet angesichts des Ernstes, mit dem der Protagonist des Dokumentarfilms sie vertritt, ein ungeheures Potenzial an Komik, das seinerseits wiederum in Widerspruch gerät zu vernünftigen philosophischen Ideen, die im Film etwa um Platons Höhlengleichnis, den aristotelischen Paideia-Gedanken oder religiöse Metanoia-Konzeptionen von Buße und Umkehr kreisen. Das Nebeneinander von Rationalität und Abstrusität, von Vernunft und Irrsinn sorgt für siebzig unterhaltsame Minuten, in denen gleichwohl Grundprobleme der menschlichen Existenz zur Sprache kommen. Der Regisseur ist während des gesamten Films als Zuhörer, Fragender, Moderator, Gesprächspartner und Vertrauter Lauren]iu Ginghin²s präsent und seinem Verzicht auf jegliche Ironie entspringt der Quell reinen Filmvergnügens.

Adina Pintilies Spielfilm „Touch Me Not“, produziert von Manekino Film Bukarest, spielt weder in Rumänien noch treten in ihm rumänische Schauspieler auf, vielmehr handelt es sich um eine internationale Koproduktion unter rumänischer, bulgarischer, tschechischer, französischer und deutscher Beteiligung. Die persönliche Bindung der rumänischen Regisseurin an ihr Vaterland und an die Person ihrer Mutter stellt freilich ein starkes Argument dafür dar, den Film als rumänisches Oeuvre zu betrachten.
Der an der Grenze zwischen Fiktion, Dokumentation, Experiment und Metakunst angesiedelte Spielfilm stellt das Thema der Intimität und Emotionalität in den Vordergrund, wobei im Film kaum Vergangenes verbalisiert oder Gegenwärtiges psychologisiert wird, vielmehr stehen ausschließlich körperliche Erfahrungen und ihre Gefühlsdimensionen im Fokus der Betrachtung.

Das wird schon allein daran deutlich, dass der Film Nacktheit in allen erdenklichen Formen zelebriert: bei der 50-jährigen Laura, die sich in ihrem eigenen Körper fremd fühlt; bei ihrem Callboy, der vor ihr für sie masturbiert; bei ihrem Vater, der als Pflegefall seinen Körper nicht mehr in der Gewalt hat; dann auch bei Tomas, der seiner Geliebten nachtrauert und ihr heimlich in BDSM-Klubs folgt, um ihrer körperlichen Lust wenigstens als Voyeur beizuwohnen; ferner bei dem schwerstbehinderten Christian und seiner Partnerin Grit, denen es trotz Christians Behinderung dennoch gelingt, gemeinsam körperliche Lust zu empfinden.

Orte der im Film gezeigten körperlichen Erfahrungen sind: Körpertherapiesitzungen einzeln oder in Gruppen, Begegnungen in Bade-, Schlaf- und Wohnzimmern im Rahmen käuflicher Liebe (Laura lässt z. B. eine Transfrau zu sich nach Hause kommen), Krankenhäuser, BDSM-Klubs, in denen sich die körperlichen Dramen, die im Grunde seelische sind, mehr oder weniger anziehend oder abstoßend vollziehen. Adina Pintilies Film folgt dabei dem euripideisch-kynischen Grundsatz „naturalia non sunt turpia“ und erlegt sich nur an den Stellen Selbstzensur auf, wo die Grenze zur Pornografie überschritten zu werden droht. Befreiende Lust ist das alleinige Kriterium für echte körperliche Erfahrungen, keine bigotten moralischen Maßstäbe oder zimperliche Vorurteile des guten Geschmacks.

Im Rahmen einer metafilmischen Aktion setzt sich die Regisseurin auch einmal selbst vor die Kamera, wo ihr echte Momente gespielter oder authentischer Emotionalität und Verletzlichkeit gelingen, die sie durch ihre aufgestaute Wut, durch ihre starke Mutterbindung und durch ihre 20-jährige Abwesenheit aus ihrem Heimatland zu erklären sucht. Alles in allem ein eigenwilliger, schonungsloser und zum Teil auch schockierender Film, der durch seine ‚Schauspieler’, durch die Interieurs, durch die Kamera (George Chiper-Lillemark) und vor allem durch die Musik (Ivo Paunov; Einstürzende Neubauten) besticht! Die von einer Grippe heimgesuchte Regisseurin durfte dann „in a feverish state“ bei der Abschlussgala im Berlinale Palast am vergangenen Samstag gleich zwei Auszeichnungen für ihr Spielfilmdebüt „Touch Me Not“ entgegennehmen: den GWFF-Preis für den besten Erstlingsfilm sowie den begehrten Goldenen Bären für den besten Film in der Wettbewerbssektion der 68. Berliner Internationalen Filmfestspiele.