Russland muss gedemütigt werden

Ein Kommentar von Jacek Rostowski, ehamaliger Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident in Polen

8. Mai 1945: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst: Nicht nur Deutschland hat von der Niederlage und Demütigung profitiert. Foto: Lt. Moore/PD-USGov-Military-Army

Seit sich die russischen Streitkräfte im Osten und Süden der Ukraine nach einer meisterhaften ukrainischen Gegenoffensive im Rückzug befinden, warnen manche Kommentatoren im Westen, der Krieg, den der Kreml im Februar begonnen hat, dürfe nicht mit der „Erniedrigung“ von Präsident Wladimir Putin oder Russland enden. Dabei ist das Gegenteil richtig: Putins empörende Aggression muss Russland durch und durch gedemütigt auf der Weltbühne zurücklassen.

Lassen wir die moralische Fragwürdigkeit dieser einseitigen Forderung nach einem gesichtswahrenden Ausweg für Putin einmal beiseite. (Anscheinend findet niemand, die Ukraine dürfe durch einen Friedensvertrag nicht gedemütigt werden). Lässt sich diese Forderung durch die Geschichte oder die eiskalte Logik im Umgang mit einer atomaren Supermacht, beziehungsweise einer Macht, die sich nur in dieser Dimension als Supermacht bewiesen hat, begründen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir mit der Tatsache beginnen, dass jede Niederlage im Krieg für den Verlierer, egal ob Aggressor oder Opfer, zu-tiefst demütigend ist. Jeder Krieg erniedrigt zumindest eine Seite, und manch-mal beide. Diejenigen, die von einer Demütigung Russlands abraten, verweisen vor allem auf die Folgen des Ersten Weltkriegs. Ihrer Ansicht nach, führte die Erniedrigung Deutschlands durch die Bedingungen des Versailler Vertrags ein Jahrzehnt später zum Aufstieg Hitlers und dann zum Zweiten Weltkrieg.

Tatsächlich musste Deutschland in Versailles jedoch nur geringe Gebietsverluste hinnehmen. Es musste nur Elsass-Lothringen, das es 1871 von Frankreich erobert hatte, und polnische Gebiete, die es sich während der Teilungen des 18. Jahrhunderts einverleibt hatte, zurückgeben. Andere Mächte wie Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich verloren viel größere Teile ihres Herrschaftsgebiets als Deutschland.

Wenn überhaupt Aspekte des Versailler Vertrags zum Aufstieg Hitlers beigetragen haben, dann waren es die Reparationsforderungen und nicht die territorialen Fragen. Die Reparationsansprüche waren sicher in dem Sinne gerechtfertigt, dass sie den französischen Kriegsverlusten und den Reparationen entsprachen, die Frankreich nach dem Krieg von 1870 an Deutschland geleistet hatte. Wie jedoch John Maynard Keynes (und viele Historiker nach ihm) argumentierten, haben die deutschen Reparationszahlungen sicher das Leid der deutschen Bevölkerung während der Hyperinflation der frühen 1920er Jahre und der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre verschärft.

Die These, dass vor allem die wirtschaftlichen Auswirkungen des Versailler Vertrags maßgeblich waren, bestätigen die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland das Elsass erneut an Frankreich abtreten musste und ein Viertel seines Staatsgebiets an Polen und den russischen Marionettenstaat in Ostdeutschland verlor. Das Gefühl der Erniedrigung hätte dadurch weit stärker sein müssen als nach dem Ersten Weltkrieg. Stattdessen erwies sich die Niederlage der Nazis für Deutschland und seine Nachbarn als echter Segen. Die Hilfen, die im Rahmen des Marshall-Plans aus den USA nach Deutschland flossen, waren bei Weitem höher als die Reparationen, die Westdeutschland leisten musste, und haben der deutschen Wirtschaft ein bis heute anhaltendes Wachstum beschert. Deutschland hat sich nach dem Fall des Kommunismus friedlich wiedervereinigt und seitdem nie wieder eine revanchistische Außenpolitik verfolgt.
Und Deutschland ist nicht das einzige Land, das von Niederlage und Demütigung in einem Krieg profitiert hat. Auch Japan hat nach seiner Kapitulation im Zweiten Weltkrieg seinem Imperialismus und Militarismus den Rücken gekehrt. Frankreich kam seine Niederlage im Algerienkrieg letztlich zugute, weil diese Niederlage es Charles de Gaulle ermöglichte, sein Land in eine moderne, wirtschaftlich erfolgreiche Nation zu verwandeln, die mit dem übrigen Europa eng verflochten ist. Und die USA konnte sich nach der Niederlage und Demütigung in Vietnam unter Ronald Reagan wirtschaftlich und technologisch neu erfinden und zum unumstrittenen Sieger des Kalten Krieges werden.

Auch Russland sind solche Erfahrungen nicht fremd. Seine Niederlage und Demütigung im Krimkrieg beschleunigten die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861, durch die 23 Millionen Menschen befreit wurden und damit fast sechs Mal so viele wie in den USA nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1863. Die nächsten vierzig Jahre sahen eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Dann führten Russlands Niederlage und Demütigung im Russisch-Japanischen Krieg 1905 noch im selben Jahr zu einer Revolution und der, wenn auch vorübergehenden, Errichtung einer konstitutionellen Monarchie.

1916 lösten die russischen Verluste den Sturz des Zaren und die Einrichtung einer liberalen Übergangsregierung unter Alexander Kerenski im Februar 1917 aus. Unglücklicherweise wollte Kerenski die Demütigung Russlands nicht akzeptieren und setzte den Krieg fort, was in weiteren Verlusten und der katastrophalen Revolution der Bolschewiki im November 1917 endete. Dann jedoch veranlassten die Niederlage und Demütigung der Sowjets im Polnisch-Sowjetischen Krieg Wladimir Lenin 1921 zur Einführung seiner zum Teil marktwirtschaftlichen Neuen Ökonomischen Politik. Die NEP rettete Millionen vor dem Hungertod und hätte Russland einen nachhaltigen Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung eröffnet, hätte der Aufstieg Stalins diesen Weg nicht versperrt.

Schließlich führten Niederlage und Demütigung im Afghanistankrieg zum Fall der Sowjetunion und einer, leider nur kurzen, Phase der Demokratisierung, in der Russland seine Nachbarn zumindest respektierte. Und wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Rückkehr des russischen Revanchismus nicht durch Gebietsverluste oder den Verlust des Großmachtstatus ausgelöst, sondern durch die Not der Bevölkerung nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems.

Hat der Westen versagt, weil er Boris Jelzins Russland nicht stärker unterstützt hat? Ich glaube, dass hat er, obgleich hinter dem kleptokratischen Modell, das sich schließlich durchgesetzt hat, auch mächtige einheimische Kräfte standen. Vielleicht war ein geordneter, weniger schmerzhafter Übergang, wie er in den ehemals sowjetischen Länder Mitteleu-ropas erfolgt ist, in Russland schlicht nicht möglich.

In jedem Fall belegen viele historische Beispiele, dass es sowohl dem Land selbst als auch seinen Nachbarn mittel- und langfristig guttun kann, wenn es infolge seiner imperialistischen oder aggressiven Politik gedemütigt wird. Manche glauben womöglich, die kurzfristigen Risiken der Erniedrigung einer der größten Atommächte der Welt seien zu groß. Dieses Argument ignoriert jedoch, dass Putin, falls er einmal eine Invasion durch atomare Erpressung durchsetzen kann, diese Strategie immer wieder einsetzen wird.