Sägeschrecken, Steinzeitfunde und künstliche schwimmende Inseln

Expertenrunde aus Naturwissenschaft, Archäologie, Ethnologie und Naturschutz diskutierte die zahlreichen Facetten des Donaudeltas

Gouverneurin Viorica Bîscă (ganz rechts) führt mit ein paar Daten ins Thema ein.
Foto: George Dumitriu

Zum zweiten Mal organisierte Kulturreferentin Aurora Fabritius anlässlich des 55. Jubiläums des Schiller-Hauses am 21. Juni ein Rundtischgespräch unter Experten – diesmal zum Thema Donaudelta. Neben den Vortragenden – der Gouverneurin des Deltas, Viorica Bîscă, den Bukarester Archäologen Alexandru Suceveanu, Vlad Alexandrescu und Ioan Opriş, den Naturwissenschaftlern des Öko-Musealen Forschungsinstitutes Tulcea, Cristian Micu, Alexandru Chiselev sowie Eugen Petrescu von der Rumänischen Gesellschaft für Ornithologie, die Vogelforscher Matei Tălpea-nu, Daniel Petrescu und Mircea Gogu Bogdan, der Insektenforscher Klaus Fabritius und WWF-Vertreter Cristian Tetelea – war unter den Gästen auch die Unterstaatssekretärin im Departement für interethnische Beziehungen, Christiane Cosmatu, anwesend. Eine Fotoausstellung von Bogdan, Stănescu, Petrescu und Fabritius rückte die schillernden Facetten des Deltas auch optisch ins rechte Licht.

Mehr als Fische und Vögel

Beim Stichwort Donaudelta denkt man an üppige Seerosenteppiche, leckere Fischgerichte, pittoreske Pelikankolonien und sanft dahindümpelnde, schwimmende Inseln. Vielleicht auch an den Sonnenuntergang über der Kulisse von Sulina, schilfbedeckte Fischerhütten, die wilden Pferde von Letea – seien es nun echte Wildpferde oder nicht – und Tauschgeschäfte à la „Hering gegen Ţuica“ zwischen traditioneller Lotca und touristischem Motorboot. Kaum jemand wird jedoch an die Sägeschrecke denken, ein bis zu zwölf Zentimeter langes Rieseninsekt, das sich durch Jungfernzeugung vermehrt. Oder an die Neusteinzeitkultur aus Taraschina, die dort 6000 vor Christus ansässig war und nicht nur die Kunst des Töpferns beherrschte, sondern zauberhafte Idolfiguren aus gelochtem Goldblech hinterließ. Oder an den Farbcode, mit dem Vögel – neben dem Menschen die einzigen Tiere, die das volle Farbspektrum wahrnehmen – Aggression oder Brutbereitschaft kommunizieren und der in der Natur so universal ist wie der berühmte goldene Schnitt von Leonardo da Vinci. An das reiche Kulturerbe an Traditionen der lokalen Bevölkerungsgruppen – Rumänen, Lipowaner, Ukrainer, Türken, Bulgaren, Tataren, Aromunen, Ungarn, Zigeuner u. a., die als multikulturelle, multireligiöse Patchworkgesellschaft in gemischten Dörfern seit jeher friedlich zusammenleben. Zwiebelkalender oder das auf die Stirn tätowierte Kreuz der Aromunen als Wiedererkennungszeichen aus den Zeiten, wo die Türken noch Mädchen verschleppten, blauweiße schilfgedeckte Holzhäuser oder der orangerote leuchtende Webteppich für die Aussteuer... Das Donaudelta ist mehr als Fische und Vögel. Es ist ein einzigartiges, facettenreiches Konglomerat, schillernd und faszinierend aus jedem Blickwinkel. 

Zwar sparten die Vortragenden nicht mit wissenschaftlichen Details – fast fühlte man sich in den Hörsaal der Uni zurückversetzt. Doch wann hat man schon Gelegenheit, eine solche Fülle an interdisziplinären Forschungsergebnissen und Fakten auf dem Silbertablett serviert zu bekommen? 

Ein Ort der Superlative

Das seit 1990 per Gesetz als Biosphäre-Reservat geschützte Donaudelta gilt nach den Galapagos-Inseln und dem australischen Barrier Riff als drittreichstes Biotop der Erde. Hier leben über 4700 bekannte Spezies aus Fauna und Flora – darunter Schakale, Luchse, Wölfe, Wildkatzen, Erdmännchen, Biber – mit einer hohen Dunkelziffer, denn laut Enthomologen soll es schon allein um die 4000 Insektenarten geben. 50.904 Quadratkilometer gehören neben diversen Funktions- und Pufferzonen der strikt geschützten Fläche an. Das Delta hat mit drei Einwohnern pro Quadratkilometer die geringste Bevölkerungsdichte Rumäniens, laut letzter Volkszählung 17.582 Rumänen, 10.906 Lipowaner, 97 Ungarn, 3768 Roma, 1317 Ukrainer, 49 Deutsche, 1891 Türken und 179 Tataren.

Im Delta finden wir aber auch eine der ältesten Kulturen, deren Spuren nahe dem Ort Mila 23 in einem Gebiet namens Taraschina bei Ausgrabungen ans Tageslicht traten. Ein Team aus Archäologen und Geografen hatte zunächst die Wasserniveaus zur Zeit der Formation des Donaudeltas studiert. Bei Mila 23 postulierten sie ein Trockenplateau von zwei Metern über dem Meeresspiegel des damals vereinten Schwarzen und Mittelmeeres. Tatsächlich bestätigten Grabungen dort eine sesshafte neolithische Kultur, die Ackerbau, Viehzucht, Töpferei und Metallkunst betrieb. Dank französischer Finanzierung (das rumänische Kulturministerium hatte für die Ausgrabungen nur knappe 2500 Euro bewilligt) konnten umfassende Grabungen mit professioneller Ausrüstung bis in acht Metern Tiefe durchgeführt werden, wobei auch Spuren späterer hellenistischer und mittelalterlicher Kulturen zutage kamen.

Vom Federkleid zur Milchstraße

Ornithologie – das klingt wie Luxuswissenschaft für Länder, die sich so etwas leisten können. Doch in der Naturwissenschaft hängt alles zusammen, keine Erkenntnis ist umsonst. Was man am kleinsten Kiebitz entdeckt, mag sich später als relevant für die gesamte Tierwelt, den Menschen oder gar das Universum erweisen. Als solches Kuriosum galt zunächst die Erkenntnis, dass Kommunikation in der Vogelwelt oft darin besteht, durch Aufplustern oder die Einnahme einer bestimmten Haltung zwei komplementäre Farben im Federkleid flächenmäßig ins Verhältnis Farbe A : Farbe B = 1,62 zu bringen. Wer dies mangels entsprechender Gefiederfärbung nicht kann, muss viel mehr zwitschern, um sich mitzuteilen, fanden die Forscher. Auch paarungslustige Libellen signalisieren ihre Absicht durch eine Flügelstellung, bei der die beiden Grundfarben im Verhältnis 1,62 erscheinen. Das magische Verhältnis dient bei vielen weiteren Spezies zur gegenseitigen Erkennung von Artgenossen, zum Ausdruck von Aggressivität oder Brutwilligkeit, wobei es sich wohl um eine Art Naturkonstante handelt – ähnlich dem Goldenen Schnitt, der Kreiszahl Pi oder dem e der Exponentialfunktion. Sie bestimmt den Grad der Aufmerksamkeit – sei es, durch Empfinden ästhetischer Schönheit, sei es durch Erkennen von Gefahr. So finden wir sie sogar im Menschen wieder, dessen Gesamtkörperlänge sich im Vergleich zur Länge nabelabwärts ebenfalls genau wie 1,62 verhält. Oder in Kunstwerken, wo Komplementärfarbfelder im Verhältnis 1,62 sofort den Blick anziehen und Tests zufolge als ästhetischer als andere Farbkompositionen bewertet werden. Dasselbe gilt für zweifarbige Blüten, die auf diese Weise Insekten anlocken, für gefährliche Gewitterwolken, ja sogar für die Farbkontraste in unserer Galaxie. Nun ist klar, warum wir Bilder von der Milchstraße so schön finden: Weil wir genetisch-neurologisch auf Kontraste im Verhältnis 1,62 programmiert sind! Welch gewaltige Erkenntnis dank eines kleinen Kiebitzes im Donaudelta, mit dem diese Forschung begann...

Der heimliche Star

Der unausgesprochene Star des Abends ist jedoch zweifellos die Sägeschrecke. Nach erstem Gähnen beim Anblick des Insektenfotos verstand es Enthomologe Klaus Fabritius, schnell die Aufmerksamkeit zu fesseln: Die Sägeschrecke ist nicht nur das seltenste Insekt Europas, wobei in den letzten 25 Jahren nur 10 Exemplare gesichtet wurden. Dank seines vierfachen Chromosomensatzes – eine genetische Kuriosität – erlangt das Raubinsekt die stolze Größe von bis zu 12 Zentimetern. Doch das ist noch nicht alles. Die Sensation: In der Welt von Lacusta sagapedo braucht man keine Männer! Das Tier vermehrt sich genauso gut durch Jungfernzeugung, bei der sich die unbefruchtete Eizelle meiotisch teilt und zu einem Organismus heranreift. Tatsächlich wurden erst 2005 erstmals zwei männliche Exemplare in der Schweiz entdeckt. Das Männchen gibt es also – doch wozu es dient, fand man bislang noch nicht heraus. Vielleicht zur Versorgung mit Proteinen für die Brut, wie dies bei der Gottesanbeterin der Fall ist? Diese verspeist ihren Liebsten sofort nach der Paarung blitzschnell und genussvoll. Wie gut, dass sich solche Praktiken auf die Welt der Gliederfüßer beschränken.

Keine heile Welt

Das Delta ist faszinierend, doch keine heile Welt. Naturschützer können ein Lied davon singen, und auch Einheimische haben ihre Sorgen. Alle Fonds gingen bisher an andere als an die lokalen Bewohner, sodass z. B. die Lipowaner kaum noch Fischgründe haben. Außerdem sind Einheimische schwer zu überzeugen, wilde Tiere nicht als Feinde zu betrachten. Pelikane etwa, die unter Fischern als Schädlinge gelten. Hungrige Luchse und Wölfe als Hühnerdiebe. Naturschützer versuchen, vor allem in Schulen Umdenken herbeizuführen – und werden angefeindet, weil sie „die Kinder verderben“. Können die ehrgeizigen Pläne des WWF zur Rekonstruktion ökologischer Wildbahnen (Projekt „Rewildering Europe“) vor diesem Hintergrund überhaupt erfolgreich sein? Wie bringt man den lokalen Einwohnern bei, Wildtiere, die ihre Ernte, ihren Fang oder ihre Haustiere bedrohen, als schützenswertes Naturerbe zu behandeln?

Ein weiterer Schlag für die Naturschützer ist die erneute Genehmigung des Parlamentes für die Jagd im Delta. Auch die existierenden Gesetze zur Einschränkung willkürlicher Bauwut werden nicht immer eingehalten. Selbst im geschützten Biosphäre-Reservat wird Grund verkauft, werden Gebäude jenseits aller Regeln errichtet. Dass NGO dennoch viel Positives bewirken können, zeigt das Beispiel des Projektes „Life“ zum Schutz des Krauskopfpelikans (www.dalmatianpelican.ro): Als Ersatzbrutplätze für die von Fischern zerstörten Plaurs wurden den Vögeln künstliche schwimmende Inseln angeboten. Obwohl vielseits belächelt, nahmen die Pelikane die Brutinseln bereitwillig an und vermehrten sich seither signifikant.

Eines der letzten Paradiese

Viele Interessen prallen aufeinander, wenn es um den Schutz dieses einzigartigen Naturparadieses geht: Wilde Pferde gegen seltene Biotope, Fischer gegen Pelikane, Naturschützer gegen Geldhaie und Einheimische, die auf ihre Art ums Überleben kämpfen oder sich ein Stück Modernität erschließen möchten. Irgendwo mittendrin der Tourist – der Vogelgucker mit Teleobjektiv und Ruderboot oder der in der knatternden Motoryacht, der schnittig durch die Kanäle prescht? Wie ist dies alles unter einen Hut zu bringen? 

Nur was man kennt, kann man lieben, lautet ein altes Sprichwort. Was man aber liebt, will man automatisch schützen. Vielleicht trug diese Veranstaltung dazu bei, das Donaudelta ein wenig mehr zu lieben – nicht nur als abstrakte Idee, sondern ganz real mit all seinen kontrastreichen Facetten – ja, selbst die furchterregende Sägeschrecke!