Salz und Zitronen

Eine Geschichte von Homophobie und Essstörungen

Der Fahrstuhl rattert. Der Fahrstuhl ist silbern, aus zerkratztem Metall und muffig-warm. Auf dem Fensterbrett welkt ein lila-blaues Stiefmütterchen vor sich dahin. Amy wohnt im siebenten Stock, aber der Fahrstuhl hält im achten. Dann muss man noch einen runterlaufen. Amy sitzt am Fenster und haucht ihren Atem in den Regen. Der Atem ist weiß wie die Raufasertapete. Amy spricht in vielen Anglizismen. Amy hat ein Lächeln, bei dem sich ihre Mundwinkel tief in den Babyspeck ihrer Wangen versenken. Amy hat lange blasse Beine und dunkelblaue Jogginghosen mit Wolken darauf. Amys Augen sind traurig und ihr Mund lächelt. Das wäre aber nur ein Teil der Wahrheit, denn Amy ist mutig und lächelt immer leicht und rollt das „R“ endlos lang, wenn sie grinsend „giiiirrrl“ sagt.  Amy identifiziert sich als queere Person: als nicht-binär und lesbisch. Amy hatte auch das Glück – sie sagt das nicht zynisch, sondern trocken – in einer Familie aufzuwachsen, in der sie viel Gewalt, aber wenig  Rückhalt erfahren hat.  

Ihre Mutter arbeitet in Italien, um mehr Geld zu verdienen und ist schon lange nicht mehr in ihrer Geburtsstadt Botoșani. Ihr Vater hat eine neue Familie gegründet. In den letzten Jahren hat Amy allein gewohnt und vorher bei einer Freundin ihrer Familie. Amy war überall und nirgendwo, im Krankenhaus, in der psychiatrischen Klinik für Jugendliche, bei den Großeltern. Besser ging es ihr erst, als sie sich zurückzog und den Freiraum hatte, dem übergriffigen Zugriff ihrer Mitmenschen zu entkommen.

„Ich habe nach der 12. Klasse ein Jahr Pause gemacht. Ich hatte endlich so viel Zeit, das erste Mal in meinem Leben war ich nicht von anderen Menschen abhängig und konnte wirklich feststellen, wer ich bin. Das war auch der Moment, als ich mich geoutet habe.“

Queer sein in Botoșani

Queer sein findet in Rumänien vor allem im Internet statt, vor allem auf den bunten, glitzernden Seiten Instagrams. In Botoșani gibt es keine queere Szene, in den Pausen auf dem Schulhof rufen die Jungs solche Mädchen Lesben. „Wenn du dich  nicht typisch weiblich kleidest, dann fangen Gerüchte an. Ich konnte meine Zuneigung zu Frauen in der Schule nicht erkennen. Ich weiß nur, als ich in der ersten Klasse war und wir auf dem Schulhof warteten und meine spätere beste Freundin durch das Tor kam – und ich war begeistert und sprachlos. Aber ich war natürlich noch ein Kind und konnte das noch gar nicht einordnen. Später hatte ich immer wieder Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich vielleicht bisexuell bin, später habe ich mich wieder als heterosexuell gefühlt und mich typisch weiblicher gekleidet. Mittler-weile ist mir all das egal. Aber was wirklich schlimm für mich ist, ist der Fakt, Brüste zu haben. Und die Blicke von Männern. Aber dieses Problem werde ich auch irgendwann lösen. Im Alter von 16 Jahren entdeckte ich meine sexuelle Orientierung, die ich nur mühsam akzeptierte und eine Weile geheim hielt, aber mit der Zeit erzählte ich es meinen Freunden.“ 

Insbesondere Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlechterspektrum einordnen, bleiben oft unsichtbar – dabei stellen Transgender-Personen eine unterbesetzte und nicht anerkannte Gruppe dar, die häufiger an Essstörungen leiden. Im Jahr 1996 wurde die LGBTQ+-Community in Rumänien entkriminalisiert und erst seit der Jahrtausendwende den Betroffenen mit dem Antidiskriminierungsgesetz gesetzliche Rechte zugestanden: All das passierte nicht in Folge eines gesellschaftlichen Wandels, sondern aufgrund notwendiger Reformen, welche die Tür für einen geplanten EU-Beitritt öffnen sollten. Der Club „Delirio“ ist der einzige LGBTQ+ Ort in Klausenburg und gehört zu den wenigen „Safe Spaces“ der queeren Community. Für Amy ist es am wichtigsten, dass die engsten Leute um sie herum Bescheid wissen. Ihre Eltern haben zwar noch nicht so richtig verstanden, was queer sein bedeutet oder nehmen die Botschaften ihrer Tochter nicht ernst, aber Amy ist zumindest erleichtert, dass sie nicht negativ reagiert haben: „Ich brauche kein Verständnis, nur Akzeptanz. Den Support hole ich mir dann von Leuten, mit denen ich wirklich eng bin.

Ungeschriebene Geschichten von Essgestörten

In Rumänien sieht man kaum einen Anstieg von Essstörungen, weder in der vorpandemischen Zeit noch später: Weil vieles im Verborgenen passiert.

Als Amy aufwuchs, hatte sie viel Angst und Stress, weil sie aufgrund ihres Körpergewichts von ihren Nächsten beurteilt wurde. „Mit der Diagnose, von der man nur als Magersucht hört, wurde ich von meiner Hausärztin an eine Psychologin verwiesen. Ich erhielt den kleinen Zettel mit der Beschreibung Anorexie, starkes Untergewicht. Eine große Masse kaltes Wasser presst sich gegen meinen aufgeblähten Bauch, eine 1,5 Liter-Flasche, die ich zu Hause auf der Toilette getrunken habe, um mehr Gewicht auf der Waage vorzuweisen. Denn ich weiß, dass ich sonst in die Klinik komme. Ich sitze weinend vor der Psychologin, seit einigen Monaten bin ich vom Schulunterricht befreit.” 

Timea Kovács, Ärztin aus Neumarkt/Târgu Mureș, untersuchte 2007 in einer epidemiologische Studie 2396 Jugendliche, wobei 0,6 Prozent der rumänischen Jugendlichen mit Essstörungen diagnostiziert wurden. Die Ergebnisse machten deutlich, wie wichtig es ist, sich ernsthaft mit Essstörungen in Rumänien zu befassen, aber zeigen auch, dass trotz kleinerer wiederholter Versuche keine weitreichenden Zahlen zur Verbreitung des Syn-droms vorliegen. Mit dem Thema setzt sich innerhalb der Landesgrenzen nur die NGO „Asociașia pentru Prevenirea și Tratamentul Tulburărilor de Alimentație“ (APTTA) auseinander, deren Webseite seit Längerem nicht mehr zugänglich ist. Ansonsten: Leere. Weißes Papier. Ungeschriebene Geschichten.  

Die Mutter macht sich Sorgen und ruft Amy an. Einmal die Woche klingelt das Telefon. „Ich esse was, keine Sorge”, sagt Amy. Sie grinst und bricht in Lachen aus über ihren eigenen Pathos. „Ich war allein, die anderen waren nicht allein. Und es war der beste Moment in meinem Leben: etwas Zeit für mich zu haben.” Amy erinnert sich: die Mutter hat zuhause in Boto{ani immer Ciorba gekocht. Mit grünen Bohnen, Kartoffeln und Karotten. Sie hat Schweinefleisch angebraten und dann lange über dem Gasherd simmern lassen, bis der Geruch von Gemüsebrühe und Bohnenkraut wie ein warmer Raureif auf den staubigen Fensterbrettern lag. Amy habe auf dem Balkon im Sonnenschein geschlafen und ihre Haut hat gespannt vor Trockenheit. Sie hatte Sand in den Augen und habe durch die geschlossenen Lieder nur das Flimmern der Sonne gesehen, die Erdtöne und das Birnengelb eines späten Septemberlichts. „Ich war ein Kind, sagt meine Mutter, das immer gesabbert hat im Schlaf und dabei laut geschmatzt. Als ich aufgehört habe zu essen, ist sie so wütend geworden. Die Trennung der Eltern, das Nirgendwohingehören, das Mobbing in der Schule: Ich wollte all dem entkommen.” Der Hunger kratzte ihr damals ständig in der Kehle wie Zitronenbonbons, Amy erinnert sich an das Schnattern und Knistern beim Aufreißen der Plastikverpackungen, wenn sie einen Essanfall hatte. Der Puderzucker auf den Süßigkeiten glitzerte für sie wie Schnee. Amy erinnert sich nicht gern. Sie saß auf dem kalten Boden neben der Toilette. Schweiß und Erbrochenes und Tränen tropfen auf die weißen Fliesen, wo sie sich vermischen. Heimlich macht Amy alles sauber, dreht den Wasserhahn auf, um die Geräusche zu verdecken. „Ich kämpfe manchmal noch mit dieser Angst, verlassen zu werden, von meiner Mutter. Der Moment, in dem Opa der Mutter etwas an den Kopf wirft, der will einfach nicht aus meinem Kopf. Ich hatte Klassenkameraden, die mich auf dem Gang als fett beschimpft haben und mir den BH geöffnet haben. Ich wusste schon immer, dass das falsch war. Ich wollte nur nicht mehr. Ich wollte keine Aufmerksamkeit, sondern einfach nur Ruhe.“

Amy braucht Zeit

Ob sie sich noch an dieses Gefühl erinnern kann?  „Es ist ein bisschen so, als würde dich jemand in den Arm nehmen. Du hast diesen Flaum auf den Armen wie ein Küken und die Krankheit wiegt dich, deine Fingerspitzen krabbeln und irgendwie wirst du es nicht mehr los.“ Amy hört die Stimme der Essstörung manchmal noch, beiläufig, und hört weg. „Das ist meine Entscheidung. Ich kann nichts dagegen machen, was mir passiert ist.“

Ihre Familie war nie gewalttätig ihr gegenüber, im Gegenteil, sie sagten, sie wollten sie beschützen, aber die Tatsache, dass Amy ständig dabei war bei den Streitereien, hat sie zu sehr verletzt. Die Frau, bei der sie vor drei Jahren gewohnt habe, eine Freundin der Mutter, war gut zu ihr. Aber ihre Söhne haben immer Witze gemacht, andere Leute „poponar“ („Schwuchtel“) genannt. „Ești gay?“, die übliche Frage nach ihrem Kurzhaarschnitt.  Amy erzählt, dass sie nach der Schule viel Zeit brauchte. Weiße Nächte und offene Gardinen. In der Coronazeit wie dieser allein in einer Wohnung zu leben, gibt einem viel Zeit zum Nachdenken. Über die Gegenwart, die Zukunft, vielleicht sogar die Vergangenheit. Und genau das hat Amy getan: „Aber außer an andere zu denken, wie ich es normalerweise getan habe, konnte ich mich auf mich selbst konzentrieren. Ich konnte über einige Dinge nachdenken, die in meinem Leben passiert sind, wie ich dort gelandet bin, wo ich gerade bin, wofür ich am dankbarsten bin.“ 

Amy schnieft. Ihr laufen die Tränen. Dicke Wassertropfen kullern auf das Brot. Es weicht unter den Tränen auf. Salzwasser kullert auf den blassen Käse. Manchmal atmet Amy tief ein und aus nach dem Essen. Passt noch was rein?, fragt sie sich. „Wenn es weh tut, wenn der Bauch spannt, dann reicht es. Es ist nicht leicht.“ Kaffee und Zigaretten und Pfefferminzkaugummis steckt sie sich lässig in die Taschen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das lange ihre einzigen Begleiter waren. „Ich konnte nicht mehr essen. Und in meinem Umfeld war es normal, Diät zu halten. Es ist normal, dass junge Frauen sich sexualisiert kleiden, aber es ist nicht normal, dass ich über Masturbation rede. Wir hatten nie irgendeine Form von sexueller Aufklärung in der Schule.” Diese absurde Welt, die Amy beschreibt, die sich nur in den eigenen vier Wänden abspielt, zwischen dem Erbrechen hinter verschlossener Badtür und dem Wasserrauschen der Dusche, drei Gurkenscheiben auf der Waage, Essigtrinken, der obsessiven Sehnsucht nach etwas so Grundsätzlichem wie Nahrung und der Scham nach dem Essanfall, all das sei das Schlimmste, was ihr je in ihrem Leben passiert ist „Nachdem ich über ein Jahr anorektisch war, folgten Orthorexie und Bulimie, später Binge Eating. Ich musste in die Klinik, mit anderen Jugendlichen, die sich am ganzen Körper verletzten oder Suizidversuche hinter sich hatten.” Amy gibt niemandem die Schuld an einer Jugend, die leichter hätte sein können: weder der strukturellen Unsichtbarkeit und Gewalt gegen queere Menschen und gegen jeden, der nicht in ein konservatives binäres Geschlechterspektrum passt – noch der Normalität von Geschlechteridealen und dem Versagen von Bildungs- und Gesundheitswesen, Kinder und Jugendliche zu schützen. Aber es wäre eine andere Realität möglich. Und es wäre so einfach.

Was wir noch lernen müssen

Essstörungen sind intersektional und das Letzte, was ich möchte, ist, dass jemand denkt, dass die Situierung von Körpern als queer Essstörungen verursacht. Auf jeden Fall sind Menschen wie Amy aber aufgrund ihrer biografischen Geschichte stärker gefährdet: Essstörungen können jeden treffen, aber manche Mitglieder unserer Gesellschaft sind besonders hilflos und andere wiederum besonders unsichtbar. Amy bewegt sich an den Schnittpunkten mehrerer Marginalisierungen: als Person ohne Eltern, die für sie effektiv sorgen, als Kind transnationaler Familien, als nicht binäre Person, die von der Mehrheitsgesellschaft als biologische Frau betrachtet wird – von manchen vielleicht als unzureichende Frau, weil sie Geschlechterrollen nicht folgt – und als ein Mensch in psychotherapeutischer Behandlung.

Hochgerechnet auf der Grundlage von Daten ähnlicher Länder im Profil und sorgfältiger Dokumentation dieser Krankheiten würden in Rumänien rund 400.000 Menschen an einer Essstörung leiden: Und wir tun den Betroffenen sicher keinen Gefallen, wenn wir die kulturelle Norm von Schönheit pathologisieren. Hyperweiblichkeit ist Teil unseres Bildes von Essstörungen, aufgrund derer sich nicht-cisweibliche Essgestörte schwerer outen können, noch ernst genommen werden. Die Geschichte von Amy ist nicht nur anonymisiert, um ihre Identität zu schützen, sondern vor allem weil Rumänien für LBGTQ+ -Personen noch immer eines der gefährlichsten Länder ist. Die „Agenția pentru Drepturi Fundamentale“ (FRA) veröffentlicht jährlich Statistiken, nach denen Menschen in Rumänien am stärksten von trans- und homophoben Angriffen betroffen sind, aber die Melderaten zu den niedrigsten gehören. Einer von fünf Teilnehmenden an einer Studie der Organisation „Accept“ gibt an, gemobbt und belästigt worden zu sein und berichtet von mindestens einem körperlichen oder sexuellen Übergriff in den letzten fünf Jahren. 

Manchmal ist Weggehen die einzige Lösung

Botoșani ist kein Ort, an dem Amy bleiben könnte – außerhalb von Klausenburg und Bukarest wird es schwierig und sie möchte sich nicht hinter dem Bildschirm verstecken. Amys Name tut auch gar nichts zur Sache. LGBTQ+ bedeutet für Amy nichts Spezifisches, sondern einfach nur, dass es ganz normal ist, jeden so zu lieben, wie es sich für einen selbst gut angefühlt. Amy sagt, das hat auch gar nichts mit einer Beziehung zu tun – sie würde vielleicht gern einmal Kinder adoptieren und eine Familie haben: „Aber das hat nur etwas mit mir selbst zu tun, nicht mit anderen.” Amys Körper ist kein unbeschriebenes Blatt, genauso wenig ihre Erinnerungen. Ihre Haut ist von feinen silbernen Streifen überzogen, von Narben und Flecken. Ein Teil, den sie bereit ist, zu akzeptieren und nicht zu beurteilen, wie es andere in der Vergangenheit getan haben. Denn: „Ich möchte mir nie wieder diesen Druck machen.“ Amy sagt, es ist wichtig zu wissen, dass ihr nicht allein seid und dass ihr euch nicht ändern solltet, um anderen zu gefallen. Wenn du etwas an deinem Körper verändern möchtest, dann tue es, weil du es willst und mach es verantwortungsbewusst.