Scharfe Eckzähne, Wölfe als Freunde – und doch ganz anders als Dracula

Im Bären-Schutzgebiet „Libearty“ erlebt man die Räuber der Karpaten aus nächster Nähe

Mehr als eine Tonne Lebensmittel wandern täglich in die Bäuche der 77 Allesfresser. Auf dem bunten Speiseplan stehen u .a. Joghurt-Eis sowie Brot und Honig aus eigener Herstellung.

Zur Fütterungszeit sind besonders viele Bären auf einmal zu sehen. Für jedes Tier ist am Gehege eine Holzplakette mit Namen und „Einzugsdatum“ angebracht.

Auch der Wald ist ein soziales Netzwerk: Liviu Cioineag erklärt die bärige Kommunikation am „Facebook-Baum“.

Ein glücklicher Bär im Gewand der amerikanischen Freiheitsstatue ist das Maskottchen von „Libearty“.
Fotos: Anna Brixa

Anders als an siebenbürgischen Touristen-Magneten wie einem Geburtshaus, in dem der sagenumwobene Graf Dracula alias Vlad Ţepeş nie geboren wurde, und einer Burg, auf der er sich kaum, vielleicht sogar nie aufgehalten hat, werden im Bären-Schutzgebiet „Libearty“ keine Legenden gesponnen. Ganz im Gegenteil: alle Geschichten, die dort erzählt werden, leben gerade von ihrer Authentizität und bewegenden Realität. Europas größtes Bärenreservat in der Nähe von Zărneşti/Zernen fasziniert jährlich eine internationale Besucherschar, und das natürlich in erster Linie durch die Anziehungskraft seiner 77 pelzigen Bewohner. Dahinter aber stehen ein Engagement, das buchstäblich Berge versetzte und eine ehrgeizige Mission, die beinahe vollendet ist: Alle in Gefangenschaft lebenden Bären Rumäniens zu befreien und ihnen ein glückliches, artgerechtes Leben zu ermöglichen.

Zu Gast bei Meister Petz

Beim ersten Anblick der gewaltigen Tiere hält man unwillkürlich den Atem an. Diese riesigen Pranken, massiven Schädel, gewaltigen Staturen: in freier Wildbahn möchte man das eher nicht aus einer solchen Nähe erleben. Gegen diese Karpatenbewohner helfen kein Knoblauch und kein Aberglauben, doch ihre Besucher sind viel besser abgesichert – nämlich durch einen 5000 Volt starken Elektrozaun. Wer einen zweiten Blick riskiert, nimmt auch schon andere Details der massigen Bärengestalten wahr: puschelige Riesenohren, sanfte Augen und eine sehr ausgeprägte Mimik, die bis hin zu einem zufriedenen Lächeln und Grinsen reicht.

Gründerin Cristina Lapis beschreibt das knapp 70 Hektar große Schutzgebiet auf einer mit Eichen bewachsenen Anhöhe als Paradies, und das ist wirklich nicht übertrieben. Der Name „Libearty“ steht sprichwörtlich für die neue Freiheit, die sie den gequälten Bären schenkte. Viele von ihnen hatten ihr Leben zuvor in Gefangenschaft verbracht und im Schutzgebiet zum ersten Mal Waldboden unter ihren Tatzen gespürt, waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen Baum geklettert.

Dieses Erlebnis haben sie indirekt Maia zu verdanken, der ersten Braunbärin, die Lapis kennenlernte und lange Zeit aufopfernd pflegte. Unter elenden Bedingungen, oftmals sogar ohne Futter und Wasser, fristete Maia unweit der Törzburg ein trauriges Leben. Für sie kam jede Hilfe zu spät, doch das Projekt, das ihr heute gewidmet ist, konnte mit großzügiger Unterstützung von WSPA (World Society for the Protection of Animals), in Zusammenarbeit mit der Stadt Zernen und der von Lapis bereits 1997 gegründeten Organisation „Millionen Freunde“ im Jahr 2005 realisiert werden. Auf dem riesigen Gelände leben heute insgesamt 77 Bären, elf Wölfe, ein Fuchs und sogar ein Rudel Rehe, das irrtümlich mit eingezäunt wurde, friedlich zusammen.

Dass so viele wilde Tiere eine Attraktion darstellen, liegt auf der Hand. Jedoch grenzt sich das Projekt bewusst von Zoos und Zirkussen ab. Nicht nur ist der Eintritt (für Erwachsene 40 Lei, für Kinder und Studierende 10 Lei) vergleichsweise hoch; vor allem aber sollen die etwa 5.000 Besucher pro Jahr für das Schicksal und die Bedürfnisse der Bären sensibilisiert werden. Dazu gehört, dass das Schutzgebiet nur mit Führung betreten werden darf und feste Regeln eingehalten werden müssen: zum Beispiel, nicht vor den Bären zu essen oder zu trinken, keine Handys zu benutzen und sich ruhig und rücksichtsvoll zu verhalten.

Diese Grundregeln durchzusetzen, sei nicht immer leicht, berichtet „Libearty“-Mitarbeiter Liviu Cioineag: „Die Leute kommen oft mit einer ‘Zoo-Einstellung’ hierher – um Spaß zu haben. Doch viele der Geschichten, die wir ihnen hier erzählen, sind traurig. Die Bären haben Schreckliches erlebt. Wenn man davon berichtet, kann man direkt beobachten, wie die Besucher mitfühlend reagieren und ihre Einstellung gegenüber diesem Projekt ändern. Gegen Ende der Führung wird es aber doch noch lustig: wenn man nämlich an den Schwimmstellen vorbei kommt, wo die Bären ausgelassen miteinander plantschen.“ Auch wird momentan an weiteren Attraktionen gebaut: einer Hängebrücke mit Beobachtungsplattform hoch in den Baumwipfeln und einem Bunker, wo man mit den Bären – nur durch eine Panzerglasscheibe getrennt – wahrhaftig Aug in Aug sein kann.

Seit Jahrhunderten ein Symbol Rumäniens

Rumänien hat die größte Population an wilden Bären in Europa. Das Schicksal dieser Braunbären war immer untrennbar mit der Geschichte und Selbstwahrnehmung des Landes verbunden – mit der Jagd und dem Tourismus. Schon seit dem 13. Jahrhundert ist auch die Abrichtung von Tanz- und sogar Massagebären durch Zigeuner überliefert. Dementsprechend schwierig gestaltet es sich heute, mit jahrhundertalten Traditionen zu brechen.

Offiziell ist die private Haltung von Wildtieren nach der Berner Konvention verboten, und auch wer in Rumänien Bären verkauft oder gar mit ihnen handelt, macht sich strafbar. Dennoch ist es möglich, durch korrupte Strukturen an gültige Halterpapiere zu kommen – was besonders von Vertretern der High Society genutzt wird, die sich die Tiere als persönliche Statussymbole halten. Auch werden immer noch vereinzelt Bären an Restaurants, Tankstellen und selbst in Klöstern als Touristenmagneten eingesetzt. Selbst mit Unterstützung der Behörden ist es oft schwierig, solche Bären zu befreien, und nicht selten werden die Tierschützer von erbosten Bärenhaltern mit Waffen bedroht.

Immer wieder kommt es auch vor, dass Bärenjungen von Privatpersonen mit der Flasche aufgezogen werden, nachdem das Muttertier abgeschossen wurde. Sobald diese niedlichen Teddybärchen aber zu gefährlichen Wildtieren heranwachsen und komplette Wohnungseinrichtungen zerstören, landen auch sie oft bei „Libearty“ – wenn sie bereits zu alt sind, um ausgewildert zu werden. Im Reservat plant man derzeit eine groß angelegte Ausstellung zur Geschichte der Bärenhaltung in Rumänien, wofür selbst Wagen von umherziehenden Bärenhändlern und -dompteuren nachgebaut werden sollen.

Umdenken bewirken – durch Geschichtenerzählen

Eine jahrhundertelang geformte Mentalität und die vielen Vorurteile gegenüber dem unbekannten Wildtier zu durchbrechen, ist nicht leicht. Im Reservat schafft man es dadurch, die ganz persönlichen Geschichten der Bären zu erzählen und damit dem Leiden ein Gesicht zu geben. Die Odyssee von Cristi und Lidia zum Beispiel, die als erste in das Schutzgebiet einzogen – ohne den dritten Kameraden, mit dem zusammen sie an einem Restaurant gehalten wurden. Denn kurz zuvor hatte noch jemand Bärentatze bestellt. Oder die Geschichte von Odi, der bei großer Hitze wie Eiseskälte auf blanken Eisenstäben sitzen musste, und dessen alter Käfig zur Abschreckung besichtigt werden kann. Oder von Mura, der Zirkusbärin, die auch im Reservat noch lange für ihr Futter „tanzte“…

Viele der Bären leiden noch heute unter ihren Traumata und zeigen deutliche Verhaltensauffälligkeiten. Diese werden durch das artgerechte Leben in der Natur, aber auch mit der Unterstützung von internationalen Tierpsychologen behandelt. So wird Tieren, die sich zwanghaft nur auf ein paar Metern hin- und her bewegen, das Futter jede Woche ein kleines Stückchen weiter weg hingelegt; oder es werden tapsige Baby-Bären für eine aufmunternde „Spieltherapie“ zu den erkrankten Tieren gelassen.

Um weiteren Bären die Qualen nicht artgerechter Haltung zu ersparen, sind sowohl Politiker und Behörden als auch Privatpersonen gefragt. Selbst kann man dazu beitragen, indem man Verstöße meldet, sich nicht mit Bären für Geld fotografieren lässt und sie vor allem niemals füttert – weder in Gefangenschaft, noch in der freien Natur oder an Mülltonnen, so wie es jahrelang in Kronstadt praktiziert worden war.

Kronstadt, Welthauptstadt der Bären?

Denn die Stadt hatte lange den Ruf, „Welthauptstadt der Bären“ zu sein. Das lag nicht nur an ihrer Lage am Fuße der Karpaten, die eine vergleichsweise große Anzahl der Wildtiere beherbergen, sondern vor allem an einer zweifelhaften Touristenattraktion: den „Müllbären von Kronstadt“. Diese waren an Mülltonnen des Viertels Răcădău noch vor einigen Jahren gezielt angefüttert worden, weshalb allabendlich sensationsgierige Besucher in Taxis anrollten, um das Spektakel mitzuerleben. Nachdem die Behörden dem Treiben Einhalt geboten, wurden diverse Versuche unternommen, die Bären zukünftig von den Mülltonnen fernzuhalten: durch Einsatz von UV-Licht, Hochstellen und Vergraben des Mülls, spezielle Tonnen und Pfeiftöne.

Dennoch mussten einige der allzu aufdringlichen Tiere abgeschossen werden, und immer wieder gab es Fälle, die Schlagzeilen machten – z.B. einen über den Marktplatz trottenden Bären oder gar Zusammenstöße mit Menschen. Aktuell hat sich die Lage wesentlich entspannt – wenn auch noch mitunter Touristen gerettet werden müssen, die nachts an den Buchstaben der Zinne hängen und sich nicht herunter trauen, weil dort Bären unterwegs sind.

Was aber tun, wenn man wirklich einmal in freier Wildbahn einem Bären von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht? Cioineag schmunzelt: „Darauf gibt es nur eine einzige richtige Antwort“, sagt er. „Es gibt keine richtige Antwort.“ Wenn es wirklich zu einer Begegnung von Mensch und Bär komme, hänge viel von der Situation und den Bedingungen ab. Gut sei es, langsam rückwärts zu gehen, die Bären anzusprechen und sie nicht zu provozieren. Denkbar schlecht dagegen, sie mit Blitzlicht zu fotografieren sowie Muttertiere mit Jungen oder Bären bei der Nahrungssuche zu stören. Am allerbesten aber ist es, diese Begegnung im Vorhinein unwahrscheinlich zu machen – indem man zur Dämmerung nicht tief in den Wald geht, besonders in der Nähe von Beerensträuchern vorsichtig ist und „klingelt“, bevor man das Hoheitsgebiet der Bären betritt: sich also in Waldgebieten durch Singen oder lautes Reden als Mensch bemerkbar macht, um den Tieren die Chance zu geben, sich zurückzuziehen.

Zukunftspläne – und Facebook-Bäume

Nur noch 13 Bären leben heute in ganz Rumänien in Gefangenschaft. Wenn auch sie befreit und in das Schutzgebiet eingezogen sind, ist das ehrgeizige Ziel der Tierschützer tatsächlich erreicht. Der Schwerpunkt des Projekts verschiebt sich somit von der Rettung der gefangenen Bären hin zur Schaffung eines Bewusstseins für Tier- und Umweltschutz im Land. Schon jetzt werden Besuche in Schulen gemacht, um dort Kindern beizubringen, welche Grundbedürfnisse Tiere haben. Bei „Libearty“ wird den kleinen Besuchern in einem großzügigen Weiterbildungs-Zentrum durch Filme, Gespräche und Basteln spielerisch vermittelt, was Bären wirklich wollen und brauchen. Erste Erfolge zeichnen sich bereits ab; so sagte etwa ein kleines Mädchen nach der Führung durch das Schutzgebiet: „Ich will nicht, dass mein Vater weiter Bären jagt!“.

Ihre wichtigste Zielgruppe sprechen die Bären-Guides bewusst sehr modern an. Zum Beispiel mit den „Facebook-Bäumen“: genau wie in dem beliebten sozialen Netzwerk hinterlassen nämlich auch Bären durch das Reiben ihres Rückens an der Baumrinde ihren Status und erstellen eine Art Profil mit Angaben zu Körpergröße und Entwicklungsstand. Über Jahre hinweg können sie so an den immer gleichen Bäumen miteinander kommunizieren, sich je nach Situation „verabreden“ bzw. lieber aus dem Weg gehen. Und junge Bären verhalten sich hier ganz ähnlich wie Menschenkinder: sie schummeln bei der „Größenangabe“, indem sie sich während des Markierens auf die Zehenspitzen stellen! Klar, dass die kleinen Besucher von solchen Geschichten begeistert sind. Erwachsene zum Umdenken zu bewegen, sei dagegen sehr schwierig, so Cioineag. Doch über die Kinder versuche man, auch diese zu erreichen.

Möchten auch Sie helfen?

Wer die Bärenschützer unterstützen möchte, kann Geld, Materialien oder auch Lebensmittel an das Projekt spenden. Die Erhaltung des Schutzgebietes ist sehr kostspielig, denn die Tiere verspeisen über eine Tonne Futter pro Tag; zusätzliche Ausgaben fallen für medizinische Behandlung, Instandhaltung und Ausbau der Anlage sowie das Personal an. Auch Patenschaften für die dickfelligen Schützlinge (90 Lei/Monat) können übernommen werden, und praktische Unterstützung durch freiwillige Helfer ist ebenfalls gerne gesehen. Weitere Infos erfährt man über die Homepage, www.ampbears.ro, telefonisch unter +4 0268 471202 oder am besten bei einem persönlichen Besuch dieses in Rumänien einzigartigen Projekts – der sich übrigens, soviel sei unbeugsamen Dracula-Fans versichert, prima mit einer Besichtigung der nahegelegenen Törzburg verbinden lässt.