Schluss mit Singen und Gröhlen

Superverbreitung: Ein Phänomen wirft Licht auf die Übertragung von Covid-19

Auf Veranstaltungen mit lauten Stimmäußerungen steigt offenbar die Gefahr, sich mit Covid-19 anzustecken. Foto: Pixabay

10. März 2020, Mount Vernon, Washington. 61 Menschen treffen sich zur Chorprobe. Einer fühlt sich leicht erkältet. Sie desinfizieren sich vorschriftsmäßig die Hände. Es gibt keine Begrüßungsküsschen, keine Handschläge, keine Umarmungen wie sonst. Soziale Distanz wird gewahrt, von 120 aufgestellten Stühlen bleibt mehr als die Hälfte leer. Nach dem Singen wird zwar ein Snack angeboten, doch die meisten gehen lieber gleich nach Hause. Die Angst vor dem neuen Coronavirus sitzt allen schon im Nacken. Zwei Wochen später: 53 Chormitglieder haben sich mit Covid-19 angesteckt, zwei sind daran gestorben. Das Ereignis geht als sogenanntes Superspreading-Event in die Medizingeschichte ein. Ist Covid-19 wirklich so ansteckend?

Die neuesten Studien zeigen etwas anderes – und machen damit Hoffnung: Nicht jeder Infizierte ist hochinfektiös. Die meisten geben die Krankheit kaum oder gar nicht weiter, wird Jamie Lloyd-Smith von der University of California in Los Angeles, Experte für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten, im Artikel von Kai Kupferschmidt im Wissenschaftsmagazin „Science“ zitiert. Nur einige wenige Erkankte verursachen offenbar den Löwenanteil an Sekundärinfektionen. Man nennt sie Superspreader – Superverbreiter. Ein Großteil dieser Superverbreiter ist symp-tomlos, sie wissen selbst gar nicht, dass sie krank sind. Dies ist aber auch das Gefährliche daran: Superverbreiter sind nicht unbedingt in Krankenhäusern isoliert. Sie können uns überall im täglichen Leben begegnen.

Hinzu kommt, dass es bestimmte Umstände gibt, die die Verbreitung von Covid-19 begünstigen. Trifft eine Gruppe von Menschen unter diesen Gegebenheiten auf einen Superspreader, kann ein massiver Ausbruch erfolgen, wie im Falle des Washingtoner Chors. Covid-19 verbreitet sich vor allem in Clustern, zeigen die neuesten Studien. Die meisten Ansteckungen geschehen in geschlossenen Räumen. Doch können Mikro-Aerosole und Luftverschmutzung auch eine Ansteckung im Freien fördern. Wenn es gelingt, das Phänomen des Superspreading besser zu verstehen, können gezielte Maßnahmen getroffen werden, um solche Ereignisse zu vermeiden.

Welche Umstände begünstigen Superspreading?

Februar 2020. Heinsberg im Faschingsfieber. Trotz der bereits anrüchigen Gefahr möchten die Gecken nicht auf ihr alljährliches Treiben verzichten. Die Rechnung wird prompt serviert: Wenig später gehört Heinsberg zu den roten Zonen für Covid-19. In der sogenannten Heinsbergstudie wurden anschließend Superspreading-Cluster von verschiedenen Faschingsveranstaltungen untersucht. In diesen Clustern war nicht nur die Infektionsrate signifikant erhöht, auch die Krankheitsverläufe waren schwerer. Denn beim Singen oder Gröhlen, wie das auf solchen Veranstaltungen üblich ist, weiß man heute, werden wesentlich mehr Tröpfchen und Aerosole freigesetzt, die mit Viren beladen sein können. Wie hoch die Virenlast sein muss, um letztlich eine Infektion auszulösen, ist noch nicht genau bekannt. Doch geht man davon aus, dass eine hohe Belastung die Übertragung wahrscheinlicher macht und auch die Schwere der Krankheit beeinflusst.

Wenn Infizierte laut sprechen, schreien, inbrünstig singen oder sich beim Sport unterhalten, erhöht sich automatisch der Ausstoß an Viren in der Atemluft. Bei schlechter Ventilation können sich diese an einem Ort konzentrieren oder an Staub und Luftverschmutzungs-Partikel gebunden über weite Strecken reisen. Dies sind die Bedingungen, die Superspreading fördern.

Die Ansteckung begünstigt heftiges Atmen, bei der virenbeladene Aerosole tief in die Lunge eingesogen werden. Dies erklärt auch, warum es wesentlich mehr Covid-19-Cluster in rhythmischen Tanzgruppen gibt als beim langsamen Pilates-Training.

Beispiele für Superspreading-Events liefert eine Datenbank der London School of Hygiene and Tropical Medicine: Sie verbindet einen einzigen Ausbruch in einem Schlafsaal von Arbeitsmigranten in Singapur mit fast 800 weiteren Fällen. 80 Fälle lassen sich auf eine Live-Musikveranstaltung in Osaka (Japan) zurückführen. Ein Cluster von 65 Fällen geht auf Zumba-Tanzübungen in Südkorea zurück. Mehrere Cluster betreffen Chorproben: Ein Beispiel ist der Ausbruch in der Berliner Domkantorei nach gemeinsamem Singen am 9. März, bei dem sich 60 Menschen offenbar durch Übertragung mittels Aerosolen ansteckten.

Menschliche Virenschleudern

Virusträger in der symptomlosen Phase sollen für 79 Prozent aller Sekundärinfektionen sorgen, behauptet eine Studie aus Wuhan. Andere Forscher kommen auf ähnliche Zahlen: Christian Drosten, Chef-Virologe der Charité in Berlin, schließt aus seinen Studien, dass 20 Prozent der Infizierten 80 Prozent der Infektionen verursachen, berichtet die Deutsche Welle. Eine Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine kommt auf zehn Prozent Infizierte, die 80 Prozent an Sekundärinfektionen verursachen. Israelische Forscher behaupten, dass ein bis zehn Prozent der Infizierten die Ursache von 80 Prozent Erkrankungen seien. Die israelische Studie, zusammengefasst im Newsletter der Johns Hopkins Universität vom 4. Juni, unterstreicht außerdem die Effizienz der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung.

Wie kommt man auf solche Zahlen? Die letztgenannte Studie basierte auf der Entschlüsselung (Sequenzierung) des Virus-Genoms: 212 SARS-CoV-2 Genome wurden ausgelesen, um die Herkunft und Weitergabe jeder einzelnen Virusgeneration zu verfolgen. Denn bei jedem Reproduktionszyklus passieren kleine Fehler, Mutationen meist unbedeutender Natur, die der neuen Virusgeneration wie kleine Fähnchen anheften. An der Weitergabe dieser „Fähnchen“ und dem Auftreten neuer ebensolcher kann man den Übertragungsweg verfolgen. Dabei wurde in der israelischen Studie beispielsweise erkannt, dass Rückkehrer aus den USA mehr Infektionen auslösten als einreisende infizierte Touristen. Dies bedeutet nicht, dass der aus den USA eingeführte Virus infektiöser ist, sondern verweist auf Superspreading.

Auch wenn es sich meist um vorläufige Ergebnisse aus noch nicht verifizierten Studien handelt, ist man sich über die Existenz des Phänomens Superspreading einig: Wenige Infizierte sind für einen hohen Prozentsatz der Ansteckungen verantwortlich. Warum manche Menschen beim Sprechen oder Atmen mehr Aerosole freisetzen und damit viel mehr Viren verbreiten als andere, oder warum einige über längeren Zeitraum als üblich infektiös sind, mag an Unterschieden im Immunsystem oder der Verteilung der Rezeptoren für den Virus in ihren Körpern liegen. Genaue Ursachen sind noch nicht bekannt.

Unterschätzter Übertragungsweg: Aerosole

Der übliche Übertragungsweg für Covid-19 ist Tröpfcheninfektion durch Husten oder Niesen, oder durch Berührung kontaminierter Oberflächen, wo sich die Tröpfchen abgesetzt haben. Dass auch Aerosole – feinste Tröpfchen, die in der Luft schweben – unter bestimmten Umständen SARS-CoV-2 Viren verbreiten können, wurde lange Zeit unterschätzt. Symptomlose Superverbreiter sollen vor allem beim Infektionsweg über die Luft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Der Atmosphären-Chemiker Kimberly Prather erklärt im Wissenschaftsmagazin „Science“, dass sich virenbeladene Aerosole in Mikrometer-Größe wie Zigarettenrauch ausbreiten können – also so weit, wie man von einem Raucher entfernt sein muss, um den Rauch gerade noch zu riechen. Hinzu kommt, das extrem kleine Aerosole wesentlich schwerere Krankheitsverläufe auslösen, weil sie direkt in die Lunge gelangen und damit den Immunschutz der oberen Luftwege umgehen. Die von der WHO empfohlenen Regeln für soziale Distanzierung seien nicht ausreichend, weil sie auf Studien mit größeren Aerosoltröpfchen basieren, schließt daraus Prather. Als Ergebnis der Studie wird allgemeine Maskenpflicht auch für den Aufenthalt im Freien empfohlen.

Auch warum symptomlose Superverbreiter bei der Weitergabe von Covid-19 generell eine große Rolle spielen, wird in der Studie erklärt. Es liegt an der schnellen Reproduktionsrate des Virus: SARS-CoV-2 vermehrt sich dreimal so schnell wie SARS-CoV-1 (der Auslöser von SARS) und kann bereits vom Nasen-Rachenraum in den Kehlkopf absteigen, noch bevor eine Immunreaktion einsetzt und Krankheitssymptome hervorruft.

Trügerische Reproduktionszahl

Jamie Lloyd-Smith meint, Superspreading-Events seien derzeit noch unzureichend verstanden und außerdem schwer zu untersuchen. Bisher ging man davon aus, die Reproduktionszahl (R) läge im Falle von Covid-19 ohne getroffene Maßnahmen bei 3 – das bedeutet, ein Infizierter steckt im Schnitt weitere drei Menschen an. Soziale Distanzierung und andere Maßnahmen können die Rate drastisch senken.

Doch im wirklichen Leben, meint Lloyd-Smith, infizieren nur wenige Leute viele – und viele gar niemanden. „Das durchgehende Muster ist, dass die allgemeine Reproduktionszahl bei Null liegt“, wird der Forscher im Artikel von Kai Kupferschmidt zitiert. Kupferschmidt beleuchtet auch die Frage, warum der Virus sich nicht schon früher auf der ganzen Welt verbreitet hat, nachdem er in China aufgetaucht war. Oder, warum sehr frühe Fälle – wie der im späten Dezember 2019 in Frankreich aufgetretene – zu keinem größeren Ausbruch geführt haben. Wenn tatsächlich nur 10 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Fälle verantwortlich sind, sterben die meisten Infektionsketten ganz von alleine aus. Die Mathematik zeigt: Es bräuchte im Schnitt vier unerkannte Fälle in einem Land, bis ein größerer Ausbruch erfolgt. „Wenn die chinesische Epidemie ein Großfeuer war, das Funken über die ganze Welt verbreitete, so verzischten die meisten davon einfach“, illustriert der Autor.

Gezieltere Maßnahmen möglich

Wenn sich der Virus in Clustern verbreitet, ist es wichtig, die auslösenden Ereignisse im Nachhinein zu identifizieren und alle, die daran beteiligt waren, sofort zu isolieren. Dann sollten deren Kontaktpersonen getestet werden. Japan nutzte diese Methode, um die Verbreitung von Covid-19 zu stoppen, ohne das ganze Land im Lockdown zu lähmen.

Eine Möglichkeit wäre auch, bestimmte Versammlungen weiterhin zu verbieten, vor allem solche mit lauten Stimmäußerungen und in geschlossenen Räumen – Chorproben, Sportveranstaltungen, Kneipen und Bierzelte, Partys, Karaokebars. Dass es dabei nicht auf die Größe ankommt, zeigt eine Studie des Centers for Disease Control and Prevention (USA), veröffentlicht am 19. Mai auf newsatlas.com. Viele Cluster traten auf Versammlungen mit wenigen Teilnehmern auf: kirchliche Veranstaltungen in kleinen Gemeinden, Geburtstagsfeiern, Tanzgruppen. Ein Superspreading-Ereignis war an eine Gruppe von zehn Familienmitgliedern geknüpft, die an einem Begräbnis und an einer Geburtstagsfeier im engen Kreis teilgenommen hatten, ohne auf soziale Distanz zu achten.

Eine japanische Studie verbindet Hunderte untersuchte Cluster mit Situationen in geschlossenen Räumen, nur einer ließ sich eindeutig auf Aktivitäten im Freien zurückführen. Daraus könnte man folgern, dass Versammlungen an der frischen Luft weniger gefährlich sind und eher erlaubt werden könnten.

Im Hinblick auf die Öffnung von Schulen und Kindergärten wurde die Frage laut, ob Kinder bei der Verbreitung eine Rolle spielen könnten, wie dies bei Grippe der Fall ist, vielleicht sogar als Superverbreiter. Eine Studie des Netherland National Institute for Health (RIVM), publiziert am 3. Juni, legt nahe, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall sei. In den untersuchten 54 Familien mit 227 Personen verlief der Übertragungsweg in der Regel von Erwachsenen auf Kinder oder andere Erwachsene, selten umgekehrt. Kinder unter zwölf Jahren spielen wahrscheinlich keine signifikante Rolle bei der Verbreitung von Covid-19, hieß es als Schlussfolgerung. Kritisiert wird an der Studie, dass die untersuchten Personen nicht repräsentativ für die Bevölkerung seien.

Superspreader können in exponierten Situationen besonders großen Schaden anrichten – etwa als Flugbegleiter, die zahlreiche Flüge absolvieren, bis eventuell Symptome ausbrechen. Für solche Personen macht es Sinn, die Schutzmaßnahmen zu verstärken: regelmäßiges Testen, Maskenpflicht, Gesichtsschutzschirm.

Ein besseres Verständnis von Superspreading kann Behörden und Unternehmen helfen, konkrete, an das Profil jedes Tätigkeitsbereichs angepasste Schutzmaßnahmen zu treffen und Risikopersonen zielgenauer zu testen. Für den einzelnen Menschen ergibt sich als Konsequenz: laute Versammlungen meiden, weniger streiten oder schreien. Fröhliches Pfeifen und Singen? Vorerst lieber nur im eigenen Badezimmer!