Schule schwänzen auf dem Dorf

Rumänien – Auf den Spuren der großen Bildungsdefizite auf dem flachen Land

Die Perjamoscher Caritas-Einrichtung zur Förderung von Schulkindern ist gut besucht.

Fotos: der Verfasser

Rumänien gehört zwar seit 2007 der Europäischen Union an, doch auf dem flachen Land herrschen mancherorts, was die Schulbildung angeht, eher mittelalterliche Zustände – und das liegt nicht daran, dass es dort keine Schulen gibt.

Vielmehr kommen viele Kinder aus armen Familien, häufig auch aus Roma-Siedlungen, erst gar nicht in den Unterricht: Zehn Prozent aller Kinder auf den Dörfern bleiben der Schule dauerhaft fern, 37 Prozent schwänzen regelmäßig die Schule – weil sie zuhause mithelfen müssen, auch einfach mal als Tagelöhner. Und/oder weil die Eltern einfach gar nicht wissen, wie wichtig Bildung für ihre Kinder ist. Ein Viertel der Kinder bekommt keinerlei Unterstützung bei den Hausaufgaben. Und etwa jedes dritte rumänische Schulkind auf dem Land wird zuhause (nicht nur auf dem Land) regelmäßig geschlagen. So steht es in einer Studie, die die Organisation „World Vision Romania“ erhoben hat. Befragt wurden im Zuge der Erhebung 4000 Eltern, Jugendliche und Kinder im Vorschulalter – Grund genug, sich einmal in einer rumänischen Landgemeinde umzuhören.

Leuchtende Kinderaugen – im „Centru de zi pentru copiii romi Periam“, im „Tageszentrum für Roma-Kinder“ in der großen Landgemeinde Perjamosch (Periam) im Westen Rumäniens. Auf einer Bank sitzt die achtjährige Natascha, die nach den „Temele“, den Hausaufgaben, mit Buntstiften in einem Buch Tierzeichnungen farbig ausmalen darf.

„Wir lernen hier richtig lesen, dürfen jetzt Bilder farbig ausmalen – und dann geht’s in den Hof, aufs Trampolin“ – Alltag im von der Banater Caritas „Sankt Gerhardus“ eingerichteten Tageszentrum, in dem seit 2008 eine Art ‚Hausaufgabenhilfe‘ für Kinder aus sozial benachteiligten Familien angeboten wird, warmes Mittagessen inklusive.

„Das, was wir hier machen, ist wirklich sehr, sehr wichtig für die Kinder: Häufig kommen sie im Unterricht nicht richtig mit. Wir setzen uns mit den Kindern an einen Tisch, fragen sie: Was hat der Lehrer denn heute so gesagt? Dann gehen wir das mit ihnen nochmals durch. Weil: Bei den Kindern zuhause – da fragt keiner nach einem Schultag danach, wie’s heute in der Schule war.“
Ramona Marichici unterrichtet vormittags in der Grundschule von Perjamosch – und arbeitet nachmittags im Tageszentrum. Die rund 40 Kinder aus der Gemeinde, die dort Tag für Tag zusammenkommen, stammen größtenteils aus Roma-Familien. Zunehmend aber auch aus anderen, meist bitterarmen, ebenso marginalisierten Familien. Und dort ist häufig kein Geld übrig für all das, was die Kinder in der Schule brauchen. Auch nicht fürs Allernötigste: ein paar Hefte, Schreibzeug, Kleidung und Ähnliches.

„Zumeist war es früher so, dass die Eltern und Großeltern in den Großfamilien nicht lesen und schreiben konnten, keine Schulausbildung hatten. Mit allen sozialen Folgen für diese Familien, in erster Linie fehlender oder extrem mangelhafter Berufsausbildung. Und so konnten sie ihren Kindern auch nicht helfen in der Schule, bei den Hausausgaben. Deswegen haben sie ihre Kinder nicht in die Schule geschickt. Oder wenn doch, dann die Kinder mit ihren Hausaufgaben allein gelassen.“

Erklärt Herbert Grün vom Caritasverband „Sankt Gerhardus“ im westrumänischen Temeswar; der Verband finanziert seit 2008 die von uns besuchte Hausaufgabenhilfe in Perjamosch – eine Unterstützung, sagt Grün, die benachteiligte Kinder trotz aller Hürden für den Schulbesuch motiviert. Denn: „Wenn die Kinder von zuhause keine Hilfe haben, sind sie in der Schule immer wieder verstoßen, kommen auf den letzten Platz, werden in die letzte Bank gesetzt, sie haben dann auch keine Ambitionen, dass sie über-haupt noch weiter lernen, in die Schule gehen. Wir sehen unsere Rolle durch solche Einrichtungen auch in der Bildungsmotivation.“

„Wir sind kreativ. Wir sind ein Team.“ Liviu, neun Jahre alt, liest das ab, was auf den Wänden im Klassenraum des Tageszentrums steht. Er besucht die Grundschule. Und später, nach der vierten Klasse? „Ich kann nur sagen: Aus den Statistiken geht hervor, dass es viele Kinder gibt, die keine weiterführende Schulen, auch nicht die Pflichtschule bis zu Ende, besuchen, und zuhause mitarbeiten müssen mit den Eltern auf dem Feld oder wo die sonstwo ihrer Arbeit nachgehen. Vor allem auf dem Land geschieht das.“

Für Ovidiu Victor Gan], früher selbst Schulleiter der Temeswarer deutschen „Nikolaus Lenau“-Schule und heute Parlamentsabgeordneter der rumäniendeutschen Minderheit, ist das ein Problem: Viele talentierte Schülerinnen und Schüler können sich nicht entwickeln, weil zuhause das Geld fehlt – und in vielen Fällen auch das Verständnis der Eltern: „Es gibt leider auch Eltern, die meinen, dass Schule nicht so wichtig ist. Es wäre auch die Aufgabe der Gesellschaft allgemein – Rathäuser, Bürgermeister der Kommunen, Gemeinderäte – die Familien zu besuchen und  ihnen dieses Defizit bewusst zu machen. Und es gibt auch gewisse Situationen, wo man tatsächlich kontrollieren und durchgreifen, ja bestrafen sollte, die Eltern – weil die Vernachlässigung der schulischen Ausbildung einfach unfair ist gegenüber den Kindern, die ja dabei überhaupt kein Mitspracherecht haben.“