Selber lesen lohnt sich auf jeden Fall

„Psychologische Assoziations- und Interpretationstests zeigen [...], dass es bei neuartigen und ungewöhnlichen Metaphern zu beträchtlichen Assoziations- und Interpretationsunterschieden kommt, die sich nicht aus unterschiedlichen Denkmustern, sondern vielmehr aus unterschiedlichen Kontexten, Erlebnissen und kognitiven Fähigkeiten erklären.“ Das sagt Friedman Apel in seinem Essay „Wahrheit und Eigensinn – Herta Müllers Poetik der einen Welt“. (TEXT + KRITIK, Nr. 155, 2002)

Wie war das doch damals mit dem „schwäbischen Bad“? Ein Aufruhr in der winzigen Anzahl von NBZ-Kulturseite-Lesern! Die meisten der ohnehin nicht großen und 1982 schon dezimierten Gemeinschaft der Banater Schwaben wussten eh nicht, um was es da ging. Aber aufgeregt haben sich viele, wenn sie „Das schwäbische Bad“ auch nie gelesen hatten. Der Umgang mit Metaphern ist nun mal nicht jedermanns Sache. Wer sich alles aufgeregt hat? Ich hebe den Finger, und das ohne heuchlerische Reue oder gar Scham. Die Umstände beeinflussen unsere Wahrnehmungen in doch erheblichem Maße. Und diese „Kontexte“ waren damals eben andere als heute. Das hat Friedman Apel schon richtig erkannt. Mir wird das erst jetzt so richtig bewusst, wenn ich Herta Müllers „Niederungen“ in der Neufassung des Carl Hanser Verlags nach genüsslicher Lektüre aus der Hand lege.

Jawohl, genüsslich! Die Bitterkeit jener Jahre ist doch längst einer, wahrscheinlich altersbedingten, Gelassenheit gewichen. Und die Nudeln? Die wurden damals abgeschöpft, abgelassen oder einfach ausgeschüttet – falls es sich um eine jener „Blechmoltern“ handelte, die in so manchem Banater Haushalt zum Inventar gehörte.

Dazu kommt natürlich auch, dass in diesem Erzählband noch viele andere böse, aber auch durchaus lustige Geschichten zum Besten gegeben werden; natürlich in der mit so hohem Erkennungswert gesegneten Sprache Herta Müllers, die sie bis heute beibehalten hat und von der selbst die Nobelpreis-Juroren beeindruckt waren. Wer zum Beispiel da nicht schmunzelt, dem ist bereits jegliche Phantasie abhanden gekommen: „Das Rad rollte zum Gassentor hinaus, der Tierarzt warf sich von der Seite drauf und fuhr sehr bucklig davon. Sein Hintern hing zu beiden Seiten vom Sitz herab, wie Großmutters Teig, der über den Rand quillt beim Brotbacken.“ Auch das gibt’s in den „Niederungen“, der längsten Erzählung dieses Bandes.
Ansonsten? Ja, halt viel, viel wirkliches Leben. Wenn also der Vater mit der Tante... Woher nur diese Aufregung? Das gab’s bestimmt nicht nur in Nitzkydorf – „Faule Birnen“.

„Assoziations- und Interpretationsunterschiede“ sind natürlich auch die Erklärung für grundverschiedene Erinnerungsbilder, die eine Lektüre wie die der „Niederungen“ hervorrufen kann. Die Anzahl dieser Kopfbilder ist mit Sicherheit gleich mit der Leserzahl. Wo es da beispielsweise heißt, „sie ziehen wie Scharen schwarzer Vögel in das Haus, in dem der Nachtwächter wohnt, zertrampeln den Hof, gehen an der offenen Sommerküchentür vorbei und sehen noch den Rest des Strickes dort am Balken hängen“, fällt mir doch spontan der Spucksepp ein, der die Kühe hütete und mich Naţionale und Mărăşeşti rauchen lernte in der berühmt berüchtigten Erdhütte auf der Dorfweide. Zogen sie ihn nicht eines Tages aus dem Brunnen eines Nachbarhauses und sezierten seinen aufgedunsenen Körper im Hof? Oder so ähnlich. Assoziationen und Interpretationen eben.

19 Texte beinhaltet dieser Prosaband. Der verrückteste? Vielleicht „Arbeitstag“, im Stile eines fränkischen Scherzliedes aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dort heißt es: „Wie sind mir meine Stiefel geschwoll’n, / so dass sie nicht in die Füße nein woll’n! // Ich nahm die Stiefel und schmierte den Speck, / ich schlug die Eier wohl über den Dreck.“ Bei Herta Müller klingt das so: „Ich stehe auf, ziehe mein Kleid aus, lege es aufs Kissen, ziehe meinen Pyjama an, gehe in die Küche, steige in die Badewanne, nehme das Handtuch, wasche damit mein Gesicht, ...“ usw. Selber weiterlesen lohnt sich auf jeden Fall.

Herta Müller: Niederungen - Prosa; Carl Hanser Verlag, München 2010; ISBN 978-3-446-23524-3; 175 Seiten, 16,90 Euro