Später als fünf vor zwölf!

Klimawandel: Wissenschaftler sind sich längst einig – doch der Kampf gegen die Ignoranz ist hart

Kevin Anderson gilt als einer der führenden Klimaexperten.
Foto: www.kevinanderson.info

Die einen denken: Ist ja doch nur Panikmache! Die anderen stecken den Kopf in den Sand: So schlimm wird’s schon nicht kommen. In einem Zeitalter, wo man Weltraumstationen betreibt und die Besiedlung des Mars plant, wird man wohl auch auf ein paar Grad Erderwärmung eine passende Antwort finden. Oder zumindest einen High-Tech-Schlupfwinkel, der uns das Überleben sichert. Uns... Aber wer sind wir? Die zivilisierten Industrieländer mit dem viel zu großen Kohlenstoff-Fußabdruck, sprich: die größten CO2-Emittenten. Die Atmosphärenferkel, deren Maßlosigkeit zum Himmel stinkt. Und damit die Auslöser eines Problems, das die gesamte Menschheit in ihrer Existenz akut bedroht. So akut, dass man den ungeschönten Worten der Wissenschaftler nur ungern Glauben schenkt. So akut, dass es noch keine Policy und keine Vorreiter gibt, die mit Lösungsthesen in der Hand als Retter lächelnd die Weltbühne erklimmen. Die Wahl lautet: Peinlich berührt schweigen und weitermachen wie bisher, dem sicheren Untergang entgegen – oder das Ruder endlich scharf herumreißen!

Eine der Stimmen, die zu letzterem drängen, ist Kevin Anderson, Universitätsprofessor in Manchester, Vizepräsident des Tyndall Centre für Klimaveränderung, wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung und einer der führenden Klimaexperten. Am 21. Oktober hielt er auf Einladung der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in Bukarest einen Vortrag im Rahmen der Reihe „Nachhaltiges Rumänien“.  „Es gibt überwältigende Beweise für eine globale Klimaerwärmung und ihre katastrophalen Folgen“, führt FES-Leiter Matthias Jobelius in das Thema ein. Auch in Rumänien sind erste Anzeichen erkennbar: heißere Sommer, weniger Schnee in den Bergen, mehr Überschwemmungen und Erdrutsche. In Zukunft müssen auch wir mit Wasserknappheit und Ernteausfällen rechnen. Längst ist klar, dass die Entwicklung gestoppt werden muss, nur das „wie“ ist hart umstritten. Längst ziehen Klimaexperten an einem Strang und drängen: Das Zeitfenster, das uns noch bleibt, schließt sich immer schneller!

„Wir müssen ehrlicher zu uns sein, um zu sehen, wo wir stehen – und das ist kein Platz, wo man gerne sein möchte“, warnt Anderson. Die Forschungsberichte zeigen: Es gibt kein bisschen Trost für die Anhänger der fossilen Brennstoffwelt. Mittlerweile ist klar, dass Kohlendioxid (CO2) für die Erderwärmung hauptverantwortlich ist. Trotzdem hat sich seit den ersten Warnungen 1990 fast nichts verändert. Dieses Jahr wird der CO2-Ausstoß sogar um 60 Prozent höher sein als zum Zeitpunkt der ersten Klimadiskussionen, illustriert er anhand einer Grafik: „Der derzeitige CO2-Ausstoß in die Atmosphäre ist höher als in den letzten 800.000 Jahren zusammen!“

Es geht schneller  als erwartet

Erderwärmung. Eigentlich klingt es gar nicht so schlimm. Die Sommer werden heißer, die Winter milder, und wen stört es, wenn das Mittelmeer bald bis zu den Alpen reicht, mag man denken. Die Zukunft, die uns die Forscher vor Augen halten, sieht weniger rosig aus. Seit der vorindustriellen Zeit hat sich die Erde bereits um ein Grad Celsius erwärmt. In den politischen Klimadiskussionen hatte man sich daher – zumindest als theoretisches Ziel – vorgenommen, durch Reduzierung des CO2-Ausstoßes darauf hinzuwirken, dass die Erderwärmung zwei Grad nicht übersteigt. Ein 2°C-Szenario scheint, obwohl bereits mit spürbaren Folgen, erträglich und bewältigbar. Tatsächlich musste man jedoch mit Schrecken erkennen, dass die für das 2°C-Szenario erwarteten Folgen bereits bei einem Grad Erwärmung eingetreten sind! Die Erde reagierte schneller, als die Modelle vorhersagten. Zwar ist das 2°C-Limit nun immer noch das Ziel, doch die Folgen dieser Erwärmung werden schlimmer sein als ursprünglich erwartet. Hinzu kommt, dass ziemlich radikale Maßnahmen erforderlich sind, um dieses Ziel überhaupt noch zu erreichen.

„Warum also nicht einfach auf das nächste Etappenziel hinarbeiten, eine 4°C-Erwärmung?“, fragt Anderson und erklärt, wie ein 4°C-Szenario aussähe: Die heißesten Tage des Jahres werden in Europa um 8°C heißer sein, in China um 6°C und in Nordamerika um 10-12°C. Bei solchen Spitzen lässt die Isolationswirkung der Erde auf Erdkabel stark nach. Strombrücken funktionieren nicht mehr, Stromkreise brechen zusammen. „Man muss sich nur vorstellen, was geschieht, wenn in einer Millionenstadt für ein paar Tage die Kühlschränke und Klimaanlagen ausfallen.“ Das Meeresniveau steigt um 50 bis 200 Zentimeter und überschwemmt tiefliegende Gebiete. Die dadurch ausgelösten Migrationswellen werden die derzeitige Flüchtlingskrise um ein Vielfaches übertreffen und Unruhen auslösen. Mit weltweiten Ernteausfällen ist zu rechnen: 40 Prozent weniger Mais, Getreide etc. Hinzu kommt Wasserknappheit, vor allem in Europa, und ein noch nicht abzusehendes, breites Artensterben in Fauna und Flora. Ein paar Reiche werden überleben, doch in armen Ländern werden massen-weise Menschen sterben. Ein 4°C-Szenario ist unvorstellbar, weil es unvereinbar mit einer organisierten Gesellschaft ist, folgert Anderson.

Hinzu kommt, dass sich die Wahrscheinlichkeit der sogenannten „tipping points“ stark erhöht, bei denen das Klima unter Umständen irreversibel in Richtung Eiszeit umkippt: Polschmelze, Versauerung der Meere, Freisetzung der im Ozean oder der Tundra eingefrorenen Methangase, etc. „Wir können nicht genau vorhersagen, wann diese erreicht sind“, räumt der Wissenschaftler ein. „Daher hilft nur, die Temperatur so niedrig wie möglich zu halten. Eine 4°C wärmere Erde muss um jeden Preis verhindert werden!“ Doch nun die wirklich schlechte Nachricht: Wenn der derzeitige CO2-Ausstoß beibehalten wird, steuern wir geradewegs auf eine 6°C-Erwärmung zu! Mit katastrophalen Folgen für die Menschheit (Fatih Birol, Leiter der International Energy Agency).

Schnell weg von fossilen Brennstoffen

Die Dramatik der Bedrohung ist den Politikern bekannt. Was hindert sie dann an umgehenden Gegenmaßnahmen? Zum einen ist es die Infrastruktur, erklärt Anderson. Wir bauen immer noch auf Kohlenstoffbasis: Kraftwerke, Flugzeuge, Schiffe, Autos, energiekonsumierende Häuser, mit einer gewissen Lebensdauer. Eine Umstellung auf kohlenstofffreie Kernenergie wäre auch keine Lösung: Um den derzeitigen Bedarf aufzufangen, bräuchte man in den nächsten 20 Jahren 2500 neue, große Kernkraftwerke. Die einzige Lösung lautet, den Energiekonsum sofort dramatisch herunterzuschrauben! Die CO2-Emissionen müssten, um das 2°C-Szenario noch zu erreichen, ab sofort um 10 Prozent pro Jahr reduziert werden – also um 40 Prozent bis 2018 und um 90 Prozent bis 2030. Erforderlich ist eine radikale Umstellung auf erneuerbare Energien – weg von fossilen Brennstoffen, weg von allem, was CO2 produziert.

„Wir stehen vor einem weißen Blatt“

Doch das Umdenken muss noch weiter reichen: weg vom Wachstumsdenken, auf das die Wirtschaftsexperten so fixiert sind. „Die Wirtschaftsmodelle, die diese Welt steuern, haben allesamt versagt – und dies nicht wegen den Umweltauflagen“ kritisiert Anderson. „Der Fehler ist systemisch: Selbstregulierende Märkte haben sich nicht reguliert.“ Trotz Wirtschaftskrisen hat sich der CO2-Ausstoß stetig um zwei bis drei Prozent pro Jahr erhöht. Wenn das so weitergeht, sind wir bis 2030 bei 75 Milliarden Tonnen pro Jahr (Vergleich: 1980: 20 Mrd., 2007: 30 Mrd., 2012: über 35 Mrd.). „Wir müssen umdenken und völlig neu anfangen – und dies mit Instrumenten, die wir nicht kennen. Wir stehen vor einem weißen Blatt!“  Wir müssen uns aber auch trennen vom derzeitigen Verständnis von Freizügigkeit und Handelsfreiheit, womit wir den Grundfesten der EU gefährlich nahe treten: Jeder Transport geht auf Kosten der Umwelt. Brauchen wir in Rumänien Milch aus Ungarn, Bohnen aus Äthiopien? Müssen Mineralwässer kreuz und quer durch Europa gefahren werden, das eine hin, das andere her? Müssen Studenten wirklich um jeden Preis international in ihrer Ausbildung sein? Fahren und Fliegen leisten einen wesentlichen Beitrag zum CO2-Fußabdruck, erklärt Anderson und amüsiert mit einem gar nicht so seltenen Negativbeispiel: Eine Studentin aus Russland heiratete in Manchester einen in Melbourne studierenden Australier; Besuche hin und her, Hochzeitsgäste aus aller Welt. Anderson bemerkt dazu trocken: „Sie hatten einen CO2-Fußabdruck wie ein kleines afrikanisches Land!“

Wer sind die CO2-Rowdys?

Die Antwort ist mehr als unbequem: Sie und ich. Sind wir doch Teil des unglückseligen Kreises, der auf Kosten armer Länder das Weltklima bedroht. Denn Rumänien, wenn auch oft Schlusslicht in der EU, zählt, was den CO2-Ausstoß betrifft, auf jeden Fall zu den reichen Ländern. Auf die Frage, wer denn bereits zu große Kohlenstoff-Fußabdrücke produziert, antwortet Anderson: „Jeder, der zum Beispiel ein-zwei Flugreisen pro Jahr unternimmt. Es ist nicht eine Frage der Größe der Bevölkerung, sondern des Konsumverhaltens.“
Die 80-20 Regel von Pareto, ansonsten auf die Verteilung von Reichtum angewandt, funktioniert auch zu diesem Problem: 80 Prozent der CO2-Emissionen kommen von ca. 20 Prozent der Weltbevölkerung. „Wendet man die Regel dreimal an, dann kommen 50 Prozent Emissionen von nur einem Prozent der Bevölkerung“, verdeutlicht Anderson. Die Zahlen der Wissenschaftler bestätigen das Rechenexempel: 40-60 Prozent der CO2-Emissionen gehen auf nur 1-5 Prozent der Bevölkerung zurück. Im weltweiten Vergleich ist es eine ganz kleine Schicht, die die Zukunft der Menschheit bedroht. Von einer Steuerung des Konsumverhaltens über Umweltsteuern oder Preiserhöhung für Energie und Treibstoff hält er allerdings nichts: „Denn der Reiche konsumiert weiter, auch wenn es teurer wird, doch die Armen trifft ein kaltes Haus bitter!“ Daher muss die Umstellung von den Reichen ausgehen, meint Anderson und fügt trocken hinzu: „Wir haben gar nicht so viel Zeit, dass die Armen inzwischen reich werden könnten.“

Kopf in den Sand – typisch für  Wohlstandsländer

Seit die ersten Warnungen zum Klimawandel aufkamen, gab es enorm viele Skeptiker. Leider ist die Ignoranz bis heute hoch, obwohl sich die Wissenschaftler längst einig sind. Vogel-Strauß-Taktik nennt Anderson dieses Verhalten, typisch für Wohlstandsländer. Zwar denken mittlerweile in Großbritannien 75 Prozent der Menschen, Klimawandel sei ein ernstes Problem – doch viele meinen auch, die Technologie werde uns schon einen Ausweg liefern. In den ehemaligen Ostblockstaaten ist die Skepsis noch größer, Klimawarnungen und Mahnungen zum Energieverbrauch werden dort gern als „linke Propaganda“ abgetan.  „Welche Strategie ist Ihrer Erfahrung nach am wirksamsten, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen?“ wird der Vortragende aus dem Publikum gefragt. Die Aufgabe der Wissenschaftler sei nicht, zu überzeugen, erwidert dieser, sondern offen und direkt über die Lage aufzuklären, egal wie unangenehm sie sich darstellt. „Die Message an den Mann zu bringen ist Sache von Politikern, NGOs oder demokratischen Strukturen, vielleicht auch von Schriftstellern, oder – warum nicht – Sängern.“ Freilich seien hierbei die Verquickungen von Politikern mit der Fossilbrennstofflobby, wie in den USA gang und gäbe, wenig hilfreich. „Bleibt uns Zeit, auf demokratischem Wege Maßnahmen zu ergreifen?“ oder „Welche Rolle kann Erziehung in Kindergärten und Schulen spielen?“, sind typische Fragen der Teilnehmer. „Erziehung, ja!“ meint der Experte. Doch dann fügt er mit Nachdruck hinzu: „Aber nicht für die Kinder – dafür bleibt uns keine Zeit. Die Erwachsenen muss man überzeugen!“

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Fakten zum Nachdenken

- Autos: 12-15 Prozent der CO2-Emissionen gehen auf Autoabgase zurück. Wenn ab 2016 alle Autos weniger als 100g CO2/km ausstoßen würden (es gibt laut Anderson ca. 270 erhältliche Modelle, die dies tun), hätte man 50-70 Prozent Reduzierung ohne jede Änderung. Auch der Fahrstil beeinflusst den CO2-Ausstoß stark: schnelles Fahren – höhere Emissionen.
- Zugfahren ist wesentlich umweltfreundlicher als Fliegen und Autofahren.
- Kühlschränke: Ein Kühlschrank der Klasse A++ braucht 80 Prozent weniger Energie als einer der Klasse A. Würden alle A-Kühlschränke durch A++ ersetzt, würden 60 Prozent der durch Kühlschränke verursachten CO2-Emissionen eingespart.
- Fliegen: Kondensstreifen sind extrem klimaschädlich, entstehen aber nur in großer Höhe. Flugzeuge niedriger fliegen zu lassen brächte einen signifikanten Kurzzeiteffekt.
- Fleisch: Ein wesentlicher Produzent von Treibhausgasen ist die Zucht von Tieren mit rotem Fleisch. Besser wäre es, kein oder selten Fleisch zu essen bzw. auf Geflügel umzustellen.
- „Warum ich?“: Viele Tropfen ergeben einen Ozean – jeder Beitrag zählt! Je mehr Menschen sich zum Energiesparen bekennen, trotz des weitgehend „ignoranten Umfeldes“ ringsum, desto schneller wird es eine kritische Masse an Menschen geben, die Gleichgesinnte anzieht, Vorbildfunktion einnimmt und deren Verhalten auf einmal selbstverständlich wird.

Mehr Info zum Thema Klimawandel unter: www.kevinanderson.info