Spuren aus einer für immer verlorenen Welt

Dokumentarfilm über jüdische Friedhöfe und Synagogen in der Moldau

Der Tempel der Getreidehändler in Bacău besticht mit üppigen Wandmalereien

Synagoge in Suceava

Die Synagoge in Fălticeni Fotos (3): George Dumitriu

Der Film der Kulturstiftung Art Promo wurde im Rahmen des Programms zur Monitorisierung des Kulturerbes der Minderheiten im Nationalen Geschichtsmuseum gezeigt, erklärt Museumsdirektor Ernest Oberländer-Târnoveanu. Er knüpft damit an die Wanderausstellung über jüdisches Kulturerbe an, die im November 2017 im orthodoxen Patriarchenpalast eröffnet wurde und Anfang 2018 auch im Geschichtsmuseum gastierte (ADZ-Online 21.11.2017: „Jüdisches Kulturerbe im Patriarchenpalast“).

Langsam gleitet die Drohne über dem grauen Band der Straße dahin, die das weite Land der rumänischen Moldau durchschneidet. Darunter entfalten sich Felder. Häuser drängen sich zu Dörfern zusammen. Miniaturfahrzeuge streben wie emsige Ameisen in beide Richtungen. Über einem grünen Viereck mit grauen Blöcken, die sich wie Zähne in einem maroden Gebiss in verschiedene Richtungen neigen, hält die fliegende Kamera inne, senkt ihren Blick, steigt hinab. Die Steine zeigen erst Kontur, dann Struktur, schließlich Inschriften und Symbole: der Davidstern, die zum Dreieck geformten Hände… 

Jüdische Grabsteine sind stets aus Stein, gedacht für die Ewigkeit. Fast eine Ewigkeit ist schon vergangen, seit archäologische Funde die Anwesenheit von Juden im heutigen Rumänien dokumentierten. Vereinzelt gab es sie bereits zur Zeit der Daker und Römer. Aus dem Mittelalter verweisen Dokumente auf jüdische Kolonien: Aschkenasen, die Einwanderer aus dem deutschsprachigen Gebiet Europas, die sich vor allem im Norden des Landes niederließen, um Handel mit Polen zu treiben, und Sepharden aus Spanien und dem Osmanischen Reich, die die kommerziellen Routen im Süden bedienten. 

In der Zwischenkriegszeit machten Juden nahezu vier Prozent der Bevölkerung Großrumäniens aus, erzählt die sonore Stimme von Dan Schlanger, dem Leiter des jüdischen Filmfestivals, im Dokumentarfilm „Itinerarii Evreiești în România“ (jüdische Reisen in Rumänien), der am 17. Dezember 2019 in der Schatzkammer des Nationalen Geschichtsmuseums im Beisein von Museumsdirektor Ernest Oberländer-Târnoveanu, dem Präsidenten der Föderation der jüdischen Gemeinschaften, Dr. Aurel Vainer, den Vertretern des Departements für Interethnische Beziehungen an der rumänischen Regierung, Enikö Lazciko und Aledin Amet, und den Machern des Films, Arpad Harangozo, Marian Ivan, Ionela Andreescu, Bogdan Chirițescu  und Raluca M˛nescu präsentiert wurde. Leicht irreführend ist der Titel: Die gezeigten Synagogen und Friedhöfe liegen alle in der Moldau, einige davon  verfallen und schwer zu finden. In touristischen Routen kommen sie  bisher so gut wie nicht vor.

Der Film versucht vielmehr, anhand dieser wenigen Spuren eine für immer verlorene Welt nachzuzeichnen. Verloren - aber nicht vergessen. Zwar lebt heute in vielen früheren Zentren rabbinischer Geistlichkeit, die berühmte Persönlichkeiten wie Yitzchok und Avrohom Friedmann hervorgebracht haben, kein einziger Jude mehr. Doch zur Ruhestätte von Yitzchok Friedmann, dem Begründer des streng orthodoxen Chassidismus in Buhuși, pilgern alle fünf Jahre zwischen 300 und 400 Rabbiner aus aller Welt. 
Nicht nur Juden in ganz Osteuropa, auch rumänische Christen  erinnern sich an den Ruf des wundertätigen Rabbis Avrohom Friedmann aus Stefănești, „der Moloch“ (Engel) genannt, der Menschen, egal welchen Glaubens, geheilt und geholfen haben soll. Auf seinem Grab hinterlassen sie bis heute anrührende Fürbitten.

Haus des Lebens

„Beit chaim“ – Haus des Lebens, so nennt man jüdische Friedhöfe auf Hebräisch. Der älteste Osteuropas, seit 1510 dokumentiert, liegt auf zwei Hügeln in Sereth/Siret. Einer war einst der Verteidigungswall der Stadt. Von einer Steinmauer umgeben, wirkt er wie eine Festung. Viele Grabsteine sind inzwischen verschwunden, von der Erde verschluckt oder gestohlen. Ihre Inschriften in Hebräisch nennen Daten, aber  auch Berufe, Eltern und Ehegatten. Typische Symbole – Löwe, Taube, doppelköpfiger Adler, Wasserkrug, Krone, Buch, Menorah, Baldachin, Greifvogel oder Einhorn - verraten etwas über den Verstorbenen: Ein Buch ziert das Grab eines belesenen Juden, die Tora-Rolle das eines Gläubigen, der Wasserkrug verweist auf einen Nachkommen des Stammes Levi, der Löwe auf einen des Stammes Juda, er kann aber auch für Stärke oder die Vornamen Leon, Arie oder Leib stehen, die alle Löwe bedeuten. Der Hirsch als chassidisches Auferstehungssymbol verweist auch auf den männlichen Vornamen Hirsch. Ein typisches Symbol, das man auf Friedhöfen in ganz Zentral- und Osteuropa findet, ist die ausgestreckte Hand, die einen Baum hält: die Hand Gottes, der Baum des Lebens.  Größe und Material des Grabsteins verweisen auf den gesellschaftlichen Status. Ein Häuschen schützt nur das Grab eines Rabbiners. 

Eine Besonderheit, die es ausschließlich in der Moldau gibt, finden wir auf den jüdischen Friedhöfen von Kimpo-lung/Câmpulung Moldovenesc und Radautz/Rădăuți: bemalte Grabsteine. Von den bemalten orthodoxen Klöstern ließen sich offenbar auch die Juden inspirieren: Das besonders häufige Blau und Grün erinnert an Voroneț. Eine Parallele zu den bunt bemalten Grabkreuzen des orthodoxen „Fröhlichen Friedhofs“ in Săpânța drängt sich auf, zumal diese ebenfalls in Bild und Wort mehr über den Verstorbenen erzählen.

In Botoșani, wo eine jüdische Gemeinschaft seit 1540 dokumentiert ist und vor dem Zweiten Weltkrieg die Hälfte der Stadtbevölkerung stellte, wurde der Friedhof bald zu klein. Anfang des 19. Jh. entstand ein neuer auf 19 Hektar Fläche. Die Grabsteine sind weltweit einzigartig, erklärt Felicia Waldmann, wissenschaftliche Beraterin des Filmteams. Doch wer sie geschaffen hat, bleibt für immer ein Geheimnis, der Künstler signierte nie. Typisch für diesen Ort sind die schmiedeeisernen Verzierungen der Gräber, die auf lokale Handwerkskunst verweisen. Friedhofsverwalter Iulie Iordache beeindruckt die Ehrfurcht der Juden vor ihren Toten. Eine Jüdin besuchte das Grab ihrer Mutter aus Respekt nur barfuß, erinnert er sich. 

„Der Körper gilt als vergängliches Haus der Seele“, erklärt Waldmann. Wie jedes heilige Objekt wird er nach dem Tod in ein weißes Tuch gehüllt begraben - und darf nicht mehr gestört werden bis zum jüngsten Tag, an dem die Seelen der Gottgläubigen als Lichtwesen zu neuem Leben erwachen sollen.

Haus des gemeinsamen Gebets

In Botoșani finden wir eine der schönsten Synagogen Rumäniens. 1834 erbaut, war sie damals nur eine von 50 – doch immerhin die größte. Heute umringen das schmucklose flache Gebäude hohe Wohnblocks. Erst im Inneren offenbart sich die wahre Dimension der Synagoge – und ihr Wert als Kulturerbe. Kostbare Holzschnitzereien zieren den heiligen Schrein, Wandmalereien zeigen die Flaggen der zwölf Stämme Israels, den Tierkreis, Phantasielandschaften mit Palmen und Zedern - wie sich die Künstler das heilige Land vorstellten. Besonders beeindruckend ist die bemalte Decke. An hohen Feiertagen finden hier noch Gottesdienste statt. 

Als Glanzstück gilt auch der Tempel der Getreidehändler in Bacău – einst in Gesellschaft weiterer neun Synagogen und 15 Bethäuser. Bemerkenswert: die üppigen Wandmalereien, typisch nur für Synagogen in der Moldau, und die säulengetragene Galerie der Frauen. 
Berühmte chassidische Zentren gab es in Piatra Neamț, Suceava, Stefănești und Buhuși. Als Chassidim bezeichnet man die Mitglieder einer streng religiösen Erneuerungsbewegung, die weniger Wert auf Kenntnis des Talmuds und Meditation legte, als darauf, in allem Gott zu sehen und durch Geschichten und Lieder zu preisen. Viele arme Leute und Analphabeten waren Chassidim, erklärt Waldmann. In ihre Bräuche integrierten sie auch heidnische Elemente, etwa das Tanzen mit der Tora oder das Tragen von Schutzarmbändern. Aus den beiden letzteren Städten stammt die berühmte Rabbinerdynastie Friedmann. 

In Piatra Neamț gibt es eine der ältesten Holzsynagogen Europas, die einzige vollständig erhaltene Rumäniens und Osteuropas, benannt nach der Leitfigur des Chassidismus, Baal Shem Tov. Der Stuhl, auf dem dieser bei seinem Besuch saß, darf seither nicht mehr benutzt werden. 
Aus Holz war ursprünglich auch die Synagoge von Fălticeni. 1795 erhielten die dortigen Juden von einem Bojaren, dessen Grund sie gepachtet hatten, die Erlaubnis, ein Gotteshaus zu errichten – mit der Auflage, von außen müsse es unauffällig wie ein normales Haus aussehen. Nachdem dieses abgebrannt war, gelang es der Gemeinschaft, das Gelände zu kaufen und  dort1854 die heutige monumentale Synagoge aus Ziegeln und Stein zu erbauen. Deren reichhaltige Bemalung und Ausstattung verrät den einstigen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der Juden, von denen heute nur noch 15 übrig sind.

In Suceava erinnert die 1870 erbaute chassidische Synagoge als einzige an die 8000 Juden, die damals dort lebten. Oder an zwölf weitere Synagogen, die es bis 1939 gab. Vainer erklärt im Nachgang des Films, wie diese finanziert wurden: von den Abgaben an die Gemeinschaft, die jedes Mitglied zu entrichten hatte.

Das Ende

1930 gab es laut Volkszählung noch 750.000 Juden in Rumänien. Nach den Ungarn und den Deutschen stellten sie die drittgrößte Minderheit dar, fährt die warme Erzählstimme fort. Gut die Hälfte fiel im Zweiten Weltkrieg dem Holocaust zum Opfer, die andere Hälfte wanderte zur Zeit des Kommunismus aus. 
Zwischen 45.000 und 60.000 Juden wurden in der Bukowina und Bessarabien von deutschen und rumänischen Truppen 1941 ermordet. 105.000 bis 120.000 rumänische Juden starben als Folge der Deportationen nach Transnistrien. Mindestens 15.000 Juden aus dem Altreich kamen im Pogrom von Jassy/Iași und ähnlichen anti-jüdischen Aktionen ums Leben. 132.000 wurden aus Ungarn und dem dazugehörigen Nordsiebenbürgen von Mai bis Juni 1944 ins Vernichtungslager von Auschwitz deportiert. Die weißen Zahlen tippen sich Buchstabe für Buchstabe von selbst auf den schwarzen Grund - als wäre die Stimme des Erzählers alleine nicht überzeugend... 
Die Drohne erhebt sich aus dem bizarren Gräberfeld. Entschwindet in den wolkenverhangenen, düsteren Himmel.  Fliegt dem Sonnenuntergang entgegen: Ein Tag - oder ein Kapitel im Buch der Menschheitsgeschichte -  ist zu Ende gegangen.