Staatenlos: Verloren im eigenen Leben

Menschen am Rande der Gesellschaft in einer globalisierten Datenwelt

Symbolbild: pixabay.com

„Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im Leben einen Pass bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell gar nicht auf der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermisst werden“, so beschrieb der US-amerikanische Matrose Gerard Gale in dem Roman „Das Totenschiff“ (1926) seine Lage, nachdem ihm der amerikanische Konsul in Paris die Ausstellung eines Passes verwehrt.

Ohne Schiff und ohne Pass oder Seemannskarte macht sich der in Antwerpen gestrandete Gale auf zu einer unfreiwilligen Reise durch das westliche Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Die belgische Polizei schiebt ihn in der Nacht über die grüne Grenze in die Niederlande ab, die niederländischen Behörden schicken ihn auf die gleiche Weise zurück. Schließlich gelingt es ihm, sich über Frankreich nach Spanien durchzuschlagen. Doch ohne Ausweispapiere, die ihm die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat bestätigen würden, ist kein Land bereit, den heimatlosen Matrosen aufzunehmen.

Der Erste Weltkrieg hat zwar die reaktionären Monarchien gestürzt, doch das neue Europa ist aus der Sicht von Autor und Marxist B. Traven zu einer Festung geworden. Die Willkürlichkeit der neuen Grenzziehungen verdeutlicht sich am Schicksal zweier weiterer Grenzgänger, die wie Gale als Kohlenzieher auf dem Totenschiff „Yorikke“ gelandet sind: der in Posen geborene Stanislaw und der aus dem elsässischen Mülhausen stammende Paul. Beide haben die Fristen, um sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden, verpasst, da sie entweder auf hoher See oder als Wandergeselle unterwegs waren.

Bis 1911 bekamen im Königreich Rumänien nur etwa 2000 der rund 200.000 in der Moldau und der Walachei lebenden Juden die rumänische Staatsbürgerschaft verliehen. Dabei forderten die europäischen Großmächte das Land schon auf dem Berliner Kongress von 1878 auf, die Diskriminierung der Juden zu beenden. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden staatenlose Menschen dann zum Problem in ganz Europa, welches sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg weiter verschärfte und die Grenzen des Schutzes der Menschenrechte aufzeigte. Die selbst zwischen 1937 und 1951 ohne Staatsangehörigkeit lebende Hannah Arendt konstatiert in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, dass erst eine Staatsbürgerschaft überhaupt das Recht bedeutet, Rechte zu haben.

Trotz der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ („Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit“) sowie dem Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (1961/1975) gibt es laut UNO- Flüchtlingshilfe heute weltweit über zehn Millionen staatenlose Menschen. Im Oktober hat die bundesdeutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung den „Atlas der Staatenlosen“ vorgelegt. Darin konstatieren die Autoren: „Bisher sind Versuche einer einheitlichen Staatenlosigkeitspolitik in Europa und sogar in der Europäischen Union gescheitert.“ Allein in Estland und Lettland leben rund 300.000 staatenlose Menschen, da beide Länder den Bewohnern, die nach dem 16. bzw. 17. Juni 1940 zugezogen waren, sowie auch deren Nachkommen bei ihrer Geburt, bis zum heutigen Zeitpunkt die Einbürgerung verweigern. Bei den Betroffenen handelt es sich meist um Personen, die aus einem anderen Teil der Sowjetunion in das heutige Gebiet der Republik Estland und der Republik Lettland übergesiedelt sind. Die beiden Staaten begründen die Verweigerung der automatischen Staatsbürgerschaft damit, dass nach ihrer Auffassung die ehemalige Zugehörigkeit ihrer Länder zur Sowjetunion völkerrechtlich eine Annexion darstellen würde.

Im Jahr 2012 wurde das Europäische Netzwerk für Staatenlosigkeit (ENS) gegründet, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu koordinieren und Reformen zu fordern. Das ENS arbeitet mit europäischen und internationalen Institutionen zusammen, um bei den Verantwortlichen das Bewusstsein zu stärken, dass es ein Recht auf Staatsbürgerschaft gibt. Denn „in ganz Europa führen Diskriminierung, Rechtslücken und die Ausgrenzung von Minderheiten auch weiterhin dazu, dass Menschen staatenlos werden“, halten die Autoren des „Atlas der Staatenlosen“ fest.

Eine digitale Identität für alle Menschen

Insgesamt soll die Hälfte aller Staatenlosen in vier Ländern leben: an der Elfenbeinküste, in Bangladesch, Myanmar und Thailand. An einer digitalen Lösung für die Menschen ohne Papiere arbeitet die Organisation „ID2020“ mit Sitz in New York City. Die gemeinnützige Organisation plant, ergänzend zu staatlichen Systemen, eine transnationale digitale Identität. Hier sollen alle Informationen über den Einzelnen zusammenfließen: Ausbildungs- und Impfnachweise, Finanzstatus; Online-Accounts und vom Smartphone produzierte Daten.

Für Dakota Gruener, Leiterin von ID2020, ist Identität ein Menschenrecht: „Jeder siebte Mensch weltweit kann nicht nachweisen, wer er ist; und ist deshalb weitgehend ausgeschlossen vom Gesundheits-, Schul- und Bankenwesen.“ Im vergangenen Jahr wählte das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ sie unter die „30 Under 30 - Social Entrepreneurs“. Zu den Mitgliedern von ID2020 gehören Hightech-Konzerne wie Microsoft, die Rockefeller-Stiftung und die von Bill Gates finanzierte Impfallianz GAVI. Dieses Bündnis kooperiert unter anderem mit der US-Regierung, der EU-Kommission und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Die Vereinten Nationen haben sich bereits im Jahr 2015 in den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung vorgenommen, allen Menschen bis 2030 eine rechtliche Identität bereitzustellen. Dazu heißt es: „Ziel 16.9 zielt auch auf die universelle rechtliche Identität und die Registrierung von Geburten ab und gewährleistet das Recht auf Namen und Staatsangehörigkeit, Bürgerrechte, Anerkennung vor dem Gesetz sowie Zugang zu Justiz und sozialen Diensten.“

Eine vielversprechende Lösung können die Blockchain- und andere Distributed-Ledger-Techniken bieten. Diese „Techniken verteilter Kassenbücher“ beschreiben ein Verfahren, bei dem Informationen mithilfe einer dezentralen, von vielen Teilnehmern gemeinsam genutzten Datenbank  fälschungssicher übermittelt werden. Diese Datenbank wird auch als verteiltes Register oder Hauptbuch (Distributed Ledger) bezeichnet. Dabei ist jeder neue Eintrag (Block) mit dem vorhergehenden Eintrag verbunden und enthält die Historie in Form von dessen Prüfsumme sowie der Prüfsumme der gesamten Kette. Das gesamte Register (Blockchain) ist wiederum zugleich auf zahllosen Servern in verschlüsselter und anonymisierter Form gespeichert. Mit dieser Technik gespeicherte Transaktionen oder Informationen sind aus Prinzip echt und unveränderlich und brauchen deswegen niemanden mehr, der sie verwaltet oder beglaubigt.

Elektronischer Ausweis für EU-Bürger 

Unter dem Gesichtspunkt der verbesserten Nutzung digitaler Dienste hat der Europäische Rat im Oktober die Entwicklung eines EU-weiten Rahmens für die sichere öffentliche elektronische Identifizierung (eID) gefordert. Damit sollen die EU-Bürger die Kontrolle über ihre Online-Identität und ihre Daten bekommen und der Zugang zu öffentlichen, privaten und grenzüberschreitenden digitalen Diensten ermöglicht werden. Bis Mitte kommenden Jahres soll nun die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Initiative zur „europäischen digitalen Identifizierung“ vorlegen.

Auch die Europäische Kommission selbst nennt in ihrem Arbeitsprogramm für 2021 ein „Europa, das für das digitale Zeitalter gerüstet ist“ als ein strategisches Ziel. Dazu will die Kommission einen Fahrplan mit klar definierten digitalen Zielen für 2030 in Bezug auf Konnektivität, Kompetenzen und digitale öffentliche Dienste präsentieren. Der Schwerpunkt soll dabei auf dem Recht auf Privatsphäre und Konnektivität, Meinungsfreiheit, freiem Datenverkehr sowie Cybersicherheit liegen und auch europäische e-ID-Initiativen umfassen.

Was ist eine digitale Identität?

Unter digitaler Identität konkurrieren verschiedene Konzepte. Der Ansatz von ID2020 ist dabei viel umfassender als der der Europäischen Kommission, welcher vornehmlich darauf abzielt, dass sich EU-Bürger künftig mit einem elektronischen Personalausweis oder Pass ausweisen können. Eine – kaum genutzte – Online-Ausweisfunktion bietet bereits der bundesdeutsche Personalausweis.

Doch digitale Identität im Sinne von ID2020 geht viel weiter. Sie birgt das Versprechen, sich zu jeder Zeit und an jedem Ort sicher und unkompliziert vorzustellen und zu authentifizieren. Damit könnte das Überschreiten von Grenzen vollkommen unabhängig von physischen Dokumenten werden. Denn seine biometrischen Merkmale führt ein Mensch stets mit sich.

„Wir denken bei der digitalen Identität an eine Sammlung von Dokumenten und anderen Informationen zur Person. Der Einzelne kann bestimmte Eigenschaften glaubhaft belegen. Er kann, zum Beispiel, sein Hochschuldiplom herzeigen, einen Impfnachweis, einen Beleg für seine Kreditwürdigkeit oder Informationen über seine Berufstätigkeit“, sagt Dakota Gruener.

In dieser Zukunft hätte Gerard Gale auch ohne physische Seemannskarte wohl kein Problem, in seine Heimat New Orleans zurückzukehren. Der Marxist B. Traven ließ Gale hingegen mit Blick auf das Nachkriegseuropa sagen: „Das feste Land ist mit einer unübersehbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines Sinnes entwickeln will und muss, dem einzelnen Menschen, der nicht nummeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen müssen.“ Und er kam dazu und tut es heute noch.