Stichwort Erinnerung auf der Bühne

Wahlfranzösin Alexandra Badea sucht im Theater nach der Vergangenheit

Für Alexandra Badea bedeutet Selbstfindung im Spiegel mehr als schwereloses Lachen. Foto: Richard Schroeder

Alexandra Badea (Jahrgang 1980) wuchs in Bukarest auf und belegte an der Nationalen Universität für Theater und Film die Grundausbildung in Regie und Dramaturgie. Den Entschluss, Rumänien nach dem Staatsexamen zu verlassen, hat sie 2003 verwirklicht. Ihre Wahl fiel auf Frankreich. „Als ich das erste Mal in Paris war, dachte ich, oh, alle Welt schreibt Theater und besteht nur aus Künstlern!“ Alexandra Badea hat sich die Identität der Wahlheimat Frankreich zu einer Zeit übergestreift, als Kolonialtradition und Kulturpolitik noch zu selbstverständlicher Vielfalt verschmolzen. Gegenseitiges Verstehen droht heute weltweit auszutrocknen. Alexandra Badea weiß, dass auch Paris etwas von der Dürre abkriegt. Trotzdem ist sie mit ihrem französischen Alltag und Zuhause zufrieden. Ihr Stück „Quais de Seine“ hätte an zwei Abenden des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt/Sibiu 2020 gespielt werden sollen, fiel jedoch aus. Klaus Philippi hat Alexandra Badea dazu befragt.

Erzähl uns Zuschauenden aus Rumänien doch bitte die Synopsis von „Quais de Seine“, das wir bei uns zuhause noch nicht erleben konnten! Was steht darin auf dem Spiel?

„Quais de Seine“ ist der zweite Teil meiner Trilogie „Points de non-retour“. Der erste Teil heißt „Thiaroye“ und erscheint wegen der Krise verspätet in deutscher Übersetzung beim Verlag der Autoren (www.verlagderautoren.de, „Aus dem Schatten: Thiaroye“, Deutsch von Frank Weigand). Die Trilogie konzentriert sich auf das Erzählen versteckter, ungesagter Geschichten. Spätestens seit den Attentaten von Paris im Jahr 2015 ist hier unter Künstlerinnen und Künstlern das Interesse an unbekannten Geschichten in aller Munde. Dabei geht es nicht ausschließlich um Geschichte im historischen Verständnis, sondern auch und vor allem um Geschichten von Menschen, die für uns unsichtbar sind – wir sehen sie zwar auf der Straße, erzählen aber nichts von ihren Geschichten. Der allgemeine Diskurs verkleinert ihre Geschichten. Als ich mich 2014 in einer Gruppe von 50 Mitbewerbern erfolgreich um die französische Staatsbürgerschaft bemühte, wurde uns bei der Zeremonie der Einbürgerung folgender Satz gesagt: „Von jetzt an müsst ihr für die ruhmreichen Augenblicke und auch für die Schattenseiten der Geschichte dieses Landes einstehen!“ – für mich sehr markant.

Genau damit beginnt „Quais de Seine“. Ich eröffne jede Vorstellung mit einem Text, den ich auf der Bühne direkt vor den Zuschauern schreibe. Er fällt von Mal zu Mal unterschiedlich aus, behält aber stets seine Richtung bei. Darin erzähle ich von der Anekdote, die mich zum Schreiben bewegt hat. Denn meine Erstreaktion darauf lautete etwa so: Aha, da muss ich jetzt also mit der Kolonisation Vorlieb nehmen.

Darum habe ich Nachforschungen unternommen, um besser nachvollziehen zu können, was während der Kolonisation und überhaupt in der Zeit nach der Kolonisation geschehen ist. „Points de non-retour“ ist ein sehr gut dokumentiertes Stück. Hinter jedem Teilstück der Trilogie steckt mehr als ein ganzes Jahr Arbeit – Lesen historischer Fachbücher, Einschalten von Dokumentarfilmen und Interviewen von Menschen – weil Recherchieren für mich an vorderster Stelle steht. Viele Geschichten traten dabei ans Licht. Aber ich wollte nicht dokumentarisches Theater daraus machen. Der Text ist reine Fiktion. Mich hat das Sprechen über intime Territorien interessiert, in die das Politische und das Historische eingedrungen sind und individuelle Entwicklung unmöglich gemacht haben.

„Quais de Seine“ handelt von einer jungen Frau, die ein Trauma und eine von Gewalt geprägte Lebenslage erleidet und nicht mehr weiter weiß. Sie trifft einen Therapeuten, der nicht Antworten gibt, dafür aber viele Fragen stellt und ihr dadurch Wege aufzeigt, die helfen sollen, Schattenzonen des Unterbewusstseins auszuleuchten. In die Geschichte des Mädchens bricht die Geschichte eines französisch-algerischen Paares herein, das die dunkle Episode der jüngsten Geschichte Frankreichs aus der Zeit des Algerienkrieges unmittelbar erfährt. Die von Paris aus geübte Perspektive ist wichtig. Damals hat ein Ereignis stattgefunden, worüber sehr lange Zeit nicht gesprochen wurde, das aber vor wenigen Jahren mittels Erinnerungstafel markiert wurde und seither wieder im Diskurs mitspielt: am 17. Oktober 1961 haben algerische Bewohner in Paris für Frieden und die Unabhängigkeit Algeriens, mehr noch aber für das Ende des ´couvre-feux´ (deutsch: Ausgangssperre) manifestiert. Algeriern war es damals verboten worden, abends nach 22 Uhr das Haus zu verlassen. Eine diskriminierende Maßnahme, die eindeutig dem Algerienkrieg angerechnet werden konnte und dazu verleitete, jeden algerischen Bewohner für einen potenziellen Terroristen zu halten.

Algerier wurden stark von der Polizei kontrolliert. Auch wenn sie sich gar nichts zuschulden hatten kommen lassen, wurden sie polizeilich gedemütigt und geschlagen. Heute besteht kein Zweifel mehr darüber, dass ihre Demonstration vom 17. Oktober 1961 pazifistisch beabsichtigt war. Sie hatten sich nicht bewaffnet. Aber die Demonstration war nicht genehmigt worden und wurde von der Polizei gewalttätig niedergeschlagen. Um die beträchtlichen Opferzahlen des Massakers zu vertuschen, warf die Polizei viele Opfer nachts in die Seine. Verlegern wurden Bücher konfisziert, auch ein Dokumentarfilm zur Demonstration wurde verboten.

Erst in den 1990er-Jahren wurde das Ereignis nach und nach erörtert. Viele Leute verwechseln es mit anderen Momenten aus derselben Epoche. Für mich war es schlussendlich quasi der Startpunkt. Meine Fiktion erzählt vom Schwanken zwischen der Gegenwart des Mädchens, das nach der Quelle ihrer Depression sucht, und der Vergangenheit ihrer Großeltern, die diese Zeit durchgemacht haben und eine vor dem sozialen und politischen Kontext der Epoche unmögliche Geschichte erleben.

Wann ist mit dem dritten und letzten Teil der Trilogie „Points de non-retour“ zu rechnen?

Der dritte Teil wird 2021 uraufgeführt. Allerdings muss ich den Text dazu noch schreiben (lacht)!

Wie erzählst Du Freunden aus dem Schauspielsektor, die mehr von Rumänien wissen wollen, von deinem Geburtsland?

Oh, eine schwere Frage…ich sage ihnen immer, dass Rumänien noch recht unbekannt ist und sie so bald wie möglich hinreisen sollten. Klar könnte der Massentourismus, der vielerorts auf der Welt Unfug verursacht hat, deutlich abnehmen. Für mich aber spielt jeweils die Angst mit, dass bestimmte Regionen Rumäniens eines Tages ihre Spezifität verlieren und sich den westlichen Normen angleichen. Formatierung ruraler und urbaner Räume ist schade. Noch vor etwa 15 Jahren habe ich in Temeswar eine Vorstellung inszeniert, das Zentrum der Stadt im Februar 2019 während der Tournee von „Perfect Compus“ jedoch ganz anders erlebt. Ich fand, dass es den Stadtzentren aus Deutschland, Spanien oder Frankreich treffend ähnelt: dieselben Firmen und Cafés, also alles wie gehabt.

Ich erzähle immer vom Rumänien, das spannende Entdeckungen ermöglicht; vor allem von seinen inspirierenden Literaten und bildenden Künstlern. Selbstredend auch vom Kommunismus, vom Postkommunismus und von der Übergangszeit, da mich all das geprägt hat. Nicht von ungefähr schreibe ich nun mal so, wie ich eben schreibe, habe ich doch ganze zehn Jahre unter solchen Bedingungen gelebt. Das Leben unter Angst und Furcht vor Überwachung, Furcht vorm Äußern des eigenen Denkens und überhaupt das Leben unter ständiger Kontrolle sind wohl mit die Ursache dafür, dass mir das Schreiben auf Rumänisch schwer von der Hand geht.

„Perfect Compus“ ist mein erster Text auf Rumänisch, aber sehr, sehr spät entstanden. Für das Radu-Stanca-Theater Hermannstadt habe ich unterdessen ein neues Stück geschrieben („Maternal“, Anm. d. Red.), Radu Nica hat die Probenarbeit bereits aufgenommen und wird die Premiere am 19., 20. und 21. August vorstellen. Auf der natürlichen Spur jedenfalls bockt mein Zugang zur rumänischen Sprache. Nur wenn ich ihn forciere, kommt was Gutes dabei raus. Mein erstes Gedicht in der Schule war ein patriotisches. Einige Begriffe scheinen mir heute noch mit einer Sinngebung getränkt, die genau aus der Zeit herrührt, die ich mitsamt ihren Traumata überwinden können möchte.

Sooft ich von Rumänien erzähle, spreche ich von den dort lebenden Menschen, die für mich wichtig geworden sind. Und obwohl ich nicht mehr Bescheid weiß, wie es heute darum steht, erzähle ich auch von der Bukarester Theaterschule gern Positives. Als ich selbst sie zu meiner Zeit durchlaufen habe, fand ich sie richtig gut. Klar bestehen in der Methodik Unterschiede zu Frankreichs Schule von Schauspiel und Regie, aber der olle Minderwertigkeitskomplex, dass ´bei uns alles viel schlechter läuft als anderswo´, der klingt doch etwas übertrieben. Ich habe in Bukarest viel lernen können und finde es wichtig, davon zu erzählen.

„Perfect Compus“ stellt tatsächlich ein hartes Bild der Realität Rumäniens auf. Die Vorstellung in Hermannstadt im Februar 2019 mit anschließendem Gespräch zwischen Ensemble und Zuschauern hat bestätigt, dass die Akzeptanz der diffizilen Vergangenheit höher ausfallen könnte. Wie weit liegt heute die Realität rumänischer Gedächtniskultur hinter dem zurück, was in „Perfect Compus“ Sprache annimmt?

Vorab hatte ich erwartet, dass die Mehrheit der Zuschauer wütend hinausstürmen würde. Aber bis auf eine einzige junge Dame in Brăila, die aufgebracht reagiert hat, traf das Gegenteil hiervon ein. Über eigene Defekte sprechen zu können, ist etwas Großartiges. Ich glaube, dass die Menschen anfangen, anders auf die Vergangenheit zu schauen, und auch bereit sind, einiges zu akzeptieren. Eine diskursive Öffnung, an die vor zehn Jahren noch nicht zu glauben war. Bestimmt tragen auch die Filme von Radu Jude dazu bei. In „Perfect Compus“ hat mich nicht die faktische Geschichte Rumäniens interessiert. Wer es genau wissen möchte, findet genügend Dokumentationsquellen. Warum und wie aber hat Kollaboration mit Macht funktioniert, sei sie faschistisch oder kommunistisch? Einander zu belügen, manipulieren oder gar zu opfern sind Verhaltensmuster, die von Generation zu Generation vererbt wurden. Die Generation von heute hat die Chance zu Verantwortlichkeit. Nicht weil sie unbedingt besser als vorangehende Generationen ist, doch weil angestaute Traumata Öffnung reizen.

Wie würde ich reagieren, hätten meine Großeltern etwas Furchtbares aktiv unterstützt? Zu Beginn des Schreibens an einem Stück gehe ich immer von mir selbst aus. Fragen spielen nicht schwarzweiß, sondern mit Nuancen. Ohne zeitliche Distanz ist es wohl auch nicht möglich, klar über sie zu sprechen. Letztlich aber besteht unser Auftrag darin, Wiederholung solcher Geschichten zu verhindern. Wir können sie nicht so wiederholen, wie sie damals geschehen sind, aber wir können es identisch auf anderen Wegen – die Gefahr muss erkannt werden.

Wie erklärt sich die Gastfreundlichkeit Frankreichs gegenüber künstlerisch Freischaffenden?

Ab 1968 hat Frankreich seine Kulturpolitik sehr couragiert gestaltet. Der Mut von damals fällt heute leider geringer aus. In der Krise hat Deutschland beschlossen, der Kultur mit mehreren Milliarden Euro auszuhelfen. Frankreich gibt sich vorsichtiger, zehrt aber noch von dem 1968 gefassten Beschluss, nicht alles nur in Paris geschehen zu lassen. Es sollte überall Theater, Kompanien und Zentren für Dramatik geben, damit alle Menschen Zugang zu Kultur haben. Die damalige Dezentralisierung hat der kulturellen Verdichtung sehr genützt.

Ja, für Schriftsteller, Schauspieler und teils auch für Regisseure ist so ein durch Auszeiten strukturiertes und in der Welt einmaliges System, das früher oder später leider nicht mehr zu halten sein wird, ein Riesenvorteil. Noch ist man hier unabhängig, darf sich seine Projekte selbst aussuchen und davon ausgehen, dass man nach Erfüllung des Mindestmaßes von 700 Stunden Arbeitszeit und bei regulärer Einzahlung in die Versicherungskasse auch in den Monaten, in denen man nichts arbeitet, ein Staatsgehalt erhält und sich gemütlich Zeit nehmen darf, über Projekte kommender Jahre nachzudenken und sie im Voraus zu dokumentieren, ohne gestresst von Projekt zu Projekt hetzen zu müssen. In Rumänien kenne ich kaum eine Person, die nur vom Schreiben für die Bühne lebt.