Surrealismus des Alltäglichen

Fotografien des Belgiers Marcel-G. Lefrancq im Bukarester Nationalen Kunstmuseum

Marcel-G. Lefrancq: „Ballspiel“

Im sechsten und letzten Gesang seines Werkes „Les Chants de Maldoror“ (Die Gesänge des Maldoror) beschreibt der französische Dichter Lautréamont alias Isidore Lucien Ducasse die Schönheit eines Jünglings mit folgendem absurd anmutenden Vergleich, der auf die nahezu ein halbes Jahrhundert später entstandene Kunstrichtung des Surrealismus eine enorme Wirkung ausübte. Besagter Jüngling namens Mervyn sei, laut Lautréamont, so schön „wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“. Zahlreiche Künstler der Moderne wie André Breton, Man Ray oder Max Ernst haben in diesem Zitat geradezu eine Definition des Surrealismus gesehen und aus ihr gar die Struktur und Funktion surrealistischer Bilder abgeleitet.

Einen anderen Weg der Konstruktion des Surrealistischen beschritt der 1916 im belgischen Mons geborene Marcel-G. Lefrancq, der die surrealistische Erfahrung nicht im zufälligen Zusammentreffen disparater und gänzlich miteinander unvereinbarer Realitäten fundierte, sondern jene über die bare Wirklichkeit hinausweisende und diese transzendierende Erfahrung gerade im Unverfänglichen, Gewöhnlichen und Alltäglichen aufsuchte. In diesem Bestreben ähnelte er einem anderen, fast zwei Jahrzehnte älteren belgischen Surrealisten, dem 1898 unweit von Mons in Lessines geborenen Maler René Magritte. Im Gegensatz zu Magritte hatte sich Lefrancq jedoch ganz der fotografischen Kunst verschrieben, was sein Werk wiederum in die Nähe des amerikanischen Film- und Fotokünstlers Man Ray oder des belgischen Malers und Fotografen Raoul Ubac rückt.

Als 18-Jähriger nimmt Lefrancq auf Wunsch seines Vaters ein ingenieurwissenschaftliches Studium in Mons auf, bewegt sich aber lieber in den Kreisen der Studenten, die sich an der Monser Akademie der Schönen Künste ausbilden lassen. Bei der Brüsseler Weltausstellung 1935 gelingen ihm einige sehr schöne Fotos, von denen eines auch in der Bukarester Ausstellung hängt, die derzeit und noch bis zum 18. Januar kommenden Jahres in den beiden Kretzulescu-Sälen des Bukarester Nationalen Kunstmuseums zu bewundern ist. Man sieht auf diesem Foto ein von unten fotografiertes Stahlgerüst, das aufgrund seines besonderen Aufnahmewinkels raumlos zu schweben scheint und gleichsam ins Leere hineinragt.

Als Zwanzigjähriger sympathisiert Lefrancq mit den antifaschistischen Spanienkämpfern, 1938 tritt er der Künstlervereinigung „Rupture“ bei, aus der dann ein Jahr später die „Surrealistische Gruppe von Hainaut“ hervorgeht, zu deren Gründungsmitgliedern Lefrancq zählt. In der Bukarester Ausstellung kann man ein Gruppenfoto der „Rupture“-Mitglieder sehen, die malerisch um eine Rimbaud-Büste gruppiert sind, ferner Einzelporträts von Mitgliedern der Surrealistengruppe von Hainaut, darunter Lefrancqs Künstlerkollegen Constant Malva und Louis Van de Spiegele.

Als linker Antifaschist und Sympathisant der Résistance wird Lefrancq mehrfach verhaftet: 1939 von belgischen Autoritäten, 1943 von deutschen Militärbehörden. Nach der Befreiung von Mons durch die Amerikaner bietet er dem Civil Affairs Office seine Dienste als Übersetzer an. 1946 eröffnet er ein eigenes fotografisches Atelier in Mons, und im Jahr darauf formiert sich die Künstlergruppe „Haute Nuit“, der u. a. auch René Magritte beitritt. Die Jahre bis zu seinem Tod 1974 widmet Lefrancq seinen künstlerisch-fotografischen, aber auch seinen wissenschaftlich-archäologischen Interessen, die sich auf neolithische Grabungsstätten in der Provinz Hainaut richten. Zeitlebens erhält Lefrancq den Kontakt zu seinen surrealistischen Freunden aufrecht.

Die Bukarester Ausstellung zeigt insgesamt sechzig Schwarzweißfotografien Lefrancqs, hauptsächlich aus den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, in denen Lefrancqs Interesse an surrealistischen Ausdrucksformen besonders ausgeprägt war. Dazu zählen architektonische Studien, z. B. die Fotografie des Rohbaus eines Wohnblocks im Stil der Neuen Sachlichkeit; Technikstudien, z. B. die Fotografie des Viadukts von Nimy mit einem Ensemble von Stahlträgern, Nieten, Lampen, Drähten und Gittern; Tierstudien, z. B. die Fotografie einer Schnake an einer Gipswand mit interessanten Schatteneffekten; Porträts, z. B. drei Außenaufnahmen einer jungen Frau, deren Gesicht und Gestalt hinter dem Blüten- und Blättergewirr eines Gartens fast unsichtbar wird.

Einen großen Raum in der Bukarester Fotoausstellung nehmen Stadtansichten von Mons ein, wobei hier drei Gruppen von Bildern zu unterscheiden sind: nächtliche Aufnahmen im Stil von Magrittes „Reich der Lichter“ mit leeren Straßenzügen, einsam glühenden Laternen, dunklen Gebäuden mit einzelnen erleuchteten Fenstern und mysteriösen Männern mit Hüten; zweitens Winteraufnahmen, bei denen der Schnee, z. B. auf einem Geländer, den Schwarzweißeffekt der Fotografien noch verstärkt; und drittens Straßenbilder, schräg von oben herab aufgenommen oder gänzlich aus der Vogelperspektive, bei denen den scharf konturierten Schlagschatten eine wichtige ästhetische Rolle zukommt. Besonders aussagekräftig ist eine „Ballspiel“ betitelte Fotografie aus dem Jahre 1948. Drei Männer stehen in Erwartung des Balles auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster, die durch seitliche Markierungen als Spielfeld kenntlich gemacht ist; auf dem Trottoir sitzen die ausnahmslos männlichen Zuschauer, ebenfalls in Erwartung des nächsten Spielzugs; der Schatten des Gebäudes, auf dem der Fotograf steht, verfremdet durch die dunklen Flächen, die jenes aufs Spielfeld wirft, die gesamte Szene und lässt so einen alltäglichen Vorgang letztlich als surreales Ereignis erscheinen.

Selbstverständlich finden sich auch zahlreiche Fotografien in der Bukarester Ausstellung, die surrealistischen Kompositionen im herkömmlichen Sinne ähneln, so zum Beispiel die Fotomontage „Nutzlose Morgendämmerung“ (1946), bei der eine menschliche Hand aus einer Steintreppe zu wachsen scheint, ferner Fotocollagen, abstrakte Kompositionen, „Photogramme“ oder das Bild eines mit Stacheldraht umwundenen Stuhles auf einer Anhöhe im Freien. Besonders exzelliert Lefrancq aber bei fotografischen Arbeiten, die Alltagsdinge wie etwa einen Schalenkorb mit Haselnüssen, eine Muschel, gespaltenes Holz, eine ölige Kette o. ä. durch ihre spezielle Aufnahmeperspektive und -technik surrealistisch verfremden. Nicht zuletzt lohnen auch verschiedene außergewöhnliche Aktfotos den Besuch dieser sehenswerten Ausstellung im Bukarester Kunstmuseum.