Träumen von der Anabasis

Im „Marele Anonim“ des Lyrikers, Philosophen und Hochschullehrers Lucian Blaga sind zwei seltene Begriffe des Rumänischen theoretisiert, die Blaga aus dem Griechischen rumänisiert und auf die Mentalität der Rumänen angewandt hat. Blaga spricht von „catabază“ und „anabază“, Direktübernahmen aus dem klassischen Griechisch: Mit „Katabasis“ bezeichneten die alten Griechen das Hinabsteigen in die Welt des Hades, in die Unterwelt, mit „Anabasis“ das Gegenteil, das Hinaufsteigen ans Licht der Oberwelt.

Das Begriffspaar vom Ab und Auf wurde zu verschiedenen Zeiten in die unterschiedlichsten Bereiche transferiert. In der Geschichtsschreibung begann man von „Passivität“ und „Aktivität“ zu sprechen. In der Philosophie sprach man zunehmend von „Apathie“ und „Dynamismus“. Im Heereswesen benutzte man statt Angriff und Rückzug lieber die verharmlosenden Begriffe „Vor-“ und „Rückmarsch“ und in der Anfangszeit der Psychologie kamen „Depression“ und „Vitalität“ als kontrastreiche Begriffspaare für definitorische Lebenseinstellungen auf. Und bürgerten sich allmählich ein.
Lucian Blaga passten für sein anthropologiebetontes Nachdenken über das Volk der Rumänen die beiden Antonyme der Griechen, und er wandte sie bei seinen Erklärungsansätzen zur philosophischen und sozialen Anthropologie seines Volkes an.

Damit beschäftigt er sich im „Marele Anonim“/dem „Großen Namenlosen“, wo er die Mentalität der Rumänen untersucht, hauptsächlich aufgrund obigen Kontrastpaares. Blaga meint, das Volk, das den Karpaten-Pontischen Raum als Mehrheitsvolk bewohnt, sei überwiegend „katabatisch“ veranlagt. Dieses Volk, so Blaga, habe es im Lauf seiner Geschichte verstanden, „großen Wellen“ von Geschichtsverwerfungen auszuweichen, „abzutauchen“, wenn´s brenzlig wurde, mit der Folge, dass man mentalitätsmäßig instinktiv immer dem Verbleib beim Vorhandenen, der Stagnation, den Vorzug gegeben habe, dass man große Veränderungen möglichst vermieden hat. Die Folge sei eine (bewusst?) akzeptierte Mittelmäßigkeit, viel Selbstbemitleidung, Schlappheit, ja Verwelktheit im Mentalen.

„Anabatische“ Regungen riefen Zurückhaltung, Misstrauen, Verdachtsmomente hervor: Was steckt wohl dahinter? Allein Überlegungen des „kollektiven Überlebens“ hätten, zeitlich begrenzt, zum Wachrütteln geführt. Erinnern wir uns an den Dezember 1989, an den ersten Wahlsieg der Rechten und den faktischen Sturz von Ion Iliescu 1996, an die Abwahl des bis in die Knochen korrupten, aber hochintelligenten Adrian Năstase 2004 oder an den ersten Wahlsieg von Klaus W. Johannis 2014. Das waren anabatische Momente in der jüngsten Geschichte Rumäniens. Um Stefan Zweig zu bemühen: „Sternstunden“.

Aber was folgte daraufhin mit einer Regelmäßigkeit, die zur Verzweiflung bringen kann? Immer dasselbe: Abgestumpfte Immobilität im Gesellschaftsleben, Laissez faire im politischen Massenbewusstsein („Wir können´s eh nicht ändern!“), traumschweres Lechzen nach Veränderungen zum Positiven (erst mal ein höherer Lebensstandard, dann mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Korruption, mehr Eleganz und Kultiviertheit im Umgang miteinander, mehr Rücksichtnahme und viel mehr Verständnis für den Anderen usw.) und nicht zuletzt: Mehr „Westen“ in diesem wilden „Osten“, wenn möglich ganz plötzlich und völlig schmerzfrei. Am besten: Der Herrgott im Himmel verhilft uns über Nacht dazu…

Das ist genau die Mentalität, welche die obigen „anabatischen Ereignisse“ als „Wunder“ definiert, die zum einzigen wirklich boomenden und sich exponentiell entwickelnden Wirtschaftszweig Rumäniens geführt hat: der Glücksspiel- und Wettindustrie.

Der katabatische Grundzug und die Sehnsucht nach anabatischen Vorbildern brachte Typen wie Ion Iliescu, Liviu Dragnea, Victor Ponta auf den Plan, die durch Wirkungskontrast zur katabatischen Allgemeinmentalität Hoffnung und Vertrauen einflößten.

Und beides skrupellos missbrauchten.