Über den Wolken

Von Sinaia über das Bucegi-Plateau nach Bușteni

Über den Wolken erhebt sich der Kamm des Baiului-Gebirges.

Kurz vor dem Zusammenbruch steht das 1910 errichtete Schiel-Haus, bekannt auch als Cantonul Jepi oder Casa Naturaliștilor. Letzterer Name kommt von der 1922 angebauten kleinen Unterkunft für Biologen bei ihren Forschungen im Bucegi. Das auf 1960 Metern Höhe gelegene Haus mit atemberaubendem Ausblick auf das Prahova-Tal soll 2016 samt 500 dazugehörenden Quadratmetern an einen unbekannt gebliebenen Käufer vom Bürgermeisteramt Bușteni für unglaubliche 181.920 Euro verkauft worden sein, obwohl der eigentliche Wert 2013 noch auf 22.000 Euro geschätzt wurde. Will jemand im Naturpark eine stolze Villa errichten – oder geht es um Geldwäsche, fragen sich Journalisten.

Der Piatra-Arsă-Komplex, umgeben von Latschen am Bucegi-Plateau

Stützen der alten Seilbahn für den Holztransport | Fotos: der Verfasser

Es war Mitte November und noch lag auf dem Bucegi-Plateau kein Schnee. Die Tage werden immer kürzer, sodass auch ein Tagesausflug nicht mehr als zehn Stunden dauern sollte. Wenn einen die nicht enden wollenden Bären-Warnungen rund um die beiden bekanntesten Ortschaften des Prahova-Tals nicht mehr abschrecken, wenn man weiß, dass die Covid-19-Ansteckungsgefahr in den Bergen gleich null ist, dann kann die Bucegi-Wanderung losgehen. Vorausgesetzt, man ist in guter körperlicher Verfassung und hat bereits etwas Erfahrung auch mit schwierigeren Touren gesammelt. Denn die hier vorgestellte Route ist viel anspruchsvoller als eine Drahtseilbahnfahrt von Bușteni hinauf zu den Babele-Felsengruppe oder von Sinaia nach Cota 2000.

Dabei beginnt alles gemütlich. Vom Bahnhof Si-naia steigen wir die Treppen zum Boulevard Carol I hinauf und biegen beim ersten Kreisverkehr (Richtung Bukarest) nach rechts in die Aosta-Straße. Sie heißt so, weil Sinaia – „die Perle der rumänischen Karpaten“ – mit der Kleinstadt in den italienischen Alpen verbrüdert ist. Weiter geht es aufwärts in die Vârful-cu-Dor-Straße und in die Furnica-Straße, vorbei an vielen Villen, manche schön hergerichtet, andere etwas vernachlässigt. Nachdem wir die letzten Häuser hinter uns gelassen haben und der Straße folgen, die nach Cota 1400 führt, stoßen wir auf den mit blauem Band markierten Wanderweg, der rechts in den Wald abbiegt.

Es handelt sich um die ehemalige „Poteca Regală“, der königliche Wanderpfad, auf dem man in rund eineinhalb Stunden zur Poiana Stânei gelangt. Dieser Wanderweg ist wahrscheinlich der einzige im Land, der gepflastert ist, wobei an manchen Stellen noch die Spuren eines Holzgeländers zu erkennen sind. Er steigt in leichten Serpentinen durch den Mischwald und gleicht eher einer Allee für einen Spaziergang in einem Park. Vom Franz-Joseph-Felsen, so benannt nach dem österreich-ungarischen Kaiser, der hier im Herbst 1896 – andere Quellen nennen das Jahr 1897 – als Gast von Karl I. zu Besuch war, hat man einen schönen Ausblick hinunter ins Prahova-Tal.

Poiana Stânei selbst könnte, unter Einhaltung der Regeln, die ein Naturpark voraussetzt, mehr bieten als man tatsächlich vorfindet: eine geschlossene Gaststätte, einen hässlichen, halbfertigen Neubau, mit bunter Folie abgedeckte Baumaterialien.

Wer dem blauen Band hinauf aufs Plateau folgen will – ein Abschnitt, der nun schwieriger wird –, sollte nach der Abzweigung von der Forststraße, die zu Cota 1400 führt und dasselbe blaue Band als Markierung vorweist, nicht auf der Wiese den Weg suchen, sondern zunächst der Einzäunung folgen, bis man links, im Wald, wieder auf die Markierung stößt. Graue Nebelschwaden lösen sich langsam auf und lassen blaue Himmelflecken von einer Sonne aufleuchten, deren Strahlen von dem  Wolkenvorhang gedämpft werden. Das Weiß des Raureifs hebt sich ab vom Grün der Fichtennadeln. Es ist eine geheimnisvolle Farbkombination, die in der allgemeinen Stille noch stärker wirkt: kein Vogel zwitschert, kein Wasser plätschert, kein Wind pfeift.

Oben, auf dem weiten Plateau, erkennt man bei genauem Hinblicken rechts in der Ferne das Caraiman-Heldenkreuz und links davon die weiß-rote Relais-Station von Coștila, die einer Rakete vor dem Start ähnelt. Noch beeindruckender ist ein Blick in Richtung Prahova-Tal. Ein dichtes weißes Wolkenmeer umhüllt es. Einzelne Teile des Baiului-Kammes erheben sich über den Wolken wie Inseln oder wie Boote. Solch ein beeindruckendes Bild erlebt man im Bucegi, wenn es nach windstillen Nächten, vor allem im Herbst und Winter, zu einer Inversionswetterlage kommt, wenn es also oberhalb der Waldgrenze wärmer als im Tal ist.

Nun geht es leicht bergab zum Sportkomplex „Piatra Arsă“ und zum heute ziemlich verwahrlosten Stadion in der Nähe. Vor 1989 war diese Anlage bei 1950 Metern Höhe bei vielen der besten rumänischen Sportler als Trainingslager sehr geschätzt; heute sind die Grenzen offen und in Afrika oder in den USA gibt es, bei ähnlicher Höhenlage, wahrscheinlich bessere Vorbereitungsbedingungen.

Von der alten Hütte, die nun ins Hotel integriert wurde, beginnt der mit dem blauen Dreieck gekennzeichnete Abstieg nach Bușteni, der als Jepii-Mari-Weg bekannt ist. In rund einer Viertelstunde kommen wir auf einem durch ein dichtes Latschenfeld geschlagenen Weg zum ehemaligen Jepii-Canton – eine Zwischenstation der 1908 von der  „AG Papierfabrik Bușteni C&S Schiel Nachfahren“ der Kölner Firma J. Pohlig in Auftrag gegebenen Drahtseilbahn für den Holztransport. Bis 1966 war diese Seilbahn, von der noch manche Stützen samt Kabel  und Betonsockel zu sehen sind, in Betrieb. Der eigentliche Abstieg beginnt von diesem Gebäude aus und ist im Winter und bei ungünstigem Wetter verboten. An einigen steilen Stellen erleichtern Kabelseile und Ketten das Weiterkommen.

In rund drei Stunden sind wir am Fuße des Gebirges beim Silva-Hotel und bei der Talstation der Seilbahn, die über dem Jepilor-Tal zu den Babele hinaufführt, angekommen. Bu{teni ist zwar nicht so „edel“ wie die Perle Sinaia; hier gibt es nur den Cantacuzino-Palast und kleinere Villen und Hotels. Die Kleinstadt verdankt ihren wirtschaftlichen Aufschwung nicht einem König, sondern den Brüdern Carl und Samuel Schiel, die, 1882 aus Kronstadt kommend, hier den Grundstein einer seinerzeit erfolgreichen Papier- und Zellulosefabrik legten. Die Stadt hat das 2010 gewürdigt: mit dem Bau eines schönen Kinderspielplatzes und Parks, die ihren Namen tragen.