Ungekannte Vielfalt der Reformation

Experten westeuropäischer Kirchengeschichte erforschten Siebenbürgen

„Aller guten Dinge sind drei!“ – mit diesen Worten eröffnete Dr. Renate Klein, Dozentin am Departement für Geschichte, Kulturerbe und Protestantische Theologie an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt/Sibiu (ULBS), die wissenschaftliche Tagung „Grenzen überschreiten. 500 Jahre Reformation in Siebenbürgen. 70 Jahre Protestantisch-Theologisches Institut“, die vom 31. Oktober bis 3. November in der Evangelischen Akademie Siebenbürgen (EAS) in Neppendorf/Turnișor stattfand. Sie bezog sich darauf, dass neben den beiden im Titel genannten Jubiläen außerdem das 50-jährige Bestehen der ULBS zu feiern wäre. Deren Prorektor Prof. Dr. Ioan Marian Șiplic, als Historiker überregional tätig, erinnerte anschließend an die zahlreichen Förderungen, die unter anderem diese Tagung ermöglicht hatten, darunter den 4,2 Millionen Euro schweren Spendenbeitrag des Milliardärs Hasso Plattner an die ULBS. Auf }iplics Ausführungen zur „nur scheinbar nicht existierenden kulturellen Vielfalt mehrerer Seiten“, die er als „Garant für raschen Erfolg“ sah, antwortete die Lautsprecheranlage mit grellem Pfeifton – was zur Lockerung der Atmosphäre beitrug und bis zum Ende der viertägigen Konferenz die einzige technische Panne bleiben sollte.

Inhaltlich lag der Fokus der Tagung auf der 502 Jahre zurückliegenden Reformation. Harald Fratczak, Vizekonsul der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt, bezeichnete diese als „Ereignis weltgeschichtlicher Bedeutung“. Ihm zufolge war die Gründung des Protestantisch-Theologischen Instituts in Klausenburg/Cluj-Napoca/Kolozsvár 1948 „trotz der ideologischen Unmöglichkeit möglich“. Es folgte eine Begriffsaufstellung von Pfarrer Dr. Stefan Cosoroab˛, Dozent an der ULBS und Referent für Institutionelle Kooperation der EKR im Ausland: „Kirche ohne Theologie und Theologie ohne Kirche gibt es nicht und sollte es auch nicht geben dürfen.“ Anschließend hieß Dietrich Galter, Pfarrer der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) in der Ortsgemeinde Neppendorf sowie Vorsitzender der EAS, Vortragende und Publikum willkommen und begrüßte namentlich Raphael Quandt vom Ökumene-Referat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB), aktuell Arbeitgeberin von 30 Alumni der Ausbildungsstätte der EKR.

Für die Lehre, die täglich in einem Altbau des Hermannstädter Universitätsviertels stattfindet, sind mehrere Bezeichnungen im Umlauf: Studiengang Evangelische Theologie in deutscher Sprache, Studiengang Protestantische Pastoraltheologie in deutscher Sprache, Protestantisch-Theologisches Institut Hermannstadt, Theologisches Institut Hermannstadt, und, bei Miteinbeziehung der Trägerinstitution in die Aufzählung, Departement für Geschichte, Kulturerbe und Protestantische Theologie an der staatlichen Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt, in deren Struktur das Ausbildungsangebot der EKR 2006 integriert worden war. Die Fakultät für Sozial- und Humanwissenschaften anzufügen erschwert zusätzlich die Suche nach dem Kern des Studienganges, der sich als eine dem Nachwuchsbedarf der EKR an Pfarrerinnen und Pfarrern zuarbeitende Einrichtung verstanden wissen will.

Besondere Herausforderungen in Zeiten der Diktatur

Jahrhundertelang hatten Pfarrer der EKR an ausländischen Universitäten Theologie studiert. Ein Weg, der mit Errichtung des kommunistischen Regimes jäh ungangbar wurde. Der vorgeschobene Riegel galt auch den Lutheranern ungarischer Verkündigungssprache, den Reformierten und den Unitariern. Auf gemeinsames Ansuchen hin genehmigte die Regierung im Herbst 1948 die Gründung des „Vereinigten Theologischen Instituts mit Universitätsrang der protestantischen Kirchen in Rumänien“ in Klausenburg. 1955 siedelte der akademische Zweig der EKR nach Hermannstadt in das Bischofspalais auf dem Großen Ring um. Die Zeitzeugen Wolfgang H. Rehner, Bibliothekar des Landeskirchlichen Zentralarchivs der EKR in Hermannstadt; Dr. Hermann Dankwart Pitters, emeritierter Professor sowie ehemaliger Dekan des Theologischen Instituts Hermannstadt und langjähriges Mitglied der Orthodox-Lutherischen Lehrgespräche; Prof. Dr. D.h.c. Christoph Klein, emeritierter Bischof der EKR von 1990 bis 2010; und Dr. Hans Klein, emeritierter Professor für Altes und Neues Testament am selben Institut sowie ehemaliger Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt (DFDH), hielten in der EAS Rückschau auf die ersten sechzig Jahre der Ausbildungsstätte.

Frauenordination war damals noch kein Thema in der Struktur der EKR, weswegen 1960 sämtliche weiblichen Studierenden des Theologischen Instituts Hermannstadt durch Regierungsbefehl exmatrikuliert wurden. Der Verwaltungsmangel wurde wenige Jahre vor dem Umsturz 1989/1990 auf Bemühungen von Prof. Dr. D.h.c. Christoph Klein hin behoben, die Änderung vom Kulturministerium der Sozialistischen Republik Rumänien akkreditiert. Nicht weniger kontrovers stand es um die Gehaltsbezüge des Lehrkörpers, dessen Tätigkeit zur Gänze vom Staat finanziert wurde. Paradoxerweise von genau jenem Staat, dessen Enteignungspolitik auch im Immobilienbesitz der Konfessionsgemeinschaften Verluste herbeigeführt und Kirchen ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt hatte.
Dr. Zsolt Geréb, emeritierter Professor am Protestantisch-Theologischen Institut Klausenburg, weiß von Pfarrern der ungarischsprachigen Evangelisch-Lutherischen Kirche Rumäniens zu erzählen, die Gemeindemitglieder nicht beerdigen wollten, wenn letztere die Kirchenbeitragzahlung verweigert hatten. „Sobald aber der Staat sich einschaltete, mussten die Geistlichen sich dem Machtwort beugen. Der Staat hatte eine Lücke gerissen und gab dennoch Acht, sie zu füllen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen politischer Restriktion und christlicher Freiheit ist eine doppeldeutige und nicht ausschließlich negative Angelegenheit.“

Obschon bissiges Nacherzählen niemals fehl am Platz ist, dürfte auch Relativierung interessieren. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) existierten die meisten selbstständigen kirchlichen Ausbildungsstätten im gesamten Ostblock. Dr. Christoph Kaehler, Professor an der Universität Leipzig von 1992 bis 2001 und Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen bis 2008, mahnt zu kühler Rückblende: „Kirchliche Einrichtungen in der DDR waren eine ,Insel im roten Meer‘. Ihre Freiheit war relativ groß, aber eben nur relativ. Sie stellten einen einzigartigen Reichtum dar, andererseits jedoch war die Berufung von Dozenten für klassische, nicht ausschließlich theologisch orientierte Gegenstände ein Problem.“

Eine von mehr als dreißig Vortragseinladungen war an Dr. Emese Gyöngyvér Veres gerichtet worden. Die studierte Kulturanthropologin und aus dem Burzenland/Țara Bârsei gebürtige Angehörige der ungarischen Minderheit der Tschangos ist derzeit als Redakteurin des Ungarischen Rundfunks tätig und hätte über „Den ungarischen Aufstand 1956 und die Folgen für das Theologische Institut – aus der Sicht der Akten der CNSAS“ (Nationalrat für das Studium der Securitate-Archive; Anm. d. Red.) referieren sollen. Leider hatte Dr. Veres bis zum Zeitpunkt der Tagung keine Forschungsgenehmigung seitens der Archivbehörde erhalten. Der Vortrag zum spannenden Thema musste daher ausfallen.

Alte Traditionen, neues Licht

Transsylvanien und seine protestantischen Kirchgemeinschaften geben sich seit jeher als Träger humanistisch aufgeklärter Bildung. Laien kennen bestimmt die Namen der Wittenberger Exponenten Martin Luther (1483-1546), Philipp Menlanchthon (1497-1560) und des Schweizer Reformators Huldrych Zwingli (1484-1531), aber nicht die teils markanten Binnenunterschiede zwischen sächsischem Diskurs und Zürcher Ausrichtung. Auf alle Fälle war Siebenbürgen „sehr aktuell am humanistischen Geschehen seiner Zeit dran“, wie Dr. Attila Verók, Professor an der Károly-Esterházy-Universität für Angewandte Wissenschaften in Eger (Ungarn), bestätigt. Differenzen auf der Westachse wurden östlich im Karpatenbogen wahrgenommen, hemmten aber nicht die Entstehungsgeschichte des breitgefächerten Siebenbürgen. Hierin einig waren sich die Tagungsreferenten Thomas [indilariu, Archivar und Bibliotheksleiter der evangelischen Honterusgemeinde A.B. Kronstadt/Brașov, Dr. Robert Allan Kolb, emeritierter Professor am Concordia Seminary St. Louis (USA, Bundesstaat Missouri), und Dr. Armin Kohle, Lehrstuhlinhaber an der Universität Leipzig. Das Maß aller Dinge im evangelischen Kronstadt und ganz Siebenbürgen des Reformators Johannes Honterus (1489-1549) war die Loslösung vom römischen Ritus. Dass man sich eher Wittenberg denn Zürich anschloss, ist nicht als Ergebnis eines innerevangelischen Konflikts zu deuten.

Dr. Adinel Ciprian Dincă, Privatdozent an der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg (UBB) und Forscher der Rumänischen Akademie, referierte zu „Bildung und Schriftlichkeit der siebenbürgisch-sächsischen Pfarrer“ und stellte eine Grafik der drei ineinandergreifenden Zahnräder Ausbildung, Know-how und Sachkenntnis sowie Mobilität und akademische Netzwerke vor. Ulrich A. Wien, Vorstandsvorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde e.V. Heidelberg und akademischer Direktor am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau, warf ein, dass die Annahme eines überdurchschnittlich hohen Bildungsstandes in den Reihen der siebenbürgisch-sächsischen Pfarrer der Reformationszeit nicht ausnahmslos zutrifft: „Nicht alle von ihnen waren akademisch versiert!“

Das internationale Forscherfeld spricht sich für Differenzierung bezüglich der Beziehungen Luthers und Melanchthons zu Siebenbürgen aus. Luther sei zwar über die Lage in Siebenbürgen informiert gewesen, habe sich aber trotzdem nicht innerlich an ihr beteiligen wollen. Anders Melanchthon, dessen Schreibtisch Zentrum eines Netzwerkes aktiver und ehemaliger Studierender aus Ungarn und Siebenbürgen war, die auf beiderseitigen Briefwegen kommunizierten und über das Ausbreiten der in Wittenberg aufgenommenen Lehre in ihren Wirkungskreisen berichteten. „Es diente nicht allein der Freundschaftspflege, sondern auch gegenseitiger Kontrolle. Ausscheren blieb nicht unbemerkt. Ein Beispiel dafür ist Gáspár Heltai (1520-1574), der ab 1544 in Klausenburg lebte und sich 1559 der antitrinitarischen Bewegung um Franz Hertel (Davidis) anschloss“, so Dr. Christine Mundhenk, Leiterin der Melanchthon-Briefwechsel-Forschungsstelle an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

„Luther und Honterus miteinander zu vergleichen ist gerade so, als ob man eine Gegenüberstellung der USA mit Liechtenstein anstellen wollte“, sprach Luther-Experte Dr. Volker Leppin, Lehrstuhlinhaber an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Der vom katholischen Glauben abgetretene Augustinermönch bewunderte den Islam, nahm ihn aber als ernste Bedrohung des Abendlandes wahr. Doch für Dr. Johannes Ehmann (Jahrgang 1958), Privatdozent an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, ist „Auseinandersetzung mit dem Islam, wie wir sie von Luther kennen, bei Honterus nicht feststellbar“. Dr. Kenneth G. Appold, ehemaliger Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und derzeit am Princeton Theological Seminary (USA, Bundesstaat New Jersey) vorlesend, artikulierte eine solide These: „Bei Luther konnte es im Widerstreit mit dem Islam nur Sieger und Verlierer geben. Für Ungarn gab es da aber ein Zusammenleben!“

Dr. Dorothea Wendebourg, theologische Richterin am Verfassungsgerichtshof der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und emeritierte Professorin an der Humboldt-Universität Berlin, erörterte die Frage „Gesprächsangebote oder Bekehrung? Zum Ziel und Zweck der Kontaktaufnahmen zwischen Reformatoren und ostkirchlicher Orthodoxie“ und sprach ein sperriges Fazit aus: „Weder das eine noch das andere!“. Wortführer aus Konstantinopel bezichtigten Tübinger Briefpartner hartnäckig der Häresie. Nicht unerheblich belastend wirkten sich auch innerchristliche Verleumdungen aus, von Rom bewusst genährt und verbreitet. Das auf den Türkenkriegen beruhende Interesse der Reformatoren an Vertretern der Orthodoxie zeitigte keine das Abendland befriedigende Kommunikation.

Spannungsverhältnis Ethnie und Kirche 

Die Einführung der rumänischen Sprache geschah in der Orthodoxen Kirche Rumäniens (BOR) erst spät, um 1700, ist aber dennoch eine „Frucht der Reformation“, so Dr. Ulrich A. Wien. Dr. Paul Brusanowski, Professor an der ULBS, sprach über den 1583 verstorbenen orthodoxen Priester, Übersetzer und Buchdrucker Diakon Coresi, der sich 1560 in Kronstadt niedergelassen hatte. Laut Dr. Brusanowski herrschen aktuell in der BOR dazu unterschiedliche Ansichten: Zum einen wird interpretiert, der aus Târgoviște stammende Diakon Coresi hätte sich nach Kronstadt begeben, „um die Kirche der Rumänen zu reformieren“, das anti-nationalistische Lager derselben Kirche vertritt dagegen die These, Coresi habe allein die merkantile Absicht verfolgt, Buchhandel zu treiben.

Dr. Edit Szegedi, Privatdozentin an der UBB, hält fest, dass „die Hierarchie der Konfessionen sich mit der politischen Hierarchie nicht vollständig deckte, was Freiräume ermöglichte oder aber im Gegenteil Grenzen setzte“. Dr. August Schuller, bis Frühjahr 1990 Stadtpfarrer der EKR in Schäßburg/Sighișoara/Segesvár und seit 2005 im Ruhestand in Brühl (Deutschland) lebend, argumentierte emotional: „Die Siebenbürger Sachsen wussten, warum sie evangelisch geworden waren!“
Abschließend lässt sich konstatieren, dass während der Tagung in der EAS vorausschauend hinterfragt wurde. Nicht umsonst hatte Moderator Ulrich A. Wien zu Beginn der Tagung geschwärmt, die Begegnung könne der nach Westen orientierten Wissenschaft helfen, auch mal etwas vom Osten zu erfahren.