Unterwegs für einen Fußballklub

Von Klausenburg nach Regensburg und zurück – per Anhalter in 65 Stunden

Großstädte zu meiden, ist eine der goldenen Regeln des Trampens über lange Strecken. Die Autofahrer sind oft gestresst vom innerstädtischen Verkehr und viele fahren lediglich in die Vorstädte. Auch nimmt es viel Zeit in Anspruch, von dem einen an das andere Ende der Stadt mit dem Nahverkehr zu gelangen.

In ihrem Seemannslied singt die Band Lupus in Fabula: „Hansa Rostock hier und dort, mit Hansa Rostock ziehen wir fort“. Als Mecklenburger ist man es gewöhnt, zweimal im Monat die Strapazen auf sich zu nehmen und in Zügen und Bussen an Bord zu gehen, wie es in der Hommage an den Club von der Ostsee weiter heißt. Unzählige Wochenenden haben wir in den Zügen der Deutschen Bahn verbracht, ob Bremen, Mainz oder Unterhaching, immer der „Kogge“ hinterher.

Nach einer viel zu kurzen Nacht klingelt um acht Uhr am Freitagmorgen der Wecker. Dieses Mal nicht in Rostock sondern in Klausenburg. Meine erste Auswärtsfahrt nach fast vier Jahren steht bevor, Regensburg ist das Ziel. Etwas mehr als 24 Stunden haben wir Zeit, die Oberpfalz zu erreichen. Mit mir wird sich eine gute Freundin auf den Weg machen. Fußball interessiert sie nicht, doch das Abenteuer, 2200 Kilometer nach Deutschland und zurück zu trampen, reizt auch sie. Schon lange habe ich mir vorgenommen, zu einem Auswärtsspiel von Hansa Rostock per Anhalter zu fahren. In der Woche vor dem Spiel fälle ich die Entscheidung: jetzt oder nie. Als [tefania zusagt, gibt es kein kurzfristiges Zurück mehr.

Am Mittag erreichen wir die rumänisch-ungarische Grenze. Etwas unbeholfen stehen wir an der Tankstelle. Ich bin zwar schon häufiger getrampt, doch selten mehr als ein paar Kilometer und schon gar nicht über eine Landesgrenze. Am Straßenrand halten wir den vorbeikommenden Fahrzeugen unser Schild mit der Aufschrift „Budapest“ entgegen – niemand hält an. Als ein BMW mit Münchener Kennzeichen zum Nachtanken abbiegt, machen wir uns auf den Weg. Wir wollen fragen, ob er uns mitnehmen kann. Drei Stunden später zeigt unser Schild „Györ“ und ein serbisch-ungarischer LKW-Fahrer ruft uns in sein Führerhaus. Auf dem Weg nach Tatabánya erzählt er von seinen Fahrten in den Kaukasus, nach Syrien und Norwegen. Vor dreißig Jahren hat er sich auf den Straßen der DDR etwas Deutsch angeeignet. Wenn wir gemeinsam lachen, übersetze ich für [tefania.

Später wird sie sagen, dass auch sie Deutsch lernen sollte. Zum Abschied lädt er uns noch auf einen Kaffee ein. Die Nacht verbringen wir im Familienwagen einer Altenpflegerin aus Szeged. Seit Jahren schon arbeitet sie in Deutschland. Sie erzählt von den Schwächen im deutschen Pflegesystem und ihren 24-Stunden-Betreuungen, die immer dann enden, wenn ihr Patient stirbt. Unsere Fahrt führt uns quer durch Österreich bis nach Rosenheim. Viele Fragen stellt sie nicht, aber zu erzählen hat sie viel. Es scheint, als brauche sie jemanden, der ihr zuhört, sie durch die Nacht begleitet. Gegen halb fünf in der Früh erreichen wir den Bahnhof der oberbayerischen Stadt. Irgendwo zwischen Linz und Salzburg muss ich eingeschlafen sein. Die letzten Kilometer legen wir mit dem Zug zurück.

In Regensburg schauen wir uns die Altstadt an, besichtigen den Dom und entspannen im Inselpark. Doch was zählt, ist Hansa Rostock. Endlich wieder im Auswärtsblock stehen, alte Freunde treffen und die bekannten Lieder singen – zu Hause sein. Dass die Kogge auf dem Spielfeld durch zwei Standartsituationen verliert, ärgert alle mitgereisten Fans, doch zumin-dest für mich ist das heute eher nebensächlich. Ich bin überglücklich, es zum Spiel geschafft zu haben und für 90 Minuten hatte ich sogar vergessen, dass ich die gleiche Strecke auch noch wieder zurückgelangen muss.

Kurz nach Spielende stehen wir an der nächstgelegenen Autobahnauffahrt, zu-nächst leider an der seltener genutzten. Einer der wenigen vorbeikommenden Fahrer weist uns dankenswerterweise auf diesen Umstand hin. Die verlorene Zeit hält sich in Grenzen. Doch auch an der richtigen Auffahrt müssen wir uns in Geduld üben. Unser Schild legen wir schon nach wenigen Minuten beiseite. An der gegenüberliegenden Ampel sprechen wir die Fahrer stattdessen direkt an. Dutzende Male erhalten wir als Antwort „Ikea“ und „Straubing“. Mittlerweile ist es Abend und die Sonne brennt noch immer. Wie erwartet, ist der Weg auf die Autobahn der schwierigste Abschnitt. Erst nach zwei Stunden sind wir wieder in der Spur und werden einige Kilometer hinter Straubing abgesetzt. Unser Fahrer hat dafür sogar einen Umweg in Kauf genommen. Von überallher hören wir Rumänisch. Die Raststätte ist voll mit Menschen, die unser Reiseziel teilen, doch voll sind auch ihre Autos. Bei einem Kaffee komme ich mit einer Bukaresterin ins Gespräch. Ihr Mann arbeitet in Mannheim, sie hütet das gemeinsame Kind. Ab September wird das Mädchen in den Kindergarten gehen, dann soll sie auch Deutsch lernen. Jetzt wollen sie erst mal die Verwandten in Bukarest und Suceava besuchen. Sie wünscht mir eine gute Fahrt. Dass ich per Anhalter unterwegs bin, habe ich nicht erwähnt.

Nur wenige Fahrzeuge mit österreichischem Kennzeichen machen hier Halt. Wir nehmen es gelassen, atmen tief durch, essen etwas, beobachten und genießen den Moment. Es ist ein besonderes Gefühl von Freiheit, das Trampen, schwer in Worte zu fassen, aber das Ungebunden sein und das Verlieren des Zeitgefühls reizt mich. Irgendwann kommt man schon an. Mit dem Einbruch der Dunkelheit finden wir eines der ersehnten Kennzeichen – kein Platz. Wenig später sitzen wir trotzdem auf der Rückbank des Kombis. Das junge Mädchen, welches mit ihrem Vater gerade aus Belgien kommt, verrät, dass ihre Schwester gerade selbst mit dem Rucksack und per Anhalter durch die Welt reist. Sie sehen es als eine moralische Verpflichtung an, uns mitzunehmen. Mitten in der Nacht erreichen wir Sankt Pölten und finden sogar noch eine Mitfahrgelegenheit nach Györ. Um vier Uhr liegen wir schließlich erschöpft in unserem Zelt, an der Autobahn. Mehr als ein kurzes „Gute Nacht“ bringen wir beide nicht mehr über die Lippen.

An einer Raststätte vor Budapest begrüßt uns ein Wandergeselle auf Englisch. Ich frage, ob er ebenfalls Deutsch spreche. Er bejaht. Ich frage, ob sein Ziel Hermannstadt sei. Er bejaht abermals. Ich sage: „Ich weiß“. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt uns, dass er über mehrere Stunden in Wien festsaß und schließlich im Freien übernachten musste. Das sei aber nicht unüblich für Wandergesellen, fügt er hinzu. Beeindruckt bin ich von seinem Auftreten gegenüber Autofahrern. „Hallo! Wollen Sie nicht gerne einen Wandergesellen mitnehmen?!“ Dieses Mal dauert es nur wenige Minuten und er sitzt zusammen mit einer französischen Wandergesellin im gewünschten Auto Richtung Kecskemét. Wir haben weniger Glück, niemand möchte Budapest in Richtung Szolnok umfahren. Eigentlich ist es keine gute Idee, denn aus Großstädten ist es schwierig wieder hinauszukommen, doch uns bleibt keine andere Wahl, als mit in die ungarische Hauptstadt zu fahren.

Zwei Stunden lang stehen wir an der Auffahrt zur Autobahn M5. Also eigentlich steht nur Ştefania. Mir schmerzt der Kopf vom wenigen Schlaf. Sitzend auf der Bordsteinkante bin ich keine große Hilfe. Ich will aufgeben, morgen frei nehmen und in einem Hostel entspannen. Doch unbeirrt streckt Ştefania ihr Schild den Autofahrern entgegen. Erst als auch sie aufgeben will, hält ein Wagen. Wir sollen einsteigen. Der Fahrer ist nochmal umgekehrt. Er hat das Schild gelesen und Mitleid mit uns bekommen. Er spricht Deutsch und erklärt, dass wir von hier aus nie nach Szolnok kommen werden. Wir hätten uns an die „4“ stellen sollen. Das ist die Straße, die Ştefania vorgeschlagen hat, und auch die Europastraße nach Klausenburg. Er schlägt uns vor, die Grenze bei Nadlak zu überqueren. Das wäre allerdings ein enormer Umweg und wir würden Klausenburg heute nicht mehr erreichen. Schließlich fährt er einen Umweg und setzt uns bei Kecskemét an der Straße Richtung Cegléd ab. Ich kann nicht mehr und muss mich übergeben. Wie aus dem nichts, hält ein Auto. „Don’t worry. I am a race driver“, ist das Erste, an was ich mich wieder erinnere. Während wir durch die Puszta rasen, erzählt uns der Hobby-Rennfahrer von dem Streit mit seiner Ex-Frau um das Sorgerecht des gemeinsamen Kindes. Er will es gerade besuchen fahren. Wir sind beeindruckt, wie tief ins Innere uns ein Fremder blicken lässt, mit dem wir nur wenige Minuten unseres Lebens verbringen. Als wir aussteigen, stehen wir an der Europastraße in Richtung Klausenburg. Auch er hat für uns einen Umweg in Kauf genommen.

Es ist mittlerweile Nachmittag. Wir beide wollen nur noch nach Hause. Drei weitere Fahrer nehmen uns mit, doch lediglich für kurze Abschnitte. Bis zum Abend legen wir nur noch 100 Kilometer zurück. An einer Tankstelle bei Karcag treffen wir auf einen liegengebliebenen Kleinbus mit Ziel Klausenburg. Sobald die Panne behoben sei, können wir mitfahren. Wir verhandeln kurz den Preis und wenig später fallen auch schon meine Augen zu. Ich bin dankbar, noch in der Nacht wieder zu Hause zu sein. Energie habe ich keine mehr. Für einen kurzen Moment sind wir zwar enttäuscht, nicht die gesamte Strecke per Anhalter zurückgelegt zu haben, doch sind wir auch überglücklich, dieses Abenteuer gemeinsam durchlebt zu haben. Es hat uns als Freunde noch enger zusammengeschweißt. Am nächsten Morgen sind auch die Strapazen wieder vergessen. Zurück bleiben unvergessliche Erinnerungen und der Plan, einmal ohne Zeitdruck und ohne Ziel auf diese Art zu reisen. Am Dienstag treffe ich den Wandergesellen Gregor in der Casa Calfelor auf ein Bier. Er hatte Hermannstadt noch am Sonntagabend erreicht.