Valle d’Aosta: Echos alter Handwerkskunst in der Gegenwart

Die Genossenschaft Les Tisserands aus Valgrisenche schützt und entwickelt die Webkunst des Valgrisenche-„Drap“ – ein grobes Tuch aus einheimischer Rosset-Schafwolle, das auf alten Ahornwebstühlen gewebt wird. | Foto: Les Tisserands

Holzartefakte werden auch durch Drehen auf Holzdrehbänken hergestellt. | Fotos: Irina Radu

Die hölzernen „Sabots“ aus der Ayas-Region im Herstellungsprozess

Holzwerke von Francesco Di Vito

Die Region Valle d’Aosta in den italienischen Alpen ist bekannt für ihre uralten Handwerkstraditionen. Ortsspezifische Utensilien, Kleidungsstücke und Dekorationen bewahren das authentische Etikett „Hergestellt im Valle d’Aosta“. 

Die Natur war sehr großzügig mit Italiens nordwestlicher Region von Valle d’Aosta – die schneebedeckten Gipfel von Mont Blanc und Gran Paradiso bewachen duftende Almwiesen, wirbelnde Flüsse, Wasserfälle sowie Seen und dichte Wälder. Neben Wandern, Berg- und Skifahren zeichnet die Valle d’Aosta eine besondere Attraktion aus – die Handwerkskunst. 

„Das Handwerk wurde mit den Menschen geboren, denn sie mussten schon immer die Werkzeuge und Gegenstände bauen, die sie brauchten. Dies gilt insbesondere für die alpine Bevölkerung“, so Jean-Paul Vai von der Entwicklungsabteilung des Geschäftenetzwerks für Handwerkskunst „L’Artisana“. „Aufgrund der Entfernung und der Rauheit des Territoriums hatten Einheimische größere Schwierigkeiten, Tausch- und Handelsgeschäfte zu betreiben. Es gab die Notwendigkeit, die Bedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen, die die Menschen zu Handwerkern machte. Man lernte nach und nach, das zu verarbeiten, was die Natur bot: Holz, Stein, Ton, Eisen, Leder. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die ursprünglich geschaffenen rudimentären Objekte modifiziert, weiterentwickelt und nahmen ihre heutige Form an“, so der Mitarbeiter. 

Unabhängige Handwerker, Klein- und Kleinstunternehmen und Labors produzieren heute kontinuierlich Waren nach dem Vorbild ihrer Vorfahren. Das Produzentenregister der Autonomen Region Valle d’Aosta meldete in September 2022 etwa 180 Unternehmen im traditionellen Handwerkssektor. Das Kunsthandwerk bleibt ein Motor für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in der Region, der die lokalen Gemeinschaften unterstützt. 

Die sich allmählich entwickelnde Infrastruktur mit Seilbahnen, Sesselliften, Straßen, Tunnel und Eisenbahnen ermöglichte denjenigen aus anderen Teilen der Welt, diese Gegend mit ihren handwerklichen Kreationen das ganze Jahr über zu genießen. 

Kunsthandwerk im Zeichen von Sant’Orso von Aosta

Die handwerklichen Traditionen werden in vielen schriftlichen Werken beschrieben, zum Beispiel in dem von Francesco Di Vito „La Fiera Di Sant’Orso. Un artigiano racconta“ (Die Saint Ours-Messe. Ein Handwerker erzählt). Der in der Lombardei geborene Autor zog 1965 ins Valle d’Aosta, um später als Arzt am Krankenhaus von Aosta – Hauptstadt der autonomen Region Valle d’Aosta – zu arbeiten. Im Laufe der Zeit eignete er sich Wissen über die lokale Tradition an. Er schrieb sich auch in traditionellen Holzbildhauerkursen ein und stellte als Hobbyhandwerker auf den „La Saint Ours“-Messen im Januar und August aus.

In Aosta wird noch immer die Erinnerung an die glorreiche Römerzeit bewahrt. Das historische Zentrum im Schatten der Ruinen Porta Praetoria und Augustus-Bogen verwöhnt mit lokalen Geschäften, Restaurants und nicht zuletzt den von den örtlichen Behörden organisierten „La Saint Ours“-Messen.

„In den letzten Jahren wird ein erlebnisorientierter Tourismus in Valle D’Aosta immer beliebter. Es wird ein starkes Eintauchen in das Verständnis des sozialen, historischen und kulturellen Gefüges des Ortes angestrebt“, konstatiert Jean-Paul Vai von L’Artisana. Laut dem offiziellen Tourismusportal könne der Ursprung der seit etwa tausend Jahren jährlich abgehaltenen Messe mit einer der Formen der Wohltätigkeit zusammenhängen, die zuerst von Sant’Orso durch die Verteilung von Holzschuhen und Kleidung an die Armen praktiziert gewesen sei. Die Traditionen des Heiligen von Valle d’Aosta sollen im gesamten Mittelalter von der Kirche fortgeführt werden.

Die vielen Facetten des Holzhandwerks

Im Kunsthandwerk von Valle d’Aosta ist Holz eines der am häufigsten verwendeten Materialien. Viele Holzarbeiten haben sowohl dekorativen als auch praktischen Wert.

Die traditionellen Holzdekorationen thematisieren das bäuerliche Leben in den heimischen Bergen. In den Holzdarstellungen der Kunsthandwerker finden sich alpenspezifische Kuhrassen wie die Pezzata Rossa, Pezzata Nera und die Castana wieder. Unter den Kunstwerken sind auch Darstellungen von Dorfbewohnern und Bergsteigern zu finden. „In jedem Dorf im Valle d’Aosta werden die meisten Ställe, die keine Kühe mehr beherbergen, zu behelfsmäßigen Handwerksbetrieben“, sagt Di Vito. „Alle Holzobjekte, die auf den lokalen Handwerksmessen und in lokalen Geschäften präsentiert werden, werden von einem spezialisierten Gremium analysiert – nur Hölzer, die in der Natur von Valle d’Aosta vorkommen, wie Zirbe, Wacholder, Eiche, Walnuss oder Apfel, können verwendet werden“, so Di Vito. Der ehemalige Arzt begann zuerst mit der Herstellung von „Cornailles“ – rustikale Spielzeuge in der Form von vereinfachten Kuhkörpern mit zwei kleinen Hörnern, ähnlich wie Handkatapulte.

Die einst von Sant’Orso verteilten hölzernen „Sabots“ werden heute unter anderen von der Genossenschaft Li Tsacolé d’Ayas, in der Region am Fuße des Monte Rosa im Valle d’Aosta, produziert. Diese aus einem Stück Holz gefertigten Schuhe gelten lokal als Vorläufer der Bergschuhe. Obwohl sie nicht so viel Fußmobilität zu verleihen scheinen, eigneten sich die „Sabots“ in uralten Zeiten für das Klima und die Beschaffenheit des Bodens. Heute werden sie meist zu dekorativen Zwecken verwendet. 

Bemühungen um den Austausch zwischen Generationen

„Viele junge Menschen erleben Handwerk als Ausdruck von Tradition, beteiligen sich aber nicht direkt daran. Heute besucht nur noch eine Minderheit der Jugendlichen Kurse und stellt Objekte her“, sagt der Kunsthandwerker Francesco Di Vito. 

Allerdings glaubt Jean-Paul Vai von L’Artisana, dass der wahre Wert der Dinge nur durch langsame, manuelle Arbeit wiedererlangt werden kann, die tief in der Geschichte des Ortes verwurzelt ist. „Diejenigen jungen Kunsthandwerker, die sich für die Wiederbelebung teils uralter Produktionsformen wie die Verarbeitung der Schnupftabakdosen in geschnitzter Birkenrinde entscheiden, können das Handwerk qualitativ aufwerten“, sagt er.

Laut Jean-Paul Vai stehen einige Handwerker tatsächlich kurz vor dem Ruhestand, was bedeutet, dass es in den nächsten Jahren seitens der jungen Menschen die Möglichkeit geben wird, einige bereits sehr etablierte Unternehmen zu übernehmen.

Es geht auch darum, ein sehr subtiles Gleichgewicht zwischen der Erhaltung der Tradition und dem Wunsch nach Innovation zu finden. Der Markt verlangt beides. Insbesondere im Hinblick auf Produktinnovationen sehen die Behörden ein starkes Wachstum sowohl der Nachfrage als auch des Angebots an keramischen Objekten wie emaillierten Schalen, Behältern, oder auch kleinen Skulpturen.

Handarbeit und Kleinserienfertigung

Auch Textilprodukte findet man in Valle d’Aosta an jeder Ecke. Die 1969 gegründete Genossenschaft Les Tisserands aus Valgrisenche schützt und entwickelt die Webkunst des Valgrisenche-„Drap“ – ein grobes Tuch aus einheimischer Rosset-Schafwolle, das auf alten Ahornwebstühlen gewebt wird. „Unsere Genossenschaft ist komplett weiblich, wir sind vier Kunsthandwerkerinnen und arbeiten das ganze Jahr über im Atelier“, sagt Luana Usel, eines der Mitglieder. 

Die Genossenschaft hat jedoch eine möglichst kurze Lieferkette. „Wir wollen einen regionalen, nicht globalisierten Markt erleben. Es ist immer schön, eine Realität darzustellen, die sich von der Massenproduktion abhebt. Das Publikum findet einzigartige, handgemachte Stücke sowie maßgefertigte Artikel und Kleidung. Hinter jedem Artefakt steckt ein immaterieller Wert“, erklärt Usel. 

Les Tisserands macht alles, von Hausdekorationen wie Vorhängen, Decken oder Teppichen bis hin zu traditionellen Kostümen oder Accessoires. Die Genossenschaft änderte nie ihren Sitz von Valgrisenche. „Die Tradition des Webens von „Drap“ ist in dieser Region so tief verwurzelt, und unsere Genossenschaft hat im Laufe der Jahre die Rolle eines Bewahrers von Tradition und Erinnerung übernommen“, meint die Weberin. „Das Interesse der jüngeren Generation und das Bewusstsein für den Wert handgefertigter Artefakte wächst, aber es muss noch viel kommuniziert und gelehrt werden“, erklärt Luana Usel.

Was gibt es Schöneres, als das Schauspiel zahlreicher Stände in Gesellschaft eines kleinen Glases aromatisierten Genepy zu bewundern – ein typischer Likör von Valle d’Aosta mit einer Abstufung von 30° bis 42° Alkohol, der aus dem alpinen Bergkraut Artemisias durch Mazeration gewonnen wird.

L’Artisana, Teil des Institut für Kunsthandwerk im Valle d’Aosta (Institut Valdotain de l’Artisanat de Tradition), befasst sich seit 1942 mit dem Schutz und der Verbesserung der regionalen Handwerkskunst sowohl aus kultureller Sicht – durch ein Museum (Museo dell’Artigianato Valdostano) – als auch aus kommerzieller Sicht – durch ein Netzwerk von Bastelgeschäften in Aosta, Courmayeur, Champoluc und Cogne, die die Produkte der lokalen Kunsthandwerker verkaufen. Kurse für verschiedene Arten von Produktionen wie Bildhauerei, Korbflechterei, Keramik, Tuchherstellung werden von der Regionalverwaltung in vielen Gemeinden organisiert und von lokalen Handwerksmeistern gehalten, um diese tausendjährige Tradition am Leben zu erhalten.