Vom Martyrium bürgerlicher Obszönitäten zum Untergang

„Malmkrog“ oder die greifbare Stickigkeit und Verklemmtheit der Gesellschaft

Malmkrog
Foto: Wikimedia Commons

Malmkrog
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Kann Film eine religiöse Erfahrung sein? In den philosophisch aufgeladenen Diskussionen seiner austauschbaren Figuren schmückt Christi Puiu sein Śuvre mit einem ästhetischen Meisterwerk, das seinen gläsern-theoretischen Rahmen nicht zu durchbrechen wagt und den Kinozuschauer mit einem tiefen Seufzer entlässt. 

In Malmkrog/Mălâncrav, so heißt ein Dorf hinter den schneeverwehten Hügeln Siebenbürgens, diskutiert eine Gruppe von Aristokraten im vermeintlichen Schutz der bürgerlichen Zurückgezogenheit. Radikal ist dieser Film in seiner zutiefst stoischen Perspektive, wie seine Figuren bis auf das letzte Zucken mit den Mundwinkeln in ihren Rollen bleiben. Dabei führt Puiu seinen 2013 erschienenen Vorgängerfilm „Trei exerciții de interpretare” (drei Interpretationsübungen) fort und montiert die Dialoge und Ideen des russischen Philosophen Wladimir Solowjow in einem dichten Kammerspiel. Solowjow, ein Zeitgenosse von Dostojewski und Tolstoi, stellt in „Trei dialoguri despre sfârsitul istoriei universale“ (drei Dialoge über das Ende der universellen Geschichte) mit für heute verstörender Ernsthaftigkeit existenzielle Fragen an den Glauben. In den aufgegriffenen Passagen aus dem Buch finden wir Überlegungen zur Bibel und zum absoluten Guten oder zu Frieden und Tod. Zynisch ist dieser Versuch und fordernd – dem Zuschauenden Geduld, ein waches Auge und die Bereitschaft abverlangend, sich auf eine Konversation einzulassen, die ihn nicht im Geringsten betrifft. 

Das erdrückende Klima im Haus, das Zerren an den weißen Laken, die Klaustrophobie zwischen Tapeten und die rauschenden Kleider reichen aus, um die Monstrosität der vorweihnachtlichen Tischgemeinschaft in einem Bilderrahmen zu fassen – sie greifbar zu machen, die Stickigkeit und Verklemmtheit der Gesellschaft. Der Blick von Cristi Puiu gleitet oberflächlich über das Geschehen, verbirgt das Offensichtliche im Detailreichtum einer bis zum Höhepunkt getriebenen Gleichgültigkeit. Gleich-gültig sind die Figuren, die sich mit leeren Worten übertrumpfen – und gleichgültig auch das Schicksal, welches die Theoretiker einholt. Lautlos rieseln die zweihundert Minuten vor sich hin, reihen sich Gesprächsfetzen aneinander. Die reinen Handschuhe, das verstohlene Klirren des Porzellans auf der Tischdecke und die minutiösen Bewegungen des Dieners füllen den Bildschirm. Das Haus vibriert unter den strengen Formen, dem Detailreichtum, der Kontrolliertheit jedes Blickes. Die Kamera bleibt im Hintergrund, sie beobachtet stumm und schweift obszön nüchtern über die Szenen. Erlesene Dialoge prasseln auf das kleine Publikum nieder und damit entsteht auch die Versuchung, sich verschlingen zu lassen von der Fülle und Pracht der Bilder – oder mit müden Knochen aus dem Kinosaal zu flüchten.

Überladene Kostümfilme und Historiendramen wären ein abgestandenes Sujet für Puiu, stattdessen widmet sich Malmkrog in sechs Akten, die auf poetische Weise intertextuell ineinandergreifen, der Unmöglichkeit, eine theoretisch-philosophische Abhandlung in Bilder zu kleiden und diesen ihre Bedeutung im gleichen Moment vorwegzunehmen. Im Gegensatz zu seinem Vorgängerfilm nutzt Puiu jedoch nicht die Technik der Transformation, das bunte Mosaik, aus dem ein genuines Neues entsteht, sondern die Hierarchie von der Schrift zum Film ist klar erkennbar. Der Regisseur verzichtet vollständig auf Musik und auch auf Worte, wenn er die Landschaft und das überladene Innenleben des Hauses zeigt. Wir hören nur eine Gruppe von Colinde-Sängern, Bauern, die um das Haus streifen, aber nicht von der Linse erfasst werden. Die Revolution kommt leise im dritten Akt, als alle Beteiligten aus der verschneiten Nacht heraus ermordet werden.

Es könnte sich anbieten, Puius Filme als anticineastisch zu bezeichnen. Antikommerzieller und konsequenter an den Erwartungen der Zuschauenden vorbeigestrickt – schwer vorstellbar. Das Stück folgt den Personen, klebt statisch an ihren porträthaften, gepuderten Gesichtern. Die Figuren tragen einen kalten Glanz um sich, man kann sie nur aus der Distanz fixieren. Still ist das Leiden von Olga, einer zutiefst gläubigen jungen Frau, die mit dem Philosophen Nikolai verheiratet ist. Ihre Naivität wird von den anderen Besuchern mit lächelndem Mitleid vergolten. Wie eine Statue blickt sie in die Kamera, ihre Augen suchen die des Zuschauers nicht. Unter der Porzellanhaut leuchten zart die ersten Falten der Trauer, es ist noch keine Bitterkeit in ihnen. Die Figuren reihen sich nebeneinander wie in einem Drama von Tschechow, sich in ihrer Tragikomik überbietend. Widersprechen sich selbst und stolpern über ihre polierten Sätze. Unter den weichen Händen der Bediensteten siecht der letzte Nachkomme der Apafis in einem Hinterzimmer dahin. Der Aufwand dieser überbordenden Chronologie von Gesprächsfetzen ist lähmend und berauschend zugleich, entwickelt einen ganz eigenartigen Sog. Konservativ, beinahe bieder passt sich der Filmstil seiner Kulisse an. Dabei ist Malmkrog eine sensitive Erfahrung, schwer zu ertragen, es versteckt sich wie das Herrenhaus unter blankweißen Laken. Es bleibt nur noch die Frage offen, was dem Zuschauer dort eigentlich präsentiert wird. Die interessante Dualität des Werkes besteht aus der ästhetischen Kanonizität und der thematischen Deformität, die sich aus dem halb-ironischen Ping-Pong von Argumenten ergibt. 

Auf Umwegen kreisen die bürgerlichen Aristokraten um die Theorien, der Wortschwall erschöpft sie ebenso wie den Zuschauer. Und trotzdem kann man bei dieser konsequenten Ausführung nicht anders, als in diese schale Offenlegung der bürgerlichen Etikette hineingezogen zu werden. Wie leben wir mit dem Christentum, fragt sich das Ensemble, und was folgt auf die letzten großen Kriege? Die Charaktere ihrer Zeit werden von der Zukunft eingeholt und dennoch wäre es spannender, wenn Puiu seine Vision in einem weniger konventionellen Rahmen angelegt hätte. Vielleicht schadet die charmante Kurzweiligkeit seiner „Drei Interpretationsübungen“ dem schwermütigen Stoff Solowjows nicht. Wenn dort mehr Fragezeichen, statt dick aufgetragener Diskussionen wären.

Und am Ende fragt man sich ernsthaft, ob das dort schon ein Bluff oder noch etwas Interpretierbares sein kann, ein Konstrukt, das sich nicht nur an der eigenen Fülle berauscht und in seiner Übertreibung der Radikalität entbehrt, denn eben Letzteres scheint der Film hinter der montageartigen Technik zu verdecken. So intellektuell und vergeistigt neigt der Film zu sein, dass ein Hauch narratologischer Impulsivität nicht schaden würde, weil eine ästhetische Antwort auf die Ahnungslosigkeit, verborgen unter pathetischen Bildern, doch an einem Punkt anlangt, wo sie sich selbst rezipierend hinter dieser Ungenauigkeit versteckt. Es ist, als ob der Leser nur die Oberflächenschicht des Werkes rekonstruieren müsste, nicht aber die verschlungenen Pfade der Unterhaltung zusammenführen.

In selbstquälerischer Resilienz treibt der Blick über die Szenen, berührt sie nur und verliert den Fokus. Kunst um der Kunst willen? Die Aktualität des Films ist aus offensichtlichen Gründen nicht vorstellbar, aber in der Darstellung der Komplexität von Puius Erzählung ist der Zuschauer gezwungen, sich von den akzeptierten Gewohnheiten tradierter Formen zu lösen. Ebenso muss sich das Werk am Ende die Frage erlauben, ob die Entschlüsselung jenes mühselige Zusammenfügen der Puzzleteile legitimiert und wenn der Zuschauer jene Instanz sei, die der Geschichte Sinn und Bedeutung gibt, dann wird diesem eine Menge an ästhetischem Erlebnis vorweggenommen.