Von der Kirchenburg zum deutschen Forum

Mit Minderheiten-Reportern auf den Spuren der Siebenbürger Sachsen

Dr. Paul-Jürgen Porr: Forscher, Arzt, Siebenbürger Sachse – und Seele des deutschen Forums.
Fotos: George Dumitriu

In Honigberg/Hărman bauten die deutschen Siedler zunächst eine Dakerfestung als Fluchtburg wieder auf. Doch weil sich das Konzept nicht bewährte, wurde schließlich die Dorfkirche befestigt.

In Deutsch-Kreuz erzählen Karl Hellwig und die 96-jährige Sofia Folberth über sächsische Ordnung und Disziplin, Nachbarschaften, Richttag und Karneval. Beeindruckend: Hier wurde 1555 das erste Dorfschulrecht verfasst, das bald in ganz Siebenbürgen galt – bis 1945!

Warum sind die siebenbürgischen Kirchenburgen in den Dörfern einzigartig auf der ganzen Welt? Wie kommt es, dass die doch eher konservativen Siebenbürger Sachsen vor 500 Jahren geschlossen zum lutherischen Glauben übertraten? Wussten Sie, dass die Dorfschüler in Deutsch-Kreuz/Criț im 16. Jahrhundert Latein und Altgriechisch lernen mussten? Oder, dass die Kinder in den sächsischen Dörfern schon im Mittelalter Lesen und Schreiben konnten – einschließlich die Mädchen? Die Analphabetenrate war praktisch Null! Wo können Sie heute noch ihr Kind in einem Taufbecken aus der Zeit um Vlad Țepeș taufen? Wussten Sie, dass deutsche Einwanderer eine Dakerfestung wieder aufbauten - um sie als Fluchtburg zu nutzen? Wieso herrschen in den Kirchenburgen meist die Farben Lindgrün und Hellblau vor? Fragen über Fragen, die sich nicht nur der Tatare oder die Lipowanerin in unserer Reisegruppe stellen. Selbst eingefleischte Siebenbürgen-Kenner können die Antworten nicht immer gleich aus dem Handgelenk schütteln...

Aidun Curt Mola leitet unsere Delegation auf der fünftägigen Reise (16.-20. Juli) durch Siebenbürgen, auf den Spuren der Siebenbürger Sachsen. Ironie des Schicksals: Als Angehöriger der tatarischen Ethnie ist er der Nachfahre der einstigen Angreifer. Kaum ein Tag, an dem der gutmütige Spott der Mitreisenden dazu nicht über ihn hereinbricht. Die fünfte Journalistenreise auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der Minderheiten, mit dem sich das Departement für Interethnische Beziehungen der Rumänischen Regierung (DRI) im Rahmen der Donauraumstrategie befasst (in den ersten vier ging es in die Dobrudscha, ins Kreischgebiet, ans Eiserne Tor und durch das Szeklerland, siehe ADZ vom 13.7.2014, 16.7.2015, 17.7.2016 und 22.10.2017) führt uns von Kronstadt/Brașov über Schäßburg/Sighișoara nach Hermannstadt/Sibiu und Umgebung. Friedlich erobern wir auf dem Weg eine Kirchenburg nach der anderen: Honigberg/Hărman, Zeiden/Codlea, Deutsch-Kreuz/Criț, Meschendorf/Meșendorf, Almen/Alma Vii, Frauendorf/Axente Sever, Wurmloch/Valea Viilor, Heltau/Cisnădie und Michelsberg/Cisnădioara. Schnuppern ins Brukenthal und ins ASTRA-Museum hinein. Lassen uns im Spiegelsaal des Forumshauses über die Aktivitäten des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) aufklären: Schwerpunkte, Probleme, Haltung zu Minderheitenfragen. Forumsvorsitzender Dr. Paul-Jürgen Porr führt aus, warum Rumänien für Europa ein Vorbild hinsichtlich seiner Minderheitenpolitik ist, so dass das Forum den Antrag der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN) auf Verlagerung der Zuständigkeit der Minderheitenrechte  von den Staaten auf die EU (bekannt als „Minority Safepack“) zumindest nicht unterstützt.


In Schäßburg plaudert Volker Reiter (Leiter des  interethnischen Jugendbildungszentrums IBZ) über die Entstehung des multiethnischen Festivals ProEtnica. „Es geht mir nicht um die Traditionen“, räumt er offen ein. Ursprünglich ein Ableger des Schäßburger Mittelalterfests, steht bei ProEtnica die edukative Komponente im Vordergrund. Ziel: durch Völkerverständigung Frieden stiften. Langsam findet die Initiative auch im Ausland Gehör: Eine Schweizer Reiseagentur baute das Festival in eine seiner Rundreisen ein. Eine Gruppe Sorben (slawische Minderheit aus Deutschland) wird heuer an der ProEtnica-Akademie, einem wissenschaftlichen Begleitseminar für Jugendliche aus EU-Ländern, teilnehmen. Reiter hofft: „In vier bis fünf Jahren wollen wir das größte internationale multiethnische Festival sein.“


Unikate, weltweit: Dorfkirchenburgen


Einen historischen Überblick über Hermannstadt und das sächsische Siebenbürgen im Allgemeinen liefert der Historiker und Vizebürgermeister Răzvan Pop. Und hier sind wir auch schon bei der ersten Frage der Einleitung: Wieso die dörflichen Kirchenburgen weltweit einzigartig sind? In die Städte Siebenbürgens, erklärt Pop,  hat der Katholizismus eine Welle an slowakischen und österreichischen Künstlern gedrückt. Jede Generation brachte etwas mit sich: eine Mode aus Italien oder Frankreich, die in Europa gerade „in“ war. Wer also ursprüngliche sächsische Kunst entdecken will, kann dies nur in dörflichen Kirchenburgen.


Einzigartig sind diese aber auch, weil das Modell der befestigten Dorfkirche anderswo nicht existiert. Zwar gab es Befestigungen im Mittelalter zuhauf in ganz Europa – doch stand dort stets das Wohnhaus eines Fürsten oder Adligen im Mittelpunkt, der bei den freien Sachsen nicht existierte.


Die Idee der Befestigung der Dorfkirche reichte weit über den Schutz des Gotteshauses hinaus. In den Mauern wurden Vorräte (Getreide, Speck), Saatgutreserven, Kirchenschätze und Dokumente gelagert und es gab einen Brunnen. Ein Teil des Rathauses funktionierte dort. Alles was Wert hatte, befand sich im inneren Bering, denn im Angriffsfall blieb keine Zeit, erst zu packen. Aus diesem Grund hatte man auch die Idee der Fluchtburgen aufgegeben, die anfangs den Bewohnern aus mehreren Dörfern Schutz boten. Weil sich die Bauern ohne militärische Ausbildung nicht in der Lage sahen, zu kämpfen, verschanzte man sich in der Dorfkirchenburg und saß den Angriff einfach aus. So mancher Feind verzog sich nach ein paar Wochen, weil ihm die Vorräte ausgingen. Indessen ging das Leben in der Kirchenburg weiter:  Das Vieh weidete im Zwinger, die Kinder besuchten die Schule, sogar ein Gefängnis war in vielen Kirchenburgen vorhanden, erzählt Pop. Es hagelt Fragen: Zum Beispiel, warum die hölzerne Innenausstattung der dörflichen Kirchenburgen meist grün oder blau bemalt ist? Die Antwort reflektiert sächsischen Pragmatismus: „Das hat keine Symbolik. Diese Farben waren am einfachsten herzustellen.“
Hinter uns erhebt sich die evangelische Stadtpfarrkirche von Hermannstadt, leider nicht zu besuchen, weil in Restauration. Glanzstücke sind die größte Orgel Südosteuropas und das bronzene Taufbecken aus dem Jahr 1420: „Können Sie sich vorstellen, dass heute noch Kinder in einem Becken aus der Zeit um Vlad }epe{ getauft werden?“ Bemerkenswert auch die Wandmalereien: „Die Kreuzigungsszene finden wir in fast allen katholischen Kirchen. Doch was hier besonders ist, ist die Kleidermode – einige waren wohl Türken - und die Waffen aus dem 15. Jh.“ Sehenswert auch die Gräber der in der Kirche bestatteten Würdenträger aus dem 15., 16., 17. Jh. mit Stilelementen aus allen Epochen - „allein darüber könnte man eine Doktorarbeit schreiben“. Die Legende der unterirdischen Tunnel dementiert der Historiker: Allerdings seien die Keller miteinander verbunden gewesen, was eine unterirdische Bewegung durch die Stadt erlaubte.


Stark trotz starkem Schwund: das deutsche Forum


Über die Belange der deutschen Minderheit und die Aufgaben des DFDR lieferte Dr. Porr einen Überblick. Demografische Entwicklung: Am meisten Deutsche gab es vor dem Zweiten Weltkrieg, ca. 800.000. Durch Krieg und Deportation der aktiven Bevölkerung zur Zwangsarbeit in die ehemalige UdSSR (1945) wurden diese stark dezimiert. Mit den darauf einsetzenden Auswanderungswellen nahm die Zahl weiter ab: 1989 waren es 250.000, 1992 noch 120.000, 2002 zählte man 60.000 - „doch das war ein biologischer Schwund“, klärt Dr. Porr auf. Heute sind es um die 40.000: „Wie ein Stadtviertel.“ Einwanderung neuer Deutscher und Auswanderung halten sich etwa die Waage. Die sozialen Probleme und warum sich das Forum verstärkt um Altersheime bemüht, illustriert er wie folgt: „Vor 30 Jahren emigrierte die mittlere Generation, um die 40 Jahre. ‘Was soll ich mit 70 in Deutschland ?’ fragten sich deren Eltern – und blieben. Heute sind sie 90.“


Hauptinteressen der deutschen Minderheit, die das DFDR gegenüber dem In- und Ausland vertritt, sei der Erhalt der Sprache und der Schulen. An Schülern für die vor Jahrhunderten von den Sachsen gegründeten deutschen Schulen mangelt es nicht, nur die Lehrerknappheit sei ein Problem. Auch Jugendarbeit sei wichtig, Jugendorganisationen des Forums gäbe es aber leider nur in den Städten.


Auch der Blick über den Tellerrand ist ein Thema: So unterstützt das DFDR nicht nur Deutsche, wie Dr. Porr an einem landwirtschaftlichen Projekt in einem Dorf bei Klausenburg/Cluj-Napoca illustriert, in dem kein einziger Deutscher lebt. Dort wurde nach dem Kommunismus Land der Produktionsgenossenschaft CAP an die Bevölkerung rückerstattet – auch an die Roma, die vorher nichts hatten. Freiwillig schlossen sich alle zu einer Genossenschaft zusammen und erzielten durch gemeinsame Bearbeitung eine 7-8 fache Erntesteigerung. „Es war für uns ein politisches Modell! Auch die Roma arbeiteten mit und stahlen nicht mehr“, erklärt Porr. Unter die Sparte „Blick über den Tellerrand“ fällt auch die politische Arbeit des Forums: Seit vier Mandaten hält das DFDR die Mehrheit im Stadtrat von Hermannstadt, bei gerade mal zwei Prozent Deutschen. „Auch das ist einzigartig in Europa!“ Als Klaus Johannis zum Staatspräsidenten gewählt wurde, sahen viele im Ausland darin einen Beweis für wahre Demokratie in Rumänien.


Rumäniens Minderheitenpolitik: ein Beispiel für die EU


„Als Minderheit war man in Rumänien rechtlich - selbst unter Ceau{escu - besser gestellt als in anderen Ländern“, meint Porr. Das Land sei ein Modell, was Minderheitenrechte betrifft - „auch für die Länder, die die Demokratie ‘erfunden’ haben“, spielt er auf Frankreich an. „Im Französischen gibt es nicht einmal ein Wort für ethnische Minderheit.“ Als Beispiele führt er die Minderheitenfraktionen, aber auch die mehrsprachigen Schulen und Universitäten an. „Während wir unsere  deutschen Schulen behalten durften, war Deutsch in anderen Ländern verboten. Heute kann man das Abitur auf Deutsch absolvieren. Wir haben Universitäten mit deutschen und ungarischen Zweigen, in Klausenburg, Temeswar/Timișoara, Kronstadt, Bukarest. Allein an der Babeș-Bolyai Universität gibt es 27 ungarische Fakultäten und 17 deutsche Sektionen, wo man Mathe, Chemie, Physik und mehr studieren kann.“ Auch dies verdanken wir der langen Schultradition der Sachsen: „Im 15. Jh. konnten sächsische Dorfkinder, auch Mädchen, alle lesen und schreiben – anderswo war dies oft erst im 19 Jh. der Fall!“
Die Bemühungen der FUEN, den „Minority Safepack“ durch Sammlung von einer Million Unterschriften durchzusetzen, um die Zuständigkeit für Minderheitenrechte an Brüssel abzugeben, unterstützt das DFDR daher nicht. Man vertritt eine neutrale Position, unterzeichnet jedoch nicht. „Die Unterschriften kamen trotzdem zusammen - bleibt abzuwarten, was jetzt passiert.“


Auch von dem Gesetzesvorschlag zu einer Einführung von vier Minderheitensprachen – Ungarisch, Deutsch, Romanes und Russisch - in die rumänische Verwaltung hält er, von einer Teilnehmerin darauf angesprochen, nichts. „Betrachten wir das mal logisch: Die beiden größten Minderheiten sind die Ungarn und die Roma. Die Ungarn leben in kompakten Zonen – Harghita, Covasna. Und von den Roma können viele gar kein Romanes.“ Auch für die deutsche Minderheit sieht er keinen Bedarf an einer Amtssprache Deutsch. In welcher Sprache die Sitzungen im Stadtrat stattfänden, will eine Kollegin wissen? „Rumänisch, natürlich.“  Alle Fragen beantwortet? Nein, eine fehlt noch: warum die Sachsen geschlossen evangelisch wurden? Eine verblüffende Erklärung hierfür liefert uns Sofia Folberth in einem der zukünftigen Artikel...