Von Griechen und Lateinern – und ihrem Zwist

Ein orthodoxer Geistlicher im Westen weiß, warum es schwer ist

Im Herbst 2015 hat Vater Martin in seinem Ferienhaus in Rumänien ein Interview auf Rumänisch gegeben, das 2016 in vier Ausgaben der Monatszeitschrift „Familia Ortodoxă“ veröffentlicht wurde. | Foto: „Familia Ortodoxă“, Ausgabe Nr.5 (88)/2016, S. 62

Vater Martin H. Lissmann wurde 1937 in Deutschland geboren und lebt seit 1975 in Köln, wo er als Erzdiakon in der rumänischen Pfarrei „Allerheiligen“ dient. Marburg, Rom und Chicago waren die Stationen seines protestantischen und katholischen Theologie-Studiums. Bald fühlte er deutlich, für sich selbst etwas anderes zu benötigen. Im Herbst 1967 wagte Martin H. Lissmann einen Schritt in die damalige „Höhle des Löwen“ und immatrikulierte sich, obwohl er bereits ein Stipendium für die Universität Athen in der Tasche hatte, an der Fakultät für Orthodoxe Theologie der Universität Bukarest im kommunistischen Rumänien. Er hat es nie bereut. Die meisten Kirchgänger in Köln, denen Vater Martin begegnet, sind rumänische Staatsbürger rumänischer Muttersprache. Noch fragen nur wenige Konvertiten bei ihm um Rat. Aber er erzählt gerne davon, dass glaubende Rechtsanwälte und Ärzte aus dem Großraum Köln immer mehr von der Orthodoxie wissen wollen. „Ich mache keinen Proselytismus“, sagt Vater Martin. Sonntag für Sonntag redet er mit Menschen stark unterschiedlicher Meinungen. „In ihre politischen Diskussionen mische ich mich nicht ein. Ich bin hier um Gottes Willen und nicht um der Politik Willen. In meiner Seele habe ich keine Aggressivität.“ ADZ-Redakteur Klaus Philippi hat ihn befragt und Antworten erhalten, die etwas mehr Licht in die Ost-West-Kontroversen bringen.

Vater Martin, was hat es mit Ihrem Dienst als Erzdiakon der Rumänisch-Orthodoxen Kirche auf sich? Wie bereiten Sie sich auf Sonntag vor?
„Erz“ kommt vom griechischen „Archi“ und bedeutet „der Erste.“ In der Reihe der Diakone bin ich einzustufen wie unter Priestern ein „Erzpriester“ oder unter Bischöfen ein „Erzbischof“. Das sind Ehrentitel, die in einer Eparchie für besondere wissenschaftliche Erfolge verliehen werden. „Eparchien“ sind wie die katholischen „Diözesen“ oder die evangelischen „Landeskirchen“ zu verstehen. Von der Struktur her hat die frühe Kirche den Ritus des jüdischen Tempel-Diensts übernommen. Was bei Katholiken Messe und bei Protestanten Gottesdienst am Sonntag genannt wird, ist bei uns Orthodoxen die Heilige Liturgie. Erst seit einigen Hundert Jahren gilt die Regel, den Tag ab Mitternacht zu rechnen; aber die Regelung in der römischen und jüdischen Zeit lautete, dass der Tag beim Untergang der Sonne beginnt und bis zum nächsten Abend dauert. Die orthodoxe Heilige Liturgie am Sonntag wird durch den Vespergottesdienst am Samstagabend und den Morgengottesdienst am Sonntagmorgen vorbereitet. Die alten Wörter dafür gibt es in beiden Sprachen der europäischen Antike: lateinisch „Vesper“, griechisch „Vesperinos“; und das Wort „Matutin“ für den Morgengottesdienst.

Einerseits spricht Kirche grundsätzlich zu einer Versammlung von Menschen, andererseits aber bedeutet christlicher Glaube eine Beziehung zu Gott und genau darum etwas Persönliches. Wie lösen Sie als Geistlicher einer orthodoxen Kirche dieses Dilemma?
Als Jesus auf Erden gelebt hat, ist ein Kurswechsel in Gottes Plan der Erlösung geschehen. Bis dahin hatte Gott zum Volk Israel durch die Zehn Gebote gesprochen. „Wenn ihr diesen Regeln folgt, die ich, Gott, euch Menschen gebe, geltet ihr bei mir als gerechtfertigt.“ Moses hat diese Regeln auf dem Berg Sinai erhalten und dem Volk mitgeteilt. Aber vor Christus ist Israel nicht immer seinem Auftrag treu geblieben. Um das Jahr 700 v. Chr. fangen die Propheten fürchterlich an zu schreien, „Israel ist nicht mehr die Geliebte, sondern die Hure des Herrn!“ So hat Gott beschlossen, in einer neuen Erscheinungsform zu kommen, nämlich Er selbst in Seinem Sohn, in Jesus von Nazareth.
Gott hat die Daumenschrauben angezogen und gesagt, „wenn ich euch jetzt neu erscheinen muss, dann müsst ihr mir auch mehr bringen!“ In Athen hat Paulus ohne Umschweife betont, „was den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ – dass Christus auferstanden ist – „das muss der Mensch jetzt schlucken.“ (Apg. 17, 16+32).
Die Erlösung kommt nicht vom Menschen selber, sonst müsste Jesus ja einen biologisch-irdischen Vater haben. Wie Gott Adam geschaffen hat, so hat er auch die neue Schaffung gemacht. Zugespitzt: der Heilige Geist ist das „Sperma Gottes.“ Ohne den Glauben an die Jungfrauengeburt und die Auferstehung geht nichts mehr.
In Westeuropa wird über ein Kernproblem der neuzeitlichen Philosophie diskutiert: wie versteht das Christentum die Aufklärung? Wir Orthodoxe lehnen sie im theologischen Sinne ab! Vor zwanzig Jahren war ich mit einer Pilgergruppe in Jerusalem. Zu Ostern, das gerade für alle auf den gleichen Tag fiel. Kurz vor zehn Uhr hörte ich die Glocken der evangelisch-deutschen Erlöserkirche. Es hat mich hinein gelockt, wegen meiner Muttersprache. Während der Predigt sagte aber der evangelisch-deutsche Probst, dass „Jesus auferstanden ist wie Goethe in seinen Werken.“ „Häresie!“, schrie ich unterdrückt vor mich hin und stürzte hinaus. Das war nicht die Paulinische Predigt, das war was anderes!
Somit stellte sich die Frage: welche Philosophie vertrete ich heute als Theologe in Westeuropa? Denn durch mein philosophisches Gerüst interpretiere ich die Heilige Schrift. Wir Orthodoxe vertreten weiterhin die griechische Philosophie der Logik – aber gemäß der „byzantinischen“ Synthese der Theologen des 5. bis 7. Jahrhunderts, die Ja zur Logik in allem sagt, ausgenommen nur die Jungfrauengeburt und Auferstehung. Denn in diesen zwei Punkten steht die Schrift über der Logik, wie die zwei Schriftstellen 1. Kor. 1, 23 und Apg. 17, 16+32 bezeugen. Der Schöpfer regiert weiterhin über Seine Schöpfung. Mit der Einrichtung der Naturgesetze ist Er nicht in Rente gegangen. Er kann sie jederzeit vorübergehend außer Kraft setzen und danach wieder wie vorher weiterlaufen lassen.

Fragen nach Angst und Krankheit kommen auf, die uns wegen Corona stark beschäftigen. Die Wissenschaft und der Glaube an Gott – in welchem Verhältnis zueinander sind sie eigentlich zu sehen?
Auch wenn der Mensch heute dazu neigt, der Wissenschaft mehr als der Offenbarung zu glauben, ist Gott noch immer der Herr Seiner Schöpfung. Hat Er etwa Seine Autorität an die von Ihm geschaffenen Naturgesetze abgegeben und ist nur noch Zuschauer? Nein, Christentum ist keine Religion der Abdankung Gottes! Ich habe mich bereits zweimal gegen Corona impfen lassen. Dass wir unsere Todesstunde manipulieren können, das glaube ich aber nicht. Gott weiß, wann meine Todesstunde kommt. Trotzdem hilft Er uns auch durch die Medizin. Unsere Naturwissenschaften müssen wir durch Rückbindung an den Glauben verankern. Durch Danksagung dafür, dass wir das eine oder das andere entdecken durften. Entdecken heißt doch, dass es die ganze Zeit vorher schon da war und wir es nur noch nicht bemerkt hatten, also nicht den Deckel aufgehoben haben, um zu sehen, was im Topf schwimmt. Ein Christ muss die Wissenschaft stets unter der Allmacht Gottes sehen.

Warum war Ihr Studium in Bukarest spannend und entscheidend zugleich?
Ich habe eine neue Dimension hinzugelernt und erfahren, die ich vorher in Westeuropa und in den USA, Chicago, noch nicht so tief verstanden hatte, nämlich den mystischen Teil des Christentums. Es ging und geht um Thomas von Aquin, der Professor an der Pariser Sorbonne war. Zu seiner Zeit im 13. Jahrhundert fanden die Moslems im spanischen Toledo sich sehr gut in der Lehre von Aristoteles zurecht. Thomas wusste, dass „wir ihn genauso gut kennen müssen, wollen wir ihnen intellektuell die Hand reichen können.“ Aristoteles ist ein Mathematiker und gegenüber Platon immer derjenige, der die logische Deduktion betont, wohingegen Platon immer ein Gefühl für das Jenseitige hatte. Im Philosophie-Studium ist mir bald klar geworden, dass Physis und Meta-Physis einander bedingen. Will heißen, dass man das Innere nur versteht, wenn man es von außen betrachtet. Nur über die metaphysische Erweiterung der Vernunft komme ich in das Fassbare hinein. Die Engführung, dass man sich nur noch auf die Physis und das Kontrollierbare reduziert hat – das ist doch eine Verarmung des Intellekts gewesen. Das habe ich in Bukarest vertieft gelernt. Von meinem formalen metaphysischen Denken bin ich zu einem ontologischen metaphysischen Denken geführt worden.
Plötzlich habe ich die Kirchenväter aus griechischer, aus orthodoxer Sicht gelesen. Die lateinische Sprache als Engführung ist verständlich, sie ist für das Militär- und Rechtswesen benutzt worden. Aber die Griechen, die haben gezittert und getanzt, sind ohnmächtig geworden vom Wein und Eros. Das Abendland dagegen hat Wein und Eros in logische Bahnen gelenkt. In der griechischen Literatur drängt sich immer die Erfahrung auf, dass es noch mehr geben muss als das, was wir erfassen. Das meint ja die tiefere Bedeutung des Wortes „Mysterium“, einen Seins-Zustand jenseits purer Rationalität. In der griechischen Form hat die östliche Christenheit mehr bewahrt als im lateinischen Westen. Ich will damit niemanden anklagen; man kann viele Entscheidungen auch in Rom rechtfertigen. Aber die griechische Form des Denkens ist mehr mystisch, die lateinische jedoch mehr rational. Die Wahl jener Form, die einen innerlich mehr erreicht, hängt von der Seele ab.
Im 4. Jahrhundert n. Chr. war Kaiser Iulianus, den die Geschichte als „Iulianus, den Abtrünnigen“, den „Apostata“, bezeichnet, von einigen schlimmen Ereignissen nach Konstantin im Kaiserlichen Haushalt so entsetzt, dass er eine ungeheure Wut auf das Christentum bekommen und verfügt hat, dass die Christen im Gottesdienst nicht mehr Griechisch sprechen dürfen, damit sie, intellektuell gesehen, ausdorren. Sie mussten sich mit dem vergleichsweise einfacheren Latein begnügen. In Rom erinnert sich die Christenheit mit dem einen Notschrei auf Griechisch an ihre ersten 300 Jahre: „Kyrie eleison!“ Alles andere wurde in das Lateinische übersetzt in Rom.

Sie haben in der Orthodoxie Ihre Heimat gefunden. Als einzelner Mensch und auch als Predigender. Wie blicken Sie heute auf das Theologiestudium in katholischen und protestantischen Bahnen zurück?
Das war Gottes Fügung. Ja, ich glaube, Er hat mich Schritt für Schritt weitergebracht. Erst bin ich in Wittenberg an der Devise „Sola Scriptura“ gescheitert, weil ich gemerkt habe, dass die Schrift nicht aus sich selber geboren ist. Eine Synode, also die Kirche, hat die Schrift zur Schrift gemacht. Es lagen 70 Texte vor, und die Synode hat beschlossen, 40 von ihnen zu behalten. Dem Wortlaut des Dekretes lag ein Zitat aus der Apostelgeschichte zugrunde: „Dem Heiligen Geist und uns hat es gefallen, folgendes festzulegen.“ (Apg. 15, 28)
Es ist von innen heraus gekommen, nicht von außen. „Sola Scriptura“, ja, so kann ich sagen. Aber ich kann die Schrift nicht ohne die Kirche haben. Ich kann das Kind nicht ohne die Mutter haben.
„Ex sese et non ex consensu Ecclesiae“ – aus sich heraus, und nicht aus Übereinstimmung mit der Kirche, wie Papst Pius IX. es 1870 in Rom auf dem Ersten Vatikanischen Konzil dekretiert hat, um seine Unfehlbarkeit festzulegen. Natürlich ein Irrtum! Ich habe mich gefragt, wo ist dann die Katholizität, wenn ich sie weder in Rom noch Wittenberg finde? Ein lutherischer Probst und Beichtvater in Marburg hat mir gesagt, „Martin, gehe und schaue, wir haben hier an der Universität auch einen Byzantinischen Lehrstuhl, hör´ mal, ob da was ist.“
Wir „Griechen“ denken anders als die heutigen „Lateiner“, weil wir noch glauben, dass es Wahrheit und Irrtum gibt, weil wir an der oben erklären „byzantinischen“ Synthese des 6. Jahrhunderts festhalten. „Es gibt keine Wahrheiten mehr, alles ist relativ“ hat Aufklärer Immanuel Kant gesagt. Dem widersprechen wir. Bei uns zählt ein Johanneischer Kernsatz: „Wie die Welt mich gehasst hat, so wird sie auch euch hassen.“ (Joh. 15, 18). Den hätten in Westeuropa viele katholische und evangelische Theologen gerne weg.
Wenn wir aber bei der Heiligen Schrift bleiben wollen, müssen wir bei der ganzen Heiligen Schrift bleiben. Und die sagt – theologisch ausgedrückt – dass das Christentum ein Fremdkörper in dieser Welt ist. Ich weiß, dass Gott Martyrium fordern kann. Doch ich bitte Ihn, es nicht zu tun.