Von Hirsekörnern und Maulbeerbäumen... Deutsche Kulturtage Schäßburg im Zeichen der Bergschule und Klosterkirche

Gleich wird das Tanzbein auf dem Burgplatz geschwungen... | Fotos: George Dumitriu

Für eine Schnappschusslänge einmal Bergschüler sein – das lassen sich auch der Abgeordnete Ovidiu Ganț und DFDR-Vorsitzender Paul-Jürgen Porr nicht entgehen.

Übersetzerin Beatrice Ungar und Autorin Mariana Gorczyca präsentieren ihr Buch „Diesseits und jenseits des Tunnels 1945“ über die Deportation in den Donbass.

Einen „Maulbeerbaum“ zu überwinden galt es bei der Restaurierung der über 700 Jahre alten evangelischen Klosterkirche, die sich nicht so einfach wie anfangs gedacht darstellte.

Einen „Maulbeerbaum“ zu überwinden galt es bei der Restaurierung der über 700 Jahre alten evangelischen Klosterkirche, die sich nicht so einfach wie anfangs gedacht darstellte.

Am Trachtenumzug nahmen Gruppen aus Schäßburg, Sächsisch-Regen, Hermannstadt, Mühlbach und die Blaskapelle Schäßburg Brass teil.

Was haben der Raketenforscher Hermann Oberth, der Regisseur Günter Czernetzky, der Kunsthistoriker und Denkmalschützer Christoph Machat oder der Bukarester Stadtpfarrer und Bischofsvikar Daniel Zikeli gemeinsam? Untereinander – und mit vielen weiteren Anwesenden, etwa den kleinen Trachtenträgern und Flötenspielern, Viertklässler, die auf der Bühne ein lustiges Theaterstück aufführen: „Das Hirsekorn“, ein sächsisches Volksmärchen, in dem der Protagonist von einem vermeintlichen Unglück ins andere stolpert und unversehens immer reicher wird: erst hat er nur ein Hirsekorn, dann einen Hahn, ein Schwein, eine Kuh, zum Schluss ein Pferd... was für ein Glückspilz! Herzliches Gelächter, als eine riesige Pappkarton-Kuh den ehrwürdigen Rathaussaal „betritt“. Kameras blitzen. Und aus fast allen Ecken hört man jemanden flüstern: Ja, ich war auch einer von ihnen! 

„Gibt es ihn immer noch, den Geist, der die Bergschüler verbindet?“, fragt Zikeli in seinem Vortrag, für den er sogar unter ehemaligen Klassenkameraden eine Umfrage gestartet hat. 500 Jahre Bergschule – „seit ihrer Dokumentation, in Wirklichkeit ist sie viel älter“, betont Czernetzky – sind ein würdiges Motto für die diesjährigen Deutschen Kulturtage in Schäßburg/Sighișoara vom 27. bis 29. Mai. Dieses ergänzt ein weiterer Anlass zum Feiern: Die Wiedereinweihung der frisch restaurierten dominikanischen Klosterkirche.

Es heißt Schulberg, nicht Kirchberg!

Jedes Jahr locken die Deutschen Kulturtage, organisiert vom Schäßburger Zentrumsforum, noch mehr Gäste in die als UNESCO-Weltkulturerbe Rumäniens ohnehin gut besuchte Festung. Nicht nur Bergschüler erklimmen schwitzend die 178 Stufen der 1642 erbauten überdachten Schülertreppe, lassen sich auf den altmodischen Holzbänken des extra hierfür eingerichteten Museumsraums nieder, bestaunen Reptilien in Spiritus, seltsame, altmodische Messinstrumente, Bücher, Karten und Dokumente, zusammengesammelt aus Spenden jener, die hier vor langer Zeit die Schulbank drückten. Die Zeitzeugen, die die Geschichte dieser berühmten Schule mitgeschrieben haben, sind heute in alle Welt verstreut. Andrea Rost hat sie aufgespürt und angeschrieben, ihre Schäßburger Vorfahren waren das Aushängeschild, dann kamen Briefe und Päckchen, auch aus Übersee. „Bazele Darwinismului“ für die 11. Klasse oder „Lebenstag eines Menschenfreundes“ von Wilhelm Schäfer liegen jetzt auf den Bänken, in die sich der Abgeordnete Ovidu Ganț und DFDR-Vorsitzender Dr. Paul-Jürgen Porr zwängen, um wenigstens für eine Schnappschusslänge auch mal Bergschüler gewesen zu sein. 

Bemerkenswert: Der Berg heißt Schulberg, nicht Kirchberg, obwohl die Bergkirche die Schule dort bei weitem überragt. So wichtig war den Siebenbürger Sachsen ihre Schule! Mit der Kirche war sie ohnehin untrennbar verbunden, wie schon Dr. Karl Scheerer, zuvor im Rathaussaal online zugeschaltet, in seinem Vortrag „Die Schäßburger Bergschule und ihre Ausstrahlung auf das siebenbürgische Geistesleben“ verriet. Und noch viel mehr Interessantes – etwa, dass die Schule schon lange vor ihrer ersten dokumentativen Erwähnung 1522 eine bedeutende Bildungseinrichtung gewesen sein muss. Denn allein zwischen 1445 und 1521 waren 95 Studenten aus Schäßburg an den Universitäten von Wien und Krakau eingeschrieben. Oder, dass kein geringerer als der Sachsenbischof Georg Daniel Teutsch den Namen „Haltrich Lyzeum“ für die Bergschule vorgeschlagen hatte, weil er Joseph Haltrich für den hingebungsvollsten „Diener“ dieser Bildungsanstalt hielt. 

Erst Lehrer, dann Pfarrer 

Die Karriere eines sächsischen Pfarrers begann immer als Lehrer. Auch der Namensgeber der Bergschule, Joseph Haltrich (1822-1886), geboren in Sächsisch-Regen/Reghin und als Kind nach Schäßburg gezogen, später passionierter Volkskundler und Märchensammler, der zeitlebens in freundschaftlicher Verbindung mit den Gebrüdern Grimm gestanden hatte, machte da keine Ausnahme: Erst Schüler, dann Lehrer , dann Direktor der Bergschule, und zuletzt vor der Pensionierung Pfarrer in Schaas/Șaeș. Seine am Sonntag feierlich enthüllte Gedenktafel zierte kurz das Haus, in dem er 1860 bis 1872 in Schäßburg wohnte, Hermann Oberth Gasse 13. Nach der Zeremonie musste sie wieder weichen, vorübergehend, die bürokratischen Formalitäten für ihr endgültiges Anbringen waren noch nicht erfüllt. Der Amtsschimmel wiehert. Die Forumsleute pflücken noch ein bisschen an der überschüssigen Goldfarbe der Inschrift herum. Haltrich hätte ganz sicher geschmunzelt, die von ihm wie Hirsekörner gesammelten Geschichten, darunter auch „Das Hirsekorn“, verraten feinen Humor. Den Teutsch übrigens bestätigt: So soll Haltrich einmal laut darüber nachgesonnen haben, wie die surreale Schönheit der Landschaft rings um die Bergschule wohl als Gehaltsbonus für seine Tätigkeit beziffert werden könne...

Vom Überwinden des Maulbeerbaums

Den zweiten Kulturtag läutet der Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der evangelischen Klosterkirche nach der Außenrenovierung 2019 bis 2021 ein. Die Freude über das strahlendweiße, frisch gedeckte Gotteshaus trübt nur der Blick nach oben: eine Scheußlichkeit von Blitzableiter, der wie eine zweite Kirchturmspitze wirkt, wo gleich daneben der Stundturm zeigt, wie man es hätte besser machen können... 

Der Stadttrommler verkündigt die Ankunft des Bischofs und wir lassen und hineintragen in die festliche Atmosphäre: Volle Kirchenbänke, Blumenbuketts, von der Empore Orgelbrausen und Blasmusik. Die Blicke schweifen abwechselnd zwischen Altar und Kanzel: Bischof Reinhart Guib, Daniel Zikeli, Stadtpfarrer Bruno Fröhlich, Pfarrer Johannes Halmen... Die Bank der Ehrengäste.  Jeder und alles hat seinen Platz. 

Ich finde den meinen unter einem blau-roten anatolischen Knüpfteppich aus dem 17. Jh., links die Gefallenen und Verschollenen der beiden Weltkriege, die nicht zurückgekehrten Russlanddeportierten, das kirchliche Gästebuch. Rechts die Presse, Kamera. Darüber scheinen die ätherisch bemalten Kassetten der Balustrade zu schweben. Zwei Jahrhunderte umfasst mein Blickfeld und lässt mich erschauern: Jede Ecke atmet Geschichte. Der Bischof besteigt die Kanzel. „Wohin sind wir unterwegs?“ fragt die Stimme aus der Höhe und man hätte keine andere Frage stellen können in diesem Augenblick. Schon fährt er fort: Vom „neugierigen Suchen und Hören“ auf diesem Weg. Vom Heraustreten aus der Beobachterposition. Vom Überwinden der Hindernisse, die wie der Maulbeerbaum im Gleichnis von Zachäus vor uns aufragen: Sorgen, Krieg, politische und finanzielle Krisen, das Älterwerden und das Kleinerwerden der Gemeinschaft... Zachäus ist auf den Baum gestiegen – und sein Leben hat sich verändert. „Mit Mut, Kreativität, Energie, Phantasie“ können Hindernisse überwunden werden, sagt Bischof Guib. Und: „Das Leben ist ein Unterwegssein. Wir kommen erst weiter, wenn wir den Beobachterposten aufgeben und zu Weggefährten werden.“ 

Gedanken mit auf den Weg geben auch die österreichische Botschafterin Adelheid Folie, die Konsulin in Hermannstadt/Sibiu, Ursula Jahn, Unterstaatssekretär Thomas Șindilariu, der Bürgermeister und die Chefarchitektin der Restauration, bis beim anschließenden Besuch der Fotoausstellung zu den Restaurationsarbeiten das Thema „Blitzableiter“ wieder einschlägt. Bloß ein kleines Hirsekorn - oder Maulbeerbaum? 

Bleibende Spuren

Immer wieder kommen wir zurück zum Hirsekörnersammler, Joseph Haltrich, und seiner Bergschule. Und zu Maulbeerbäumen verschiedenster Art, die sich auf dem Weg durch die Zeiten aufbäumten: Deportation der Schäßburger ins Lager Stalino im Donbass oder in die Steppe des Bărăgan, zwei Bücher zu diesem Thema hat Dr. Mariana Gorcyzca in Romanform geschrieben. Zusammen mit Übersetzerin Beatrice Ungar präsentiert sie „Diesseits und jenseits des Tunnels 1945“. Auch darin geht es um die Bergschule.

Einblicke in die Schule zur Zeit des Kommunismus und die demografischen Entwicklungen liefert Claudiu Pop. 

Ein lebhaftes, weil selbst erlebtes Stimmungsbild aus den Wendejahren zeichnet Daniel Zikeli in seinem Vortrag „Einfach gehen... Bleibende Spuren aus der Zeit der Bergschule“: Von Gedichte rezitierenden Schülern, die das Schulgebäude umrunden wie Goethes Zauberlehrling. Von Streichen und Aprilscherzen, Schulfesten und Blaskapelle, Freundschaften, auch mit Schülern aus anderen Landesteilen, die der Ruf der Bergschule anschwemmte, von Internat und Heimweh und den Liebespärchen, die sich auf dem nahen Friedhof versteckten. Von besonderen Lehrern, die trotz ihrer oft seltsamen Macken für die Schüler äußerst prägend waren. Und den Lehrplan mutig umschifften: statt Ideologie erzählte man schon auch mal über das englische Königshaus... Schmerzhaft dann die Zeit nach Erlangen der köstlichen Freiheit, die den Exodus der Sachsen einleitete und die Schule an Schülern und Lehrern ausblutete. Der Euphorie der Weihnachtsferien 1989 folgte 1990 das Zittern, welche Klassen nach den Sommerferien noch zustande kommen würden... 

Tiefenpsychologie

30 Jahre ist das alles nun her. Vor seinem anstehenden 30-jährigen Klassentreffen schickte Zikeli seinen Kommilitonen sieben Fragen: „Nenne fünf Wörter, die dich an deine Schulzeit erinnern“, oder „Was weißt du noch vom letzten Schultag?“, „Gibt es einen Geist der Bergschule, der bis heute wirkt?“ Er war enttäuscht über die geringe Beteiligung, wo man doch bei früheren Treffen durchaus Erinnerungen pflegte. Doch die Verweigerung der Antwort habe tiefenpsychologische Bedeutung, interpretierte Zikeli nach Jung: „Die archetypalen Jahre in der Bergschule sind zum Urbild geworden, das man nicht hinterfragen und nicht preisgeben will.“ Das bewusste Aufwühlen würde diese tiefe Geborgenheit stören. Ist das nun ein Hirsekorn – oder ein Maulbeerbaum? „Die Schulzeit war für uns ein Teil von Eden!“, präzisiert Zikeli. „Und wer möchte das Paradies nicht aufbewahren?“