Wahrheit

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Wir haben 2018 erlebt, wie Akklamation eine demokratische Wahl ersetzt, wie die bewährte Liberalität der Demokratie untergraben wird, alles im Namen einer „Wahrheit”. Wahrheit heute beruht auf nervös und apodiktisch vorgebrachter Behauptung ohne Beweise und auf Hetze, längst nicht auf Vernunft, Dialog und Verständnis.

Marx ist der Alleinverkünder ewiger „Wahrheiten” zum Kapitalismus. Was der politisch-militante Islam verkündet, ist unumstößliche „Wahrheit” Gottes. AfD-verwandte Parteien und Mister Donald Unvorhersehbar wettern gegen die Lügenpresse. Verständlich: Sie sind Alleinbesitzer und -hüter der „Wahrheit”! Die bayerische CSU hat unter Markus Söder das Symbol des Kruzifixes monopolisiert: Es muss in öffentlichen Institutionen des Freistaates hängen, als Zeichen des Alleinanspruchs des Christentums auf „Wahrheit”, implizite als Zeugnis, dass Bayern Höchsthüter des Christentums ist. Und die Regierungskoalition Rumäniens, obwohl nur von knapp 18 Prozent der Bevölkerung gewählt, rechnet sich ein Alleinvertretungsrecht und ein Wahrheitsmonopol ihres Tuns aus, weil sie von einer komfortablen Mehrheit unter den wenigen Urnengängern die Stimmenmehrheit erhielt: Jetzt sind wir an der Macht! Jetzt tun wir, was wir wollen! Und das ist „Wahrheit”. Akklamation als Ersatz für demokratische Wahl. Sie vertreten das „wahre” Volk. Repräsentative Demokratie war gestern. Dass Freiheit immer auch Freiheit des Andersdenkenden ist – wen kümmert´s, wenn allein PSD-Chef Liviu Dragnea die allein gültige „Wahrheit” verkündet?

Die Wahrheit, die wir erleben, kennt kein Recht, aus einem einfachen Grund: Sie hat immer Recht. Damit fallen alle Rechtsgrundsätze – oder werden, wie hierzulande seit 2017, parlamentarisch weggefegt. Das „die Gegensätze versöhnende Denken” wird abgetötet. „Wahrheit” heute hat nichts mehr mit einem Weltbild zu tun, das auf kritischem Denken, Wissen, Wissenschaft und Objektivität fußt. Interessengedeutetes Bauchgefühl, „Offenbarungen” unterhöhlen die Ratio, werden zu „Wahrheiten”, zu etwas Absolutem, das zu hinterfragen an ein Verbrechen grenzt (siehe aktuelle Gesetzesinitiativen der PSD). Grautöne sind aus der Welt verbannt: Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Behauptungen müssen weder erklärt, noch rechtfertigt werden. Das Wort „Relativität” gibt es im Wortschaft der Überzeugungstäter nicht. Es fehlen Wörter mit „gegen”: „Gegenteil”, „Gegensatz”, „Gegenüber”. Wissen wird Fiktion, Glaube Grundlage des Seins. Auch Glauben an einen Führer? Wie an Gott, Volk, Vaterland, Ethnie oder Klasse, an Erlöser, an allwissende Prediger? Im Fall Rumänien: Die Zeichen stehen auf JA. Glaube schlägt Wissen. Jederzeit auch: besseres Wissen. Dieser Glaube wider besseres Wissen (auch „Unbekümmertheit um wirkliches Wissen”, um Erkenntnisse, generell um die Wahrheit) entspringt dem neuen Bestgewissen. Derer, die es haben. Warum sollten denn Realitäten nachvollziehbaren Überprüfungskriterien unterzogen werden, wenn die einzig wahre Wahrheit eh bereits verkündet und unumstößlich ist und nicht zur Diskussion steht?

Formell lebt das zivilisierte Europa – auch Rumänien, laut seiner Verfassung... – noch in säkularisierten Rechtsstaaten. Doch aufgrund demokratischer Prinzipien – die in ihren eigenen Reihen nichts gelten – mischen sich immer mehr Kirchen, alle mit Alleinanspruch auf Wahrheit und Glaubhaftigkeit, in die Angelegenheiten des Rechtsstaats ein, fordern imperativ Durchsetzung ihrer hochmittelalterlichen Ideologien, bis hart an den Rand des Inquisitionsdenkens (siehe, bei uns, das Referendum für die „traditionelle Familie“ und damit gegen die gleichgeschlechtliche Ehe u. Ä.). Wir leben in einer Welt kompromisslos aufeinanderstoßender Wahrheitsansprüche – eine Welt dieser Beschaffenheit ist einem Krieg nicht fern.

„Dubito ergo cogito. Cogito ergo sum”. Eine Rückbesinnung auf Descartes täte unserer Welt gut.