Was dem Publikum verborgen bleibt

Rund um die Uhr im Hermannstädter Radu-Stanca-Theater

Der Pferdewagen wird verladen und auf der Bühne neben einem Heuhaufen aufgebaut. Fotos: der Verfasser.

Besagter Heuhaufen während der Aufführung des Stücks „ein herr jedermann“. Foto: TNRS

Für eine Stadt von rund 160.000 Einwohnern hat Hermannstadt/Sibiu ein geschätztes und bewundertes kulturelles Angebot. Aus dem Stadthaushalt werden das Gong-, das Ballett- und das Radu-Stanca-Nationaltheater (TNRS, Intendant Constantin Chiriac) finanziert, das letztgenannte zusammen mit dem Internationalen Theaterfestival (FITS) mit der weitaus größten Summe. Die dominante rumänische Abteilung hat ein umfassendes Repertoire, erfolgreiche Vorstellungen werden über viele Jahre hinweg gespielt, allgemein bekannt ist die Faust-Produktion von Silviu Purc²rete aus dem Kulturhauptstadtjahr 2007, die immer noch ausverkauft aufgeführt wird. Seit Anfang der Spielzeit 2022/23 konnte man aus über 20 verschiedenen Vorstellungen in rumänischer Sprache wählen. Die deutsche Abteilung (Leitung Hunor Horváth), der in den Jahren vor und nach der Wende kaum jemand Überlebenschancen einräumte, bot in der laufenden Spielzeit bereits sieben verschiedene Inszenierungen, davon drei Premieren.

Der Zuschauer spricht – oft widersprüchlich – über die Wahl der Texte, über das Konzept der Regisseure, das Bühnenbild oder die Leistung der Schauspieler. Im Folgenden ein Versuch, zu dokumentieren, was für das Publikum in der Regel nicht zu sehen ist, welcher technische Apparat die Vorstellungen – meist jeden Abend eine andere – überhaupt ermöglicht.


Freitag, 11. Februar 2023, 
18.30 Uhr

Die Eingangstüre des Theaters wird geöffnet, die Kassiererin steht bereit, obwohl es keine Karten mehr gibt, dafür können Privilegierte ihre Einladungen für die Premiere von Tschechows „Kirschgarten“ abholen. Regie führt der Moldawier Dumitru Acri². Wer seine beeindruckende Vorstellung des Satiricus-Ion-Luca-Caragiale Theaters aus Kischinau/Chi{in²u („Casa“) im letzten Festival gesehen hat, darf gespannt sein. Er hat auch gleich das schauspielerisch Beste aus Hermannstadt in der Besetzung vereint.

19.00 Uhr
Die Schauspieler betreten die große Bühne, leer und schwarz. Aufgeregt irren sie umher. Das „Zuhause“, von dem gesprochen wird, gibt es nur noch in ihrer Illusion. Man hört im Saal eigentlich nur das Atmen der 300 Zuschauer. Die alte Zeit geht unweigerlich unter (einziges Requisitenelement: eine Kette mit Hundehalsband, ohne Leben), die neue Zeit verheißt nichts Gutes (zweite und letzte Requisite: die Sektgläser des neuen Gutsbesitzers werden gefüllt, zerschellen aber, bevor man anstößt). Eine Vorstellung aus einem Guss, stimmig und im Sinne des Textes, nicht dagegen gebürstet. Stehapplaus, den es in Hermannstadt allerdings immer gibt. Verdiente Küsschen vom Regisseur für alle 14 Darsteller.

21.10 Uhr
Die letzten Zuschauer haben den Saal verlassen. Da der „Kirschgarten“ praktisch kein Bühnenbild hatte, wird an diesem Abend nicht mehr abgebaut. Nur die Glassplitter werden zusammengekehrt.

Samstag, 12. Februar 2023, 
9.00 Uhr

Die Bühnenarbeiter sind bereits bei der Arbeit. Der dunkle Hintergrund vom Vorabend erweist sich als Stoff, der auf riesige Rohrgestelle gespannt ist. Stoff runter, gefaltet, Gestänge weg. Gleichzeitig kommen die ersten Elemente des aufwendigen Bühnenbildes für die Nachmittagsvorstellung der deutschen Abteilung von „ein herr jedermann“. Holz- oder Metallkonstruktionen, ein echter Pferdekarren, Stroh, Luster usw. werden herbeigeschleppt. Woher? Aus einem langen Gang, einem Schuppen – da wurden sie allerdings nur zwischengelagert. 
Zwei Tage vorher, bei minus 18 Grad Celsius, fuhren zwei theatereigene Fahrzeuge, ein Kleinbus und ein Laster, flott zum Stadtrand, zur ehemaligen „Independen]a II“ Fabrik. Nach-dem das eingefrorene Tor dank gemeinsamer Anstrengung nachgab, wurde auf vier Rädern eine riesige leere Halle durchquert, dann kam man zum angemieteten Depot für die Theaterkulissen. Aufschriften zur Orientierung – Fehlanzeige. Doch, als Reliquie der kommunistischen Blütezeit, ein Aushang: „Loc de munca deosebit de periculos“ – „Äußerst gefährlicher Arbeitsplatz“. 
Heute drohen keine Gefahren, auch nicht des vergeblichen Suchens, man weiß einfach, wo die Requisiten aller Produktionen, also auch für „ein herr jedermann“ lagern und fährt direkt hin. Acht Bühnenarbeiter haben den Laster in wenigen Minuten gefüllt, ebenso flott wurde im Hof des Theaters wieder abgeladen, und schon ging es im Rückwärtsgang wieder raus zum zweiten Jedermann-Transport. Es kommt Material auf die Bühne, mehr und noch mehr. Ein Plan für den Aufbau? Anweisungen? Nichts. Man hat den Eindruck, Ameisen seien mit Akkuschraubern tätig, doch die Dekorationen nehmen erkennbare Formen an.

10.00 Uhr
Ein sehr junger Mann beginnt, einige Scheinwerfer neu auszurichten. Von seinem Handy werden sie angeschaltet und das Ergebnis geprüft. Seit zweieinhalb Jahren beim Theater, hat er fast alles für den Beruf aus dem Internet erlernt, meist in Englisch. Leider gibt es in Rumänien keine Berufsausbildung für Bühnentechniker, nur ein Masterstudium „Sound and Lighting Design“ ist in Bukarest möglich.

11.00 Uhr
Mihai Părău, Beleuchtungstechniker beim Theater seit 1995, ist auch schon da. In der Kabine über dem Balkon kann man etwas über die Arbeitsweise in diesem Bereich erfahren. Es gibt 120 Scheinwerfer, man ist bestrebt, die alten mit Glühfaden durch LED-Leuchtkörper zu ersetzen. Eine Vorstellung hat 20, 30 oder eben 200, 300… „Kombinationen“, das heißt, diese und jene Scheinwerfer gehen gleichzeitig mit der und der Lichtstärke an. Diese Kombinationen werden im Computer gespeichert, und dann verfolgt der Beleuchtungsmeister, was auf der Bühne passiert: direkt durch ein Fensterchen, über einen Bildschirm und über die hauseigene Verstärkeranlage. Für die heutige Vorstellung ist auf dem Bildschirm zu lesen:
- Kombination 1: Das Publikum kommt herein.
- Kombination 2: Johanna sagt „Salzburg“, nachdem sie Theo schlägt.
- Kombination 3: Der Vorhang geht auf.
- Kombination 4: Gleich nachdem Ben und Ali auf die Bühne kommen. So geht das dann weiter, 4 Kombinationen für 2-3 Minuten, das Agieren der Schauspieler mit ihren Vornamen sind der Leitfaden für das Bedienen des Computers.
Das Theater hat 10 „intelligente“ Scheinwerfer: Da lässt sich eine bestimmte Bewegung, Farbe, sich verändernde Intensität und auch die zu beleuchtende Fläche programmieren. Wer bestimmt das ganze Beleuchtungskonzept? Der Regisseur äußert Wünsche und der Techniker macht die entsprechenden Vorschläge, oder aber man hat einen „Lichtdesigner“ engagiert, der alles konzipiert. Für die Tontechnik gilt nochmals genau das Gleiche. Der Computer wird mit den Ideen des verantwortlichen Teams „gefüttert“ und dann von Hand mit Blick auf das Geschehen auf der Bühne bedient.

12.30 Uhr
Die Vorbereitungen für die Vorstellung sind beendet.

13.15 Uhr
Treffen mit Hunor Horváth, seit vier Jahren Leiter der deutschen Abteilung. Der Zufall will es: Heute Doppelbelastung. Er kommt gerade aus dem Habitus-Kulturzentrum von der Generalprobe einer „One-Woman-Show“ mit Cristina Rago² von der rumänischen Abteilung, bei der er Regie führt, zu der Probe zum Hauptsitz des Theaters.
Die deutsche Abteilung: klein, aber lebendig. Drei Schauspieler mit deutschem Pass, ein Luxemburger. Muttersprache der anderen: Deutsch, Rumänisch, Ungarisch. Immer wieder kommt auch Hilfe von den Kollegen der rumänischen Abteilung. Ein kleines Siebenbürgen. „Dass junge, sehr gute Leute aus dem deutschsprachigen Raum auch nur für ein oder zwei Jahre in Hermannstadt arbeiten, ist für uns eine große Chance. Schwierigkeiten bereitet nur der Widerspruch zu dem Gesamtkonzept des Theaters, das ein sehr umfassendes Repertoire, spielbar über viele Jahre, vorsieht. Das bedeutet für uns, dass dauernd Umbesetzungen nötig sind. Eine oder einer kommt, andere gehen. In dieser Situation wäre es besser, wenn eine bestimmte Vorstellung in einer Spielzeit öfter dargeboten und dann abgesetzt würde.“

13.45 Uhr
Locker und fröhlich kommen die Darsteller der 17-Uhr-Vorstellung in kurzen Abständen über die Bühne rein. Händeschütteln. 

14.00 Uhr
Probe für „ein herr jedermann“ unter der Leitung von Hunor Horváth. Wäre eigentlich Aufgabe der Regieassistenz, die ist aber über alle Berge. Anschließend eilt Horváth zu „seiner“ Premiere zurück auf den Kleinen Ring. Für die Darsteller folgt das Schminken.

16.30 Uhr
Eintritt möglich, Zuschauer kommen zögerlich. Thomas Perle, in Oberwischau geboren, als Kind mit den Eltern nach Deutschland übersiedelt und mittlerweile erfolgreicher Autor und nominierter Stadtschreiber der Kulturhauptstadt Temeswar, hat den Text speziell für die Hermannstädter Bühne verfasst. 

17.00 Uhr
Die Vorstellung beginnt wie im Beleuchtungsverlauf gespeichert: Johanna (Adam) kommt aus dem Saal auf die Bühne. Das gesamte Konzept (Regie, Bühnenbild, Kostüme) haben drei sehr junge, in Wien wohnhafte Künstler erarbeitet. Viele bekannte Probleme Rumäniens sarkastisch überhöht, viele Spielebenen, gewollt Schockierendes.
Schlussapplaus. 

18.30 Uhr
Das Publikum hat das Theater verlassen. Es bleibt eine Gruppe angeregt diskutierend davor. 

Am Sonntagmorgen wird die Bühne umgebaut, dann geprobt und 17 Uhr (Beginnzeit neuerdings am Wochenende) wird eine „alte“ Erfolgskomödie der rumänischen Abteilung gezeigt. Premiere September 2016, trotzdem ausverkauft.

Es ist nicht nur im Theater so: Sichtbare Ergebnisse fußen auf der Arbeit von sehr vielen, namentlich genannten oder nicht, die in einem funktionierenden System ihren Beitrag leisten können.