Was ich bin? Rumäne! Oder?

Wie der Süden Rumäniens mich lehrte, was Deutschsein heißt

Chaos und Aggressivität im Bukarester Verkehr können den Glauben an das Gute und Edle im Menschen ins Wanken bringen. Foto: pixabay.com

Geboren bin ich in Rumänien. Besser gesagt (und betonenswert) im Nordwesten des Landes, in Klausenburg. Den größten Teil meines Lebens habe ich jedoch in Deutschland verbracht. Hier wurde ich sozialisiert, vom Kindergarten bis zum Hochschulabschluss. Und doch hatte ich als ‘Schwarzkopf’ stets das Gefühl (das man mir gerne auch immer wieder gab), irgendwie nicht dazuzugehören. So antworte ich bis zum heutigen Tage, wenn im Laufe eines Gesprächs irgendwann die obligatorische Frage nach meiner Nationalität kommt: Ich bin Rumäne.

Daran bestand für mich die längste Zeit kein Zweifel, denn ich liebe nicht nur Mici, Ion Creangă und meine Freunde und Verwandten in diesem meinem Heimatland. Und überhaupt: Was sonst könnte ich schon sein, denn deutsch, nein deutsch, das bin ich garantiert nicht. Immer schon hat mich die Pedanterie, die ewige Angst vor allem und jedem, das daraus resultierende Sicherheitsdenken inklusive imaginärer Helmpflicht – der Himmel könnte einem ja jederzeit auf den Kopf fallen – und vor allem der Pünktlichkeitswahn, den man mir von Kindesbeinen an versucht hat einzubläuen (allen voran meine deutschen Freunde ausländischer Abstammung), abgeschreckt, um nicht zu sagen abgestoßen. Und so wanderte ich in Deutschland umher, lebte in fünf verschiedenen Bundesländern, stets in dem Bewusstsein (und auch ein wenig stolz darauf), anders als „die“ Deutschen zu sein. Doch dann erhielt ich die Möglichkeit, für einen längeren Zeitraum im Süden Rumäniens, genauer gesagt (und das ist ebenfalls betonenswert) in Bukarest, der Hauptstadt dieses Landes, mein Brot schreibend (in deutscher Sprache) zu verdienen.

Frohen Mutes trat ich meinen Dienst an und freute mich insgeheim, endlich von der Regulierungs- und Domestizierungswut im fernen Deutschland Abstand nehmen zu können, nicht mehr von Opas behelligt zu werden, weil ich beim Fahrradfahren die falsche Straßenseite benutze, von pikierten Omas aufgefordert zu werden, die Hecke hinterm Haus meiner Mutter zu stutzen (deren Schatten für unerträglichen Mooswuchs auf des Nachbars Seite verantwortlich gemacht wird) oder sonntags aus dem Bett geklingelt zu werden, weil ich mal wieder die „Kehrwoche“ im gemeinsamen Treppenhaus vernachlässigt habe.

In Bukarest angekommen, stellte sich zunächst die Frage, auf welchem Wege ich in die Redaktion gelange. Ich entschied mich zunächst für die Variante U-Bahn, holte mir eine 10er Karte und nahm in meiner ersten Arbeitswoche stoisch das Gedränge, den Schweiß und auch den morgendlichen Munddampf des ein oder anderen Mitfahrers hin, in dem Bewusstsein, dass diese zu Stoßzeiten fleischfabrikähnlichen Zustände in den Waggons in so ziemlich jeder Metropole so oder so ähnlich erduldet werden müssen – ein bisschen Tokio in der walachischen Millionenstadt ist doch eigentlich ganz aufregend.

Doch bereits nach dieser einen ersten Woche bemerkte ich, dass sich der Misanthrop in mir ob des allmorgendlichen Bades in der Menge bedenklich zu regen begann und so entschloss ich mich, fortan mit dem Fahrrad an meine Arbeitsstelle zu gelangen.

Und hier nun nahm der krisenhafte Prozess seinen Lauf und beinahe existentialistische Züge an. Denn der alltägliche Stumpfsinn, der Mangel an Rücksicht, die schiere Aggression, die durch die simple Teilnahme am Straßenverkehr auf einen einprasseln, und die davon ausgelösten, längst verdrängten Erinnerungen sollten ernste Zweifel an der Sinnhaftigkeit meiner bisher so selbstbewussten Selbstpositionierung als Nachfahre der geliebten römisch-dakischen Doppelväter Traianus und Decebal aufkommen lassen.

Auf dem Drahtesel unterwegs, fällt einem zuallererst auf, dass alles, und ich meine wirklich alles, was nicht zu hoch zum drauf- oder zu eng zum reinfahren ist, im Handumdrehen zu einem Parkplatz pervertiert wird: Fahrradwege, Zebrastreifen, Bordsteine, Bürgersteige, Notfallausgänge und Feuerwehrzufahrten – alles wird schonungslos zugeparkt (gefühlt ein Drittel durch jahrelang vor sich hin gammelnde Autowracks, die nicht selten von den Opfern des Turbokapitalismus zu Wohnstätten umfunktioniert werden). Dass Ältere und Behinderte aufgrund dieser Dauerblockade praktisch keine Chance haben, sich einigermaßen zivilisiert durch die Stadt zu bewegen, ist vollkommen egal. Liebe Deinen Nächsten? Sei da für die Schwachen, die Ausgestoßenen, die Bedürftigen? Dem christlichen Geist wird hier durch Dauerbekreuzigung beim Vorbeifahren an Kirchen (welcher Konfession auch immer, sicher ist sicher, da wollen wir nicht so streng sein) Genüge getan (bei einer 15-minütigen nächtlichen Taxifahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum vollzog der Chauffeur dieses Ritual sage und schreibe achtmal, schlug sich dementsprechend 24 Mal ein Kreuz – denn die Orthodoxie verlangt jedes Mal dreifaches Bekreuzigen) oder durch das Vollhängen des Fahrerraums mit allerlei Kruzifixen, Ikonen und Heiligenbildern. Doch es bleibt nicht beim Ausschluss bestimmter benachteiligter Gruppen von der Teilnahme am ganz normalen Straßenverkehr, das schwerwiegendere Problem ist die enorme Anzahl der durch verantwortungslose Raserei zu Tode gekommenen Menschen (Rumänien gehört seit Jahrzehnten zu den Ländern mit den meisten Verkehrstoten pro Jahr, 2017 auf Platz 1 innerhalb der EU mit 98 Toten auf 1 Million Einwohner).

Die Ursache für diese katastrophale Situation wird bei der Wurzel gepackt, nicht etwa, indem man rigoros gegen diejenigen Autofahrer durchgreift, die sich selbst und vor allem auch andere gefährden, nein, den geisteskranken und lebensgefährlichen Umständen wird hier begegnet, indem man – neben den bereits erwähnten Ritualen –, an Wochenenden stundenlang (und bemerkenswerterweise freiwillig) Schlange steht, um sein Fahrzeug von einem Priester mit Weihwasser segnen zu lassen. Immerhin wird hier nicht diskriminiert, der Gottesmann benedeite – nach kurzer Verwunderung – auch mein Fahrrad, als die Reihe an mir war.
Die zahllosen Male, in denen ich beinahe beim Überqueren einer für mich als Fahrradfahrer oder Fußgänger grün signalisierenden Ampel überfahren worden wäre, begann, etwas mit mir zu machen. Nicht nur ging ich fortan rückwärts über die Straße, um die möglicherweise nach rechts abbiegenden Raser rechtzeitig erblicken zu können, eine regelrechte Kaskade an verschüttet geglaubten Erinnerungen aus dem rumänischen Straßenverkehr löste sich im Zuge der neuen, traumatischen Alltagserfahrungen. Es wurden ins Gedächtnis gerufen: Taxifahrer, die sich in ihrer Berufsehre gekränkt fühlen, wenn man sich anschnallt („Ich habe dir doch gesagt, bei mir brauchst du das nicht, ich bin seit 10 Jahren in diesem Beruf!“), Mütter, die ihre Kinder auf dem Beifahrersitz im Schoß platzieren („Ich halte es gut fest“) – auch in einer Ambulanz (!) beobachtet –, auf der Autobahn per Lichthupe nötigende Rotznasen in turbostarken 100.000-Euro-Boliden, alle Nase lang drohende Kolosse („Einbahnstraße? Kümmer‘ dich um deinen eigenen Dreck!“) und schmierwillige Polizisten. Autos scheinen hier ohne Mobiltelefon in der Hand gar nicht erst anzuspringen, Multitasking erreicht ungeahnte Dimensionen (Telefonieren, Rauchen und Lenken zugleich – mit nur zwei Händen). Volkssport: Auf dem Mobiltelefon herumspielend bei laufendem Motor stundenlang auf irgendjemanden oder irgendetwas warten – bittet man um das Ausschalten mit Hinweis auf das Problem der Luftverschmutzung (Bukarest gehört zu den europäischen Städten mit der höchsten Feinstaubdichte), erntet man entweder Unverständnis (O-Ton Polizistin: „Und wo ist die Relevanz?“) oder aggressive Ignoranz („Als ob es auf mich noch ankäme bei der ganzen Umweltbelastung.“).

Dann ist da noch das Phänomen der Pferdewagen auf den Autobahnen (das einzige mir bekannte Land, das sich genötigt sah, Verbotshinweise für Pferdegespanne vor Autobahnzubringern aufzustellen), die ohne jegliche Reflektoren unterwegs sind. Ganze Großfamilien werden so durch gepanzerte Protzkarossen vornehmlich deutscher Produktion – Unverwundbarkeits- und Allmachtsphantasien sind Teil des Kaufpreises – ausgelöscht.

Und wenn die Menschen nicht zu Tode kommen auf der Autobahn (welche wiederum für sich genommen als ein Symbol für die Korruption, Dauerverschleppung jeglichen Fortschritts und handwerkliche Schlamperei locker Thema einer mehrere hundert Seiten umfassenden Abhandlung wäre), dann durch Raserei auf den Hauptstraßen der Dörfer und kleinen Ortschaften, die wiederum aufgrund einer vollkommenen Absenz von Gehsteigen voll sind mit konsequent in Fahrtrichtung laufenden (man will der Gefahr schließlich nicht ins Gesicht blicken), unfreiwilligen Selbstmördern.

Will man nach einem Tag voller permanentem Gehupe (dessen Opfer man vor allem dann wird, wenn man, am Kennzeichen gut ablesbar, offenkundig nicht ortskundig ist) und Verfluchungen (bei Dauer-Geduze geraten in der Regel direkt und ohne großes Geplänkel die eigene Mutter und deren Verwandte ins verbale Visier des Gegenübers) abschalten, kann man des Nachts den nimmer enden wollenden, süß-röhrenden Klängen der in Dauerschleife im Stadtinneren ausgetragenen Motorradrennen lauschen.

Dann ist da noch das obligatorische Vorgedränge: Ungeduld ist das deutlichste Zeichen infantiler Gedankenwelten, jeder beeilt sich hier unentwegt irgendwo hin, es wird gerast, gerannt, gedrängt, was das Zeug hält. Man sieht Senioren ohne ersichtlichen Grund über rote Ampeln hasten (rennen sie bei Grün, ist es ein seltener Fall von Selbsterhaltungstrieb), der Schwache wird gefressen, wenn man den Wechsel der Fahrspur naiverweise per Blinken anzeigt, ist das für die Autofahrer auf der angesteuerten Verkehrsspur in der Regel ein Zeichen, jetzt erst recht Gas zu geben, um ja nicht hinter dem wechselwilligen Fahrzeug zu landen (das könnte ja in einem Zeitverlust in Sekundenhöhe enden!).

So erklärt sich auch, warum keinem der Verkehrszeichen mehr als Symbolcharakter beigemessen wird: Vor einiger Zeit kam der Vizepräsident eines großen Fußballclubs ums Leben, weil er an einer Zugschranke nicht mehr länger warten wollte und kurzerhand beschloss, mit seiner Luxuskarre die Gleise zu passieren – nur eines, dafür ein prominentes, von unzähligen Opfern dieser hierzulande so beliebten Vorgehensweise.
Lass ich hier mein Deutschtum walten und warte vorbildhaft an einer roten Fußgängerampel, weil mir gegenüber kleine Kinder stehen, werden diese, sobald sich die Gelegenheit (halbwegs) ergibt, garantiert von ihren Eltern über die immer noch rote Ampel gescheucht. Dass solche Stellen oftmals noch durch einen Zebrastreifen als Fußgänger-Übergang gekennzeichnet sind, stört in der Regel herzlich wenig, gerne warten Autofahrer hier inmitten dieser Kennzeichnung – so lassen sich zusätzliche Meter gewinnen, wenn die Ampel im Rücken endlich auf Grün schaltet (über diesen Vorgang wird man von den anderen Autofahrern freundlich per Hupe hingewiesen).

Nach mehreren Monaten der aktiven Teilnahme am hiesigen Verkehr wurde mir bewusst: Ja, ich bin ein Wutbürger und hier ist das auch richtig so! Doch hilft auch dies leider nicht wirklich, nach einer Weile wird man zum Zyniker, beginnt, grausam zu Tode gefahrene Tiere zu fotografieren, sich darüber insgeheim zu freuen, wenn man einen Raser ein paar Kilometer weiter mit einem Motorschaden am Straßenrand erblickt, spielt mit dem Gedanken, ein Album zusammenzustellen mit den Abertausenden von Kreuzen, die an den Straßenrändern der Verkehrstoten gedenken, oder endlich einen Waffenschein zu machen – kurzum: Man will in irgendeiner Weise dieser Übermacht der Ignoranz, dieser Regentschaft des Ellbogens, diesem Fest der Asozialität etwas entgegnen, sich dagegen zur Wehr setzen, die Vorgänge dokumentieren. Man will diese skandalösen, menschenverachtenden Vorgehensweisen der ganzen Welt entgegenschleudern.

Doch irgendwann wird auch diese Haltung anstrengend, man wird zum Sisyphos, ermüdet und gerät mit ein wenig Abstand schließlich wieder in eine einigermaßen pazifistische Haltung, sodass man dieser Massen-Tumbheit im Geiste der deutschen Friedensbewegung zurufen möchte: Das Meer besteht aus Tausenden von Tropfen. Ohne jeden einzelnen Tropfen kann es das Meer nicht geben. Meine geliebten Mit-Rumänen, wollen wir wirklich etwas ändern, so gilt: Auf jeden einzelnen von uns kommt es an!

Und so hoffe ich in meinem naiven deutschen Seelchen, dass so etwas wie Gemeinwesen auch in Rumänien verwirklicht werden kann.