„Wenn wir den Rechtsstaat nicht nur in Sonntagsreden bemühen wollen, müssen wir ihn definieren“

ADZ-Gespräch mit Hartmut Rank, Leiter des Rechtsstaatsprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)

Auf ihrem Gipfeltreffen vom Juli hätten sich die EU-Staats- und Regierungschefs neben dem Haushalts- und Finanzpaket eigentlich auch auf einen Rechtsstaatsmechanismus einigen sollen, durch den die Auszahlung von EU-Geldern künftig an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien geknüpft wird. Dieser Kontrollmechanismus fand in der Gipfel-Vereinbarung jedoch letzten Endes kaum Erwähnung – textlich hieß es bloß, der EU-Rat unterstreiche die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen der EU und des Respekts der Rechtsstaatlichkeit. Über die Aussichten auf einen derartigen, vor allem unter den EU-Rechtsstaatssündern wenig beliebten Hebels sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica mit Hartmut Rank, dem Leiter des Rechtsstaatsprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).

Herr Rank, hat der Europäische Rat aus Ihrer Sicht im Juli eine Entscheidung zum Thema des bereits wiederholt in Aussicht gestellten Rechtsstaatsmechanismus lediglich vertagt oder gänzlich begraben? 

Man muss sich zunächst vor Augen führen, dass viele Prozesse in der EU etwas länger dauern. So sind von der Unterzeichnung des Unions-Vertrags 1992 in Maastricht (in welchem die Europäische Zentralbank die Kompetenz zur Ausgabe von Euro-Münzen und Banknoten erhielt) bis zum tatsächlichen Umlauf der Euromünzen und -scheine ganze zehn Jahre verstrichen. Auch in anderen Feldern hat es einige Zeit gedauert, bis die Einsicht gereift ist, dass ein engeres Zusammengehen der EU-Mitglieder im Interesse aller ist. Nehmen Sie die Zusammenarbeit einiger EU-Staaten in den Bereichen Justiz und Inneres, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung oder die neu geschaffene Europäische Staatsanwaltschaft.

Vor diesem Hintergrund ist es nun zwar bedauerlich, dass in der Frage der sogenannten „Konditionalität“ – also der Verknüpfung der Auszahlung bestimmter Gelder an das Vorliegen bestimmter, (teilweise noch abschließend zu definierender) Kriterien nicht schon 2020 weitreichende Beschlüsse getroffen wurden. Andererseits ist es aber auch kein Drama, dass dies jetzt noch nicht geschehen ist. Das Thema Rechtsstaatlichkeit und EU-Finanzen wird uns alle weiterhin beschäftigen, es ist also keineswegs „begraben“. 

Rechnen Sie damit, dass Deutschland als Land, das gegenwärtig den EU-Ratsvorsitz innehat, auf einem starken Rechtsstaatsmechanismus bestehen wird? In der deutschen Presse wurde ja spekuliert, dass Bundeskanzlerin Merkel das Thema absichtlich zurückgestellt haben könnte, um beim Gipfel über-haupt einen Deal zustande zu bringen, und es später separat und ohne Kompromisszwang angehen wird ….

Gerade Deutschland mit seinem gut funktionierenden Rechtsstaat ist an einer Stärkung des Rechtsstaatsmechanismus überall in der Union sehr interessiert. Die Frage des korrekten Zeitpunktes, diesen als höchste Priorität zu diskutieren, ist jedoch sicherlich auch eine Frage politischer Notwendigkeiten und Realitäten. Lassen Sie uns einmal den zeitlichen Ablauf einer Ratspräsidentschaft vor Augen führen. Die Vorbereitungsphase beginnt doch lange vor der eigentlichen Übernahme der Ratspräsidentschaft und ist nicht losgelöst von den Präsidentschaften direkt vor bzw. nach der eigentlichen Sechsmonatsphase zu betrachten. Die aktuelle (und insgesamt schon 13.) deutsche Ratspräsidentschaft ist Teil der Trio-Präsidentschaft Deutschland-Portugal-Slowenien. Deren gemeinsames Achtzehnmonatsprogramm umfasst, und deswegen spreche ich von „aktuellen Notwendigkeiten“, an erster Stelle Fragen der Bewältigung der Covid-19-Pandemie, also ein Thema, welches noch vor gut einem halben Jahr nicht als so gravierend absehbar war. Doch schon als zweiter und dritter Themenbereich sind der „Mehrjährige Finanzrahmen“ und die „Erhaltung eines gerechten und sozialen Europas bei gleichzeitiger weltweiter Förderung europäischer Interessen und Werte“ zu finden, worunter explizit auch die „Rechtsstaatlichkeit“ genannt wird. Wenn wir nun die vier Hauptthemen der deutschen Ratspräsidentschaft betrachten, kommen noch die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien als drängende Aufgabe hinzu. Ich denke, dass eine Verknüpfung der Auszahlung von EU-Geldern künftig an Rechtsstaatlichkeitsprinzipien mittelfristig auch deswegen wahrscheinlich ist, weil sowohl Kommission als auch EU-Parlament daran interessiert sind. Es handelt sich hierbei um eine längerfristige Aufgabe.

Lässt sich der Rechtsstaat durch Entscheidungen im politischen Kompromiss- oder Mehrheitsmodus überhaupt effizient schützen?

Zunächst einmal setzt der Rechtsstaat eine unabhängige Justiz voraus. Abschließende Entscheidungen, ob eine Verletzung einer bestimmten Vorschrift (z.B. der Europäischen Verträge) vorliegt, sollten daher (nur) von den zuständigen Gerichten getroffen werden. Politische Abwägungen und Kompromisse sind bei rechtlichen Grundsatzfragen eher schädlich. Tatsächlich sind die formalen Hürden eines „Rechtsstaatsverfahrens“ gegen ein EU-Mitglied nach Art. 7 des EU-Vertrages derzeit wohl zu hoch. Das Einstimmigkeitsprinzip nach Art. 7 Abs. 2 EUV, um ein solches Verfahren überhaupt erst einmal zu starten (und dem zuständigen Gericht zu übergeben), hat sich nicht bewährt. Wenn wir den Rechtsstaat aber nicht nur in Sonntagsreden bemühen wollen, müssen wir uns Gedanken machen, ihn zu definieren, und ihn in der Bildungsarbeit schon in Schulen verankern. In diese Richtung gehen übrigens derzeit ernsthafte Bemühungen, auf europäischer Ebene als auch bereits in einigen Mitgliedsstaaten. So hat der Deutsche Bundestag 2019 das Gesetz zur Errichtung der Stiftung Forum Recht verabschiedet, welches ein Dokumentations-, Informations- und Diskussionszentrum auf den Weg bringt, um den Rechtsstaat für jedermann erlebbar zu machen.

Der ursprüngliche Vorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel wurde im Laufe des Gipfels stark verändert und gekürzt; festgelegt scheint vorerst nur, dass die Kommission Maßnahmen wegen Verstößen vorschlagen soll, „die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden“. Nötig wären dann 55 Prozent der EU-Länder mit 65 Prozent der Gesamtbevölkerung, was von den Medien als schwer erreichbar gewertet wird. Ist dem so?

Die Abstimmungsmodalitäten in der EG und später EU wurden und werden immer gern kritisiert. Aber auch hier hat sich über die Jahrzehnte eine positive Entwicklung vollzogen. Eine Einstimmigkeit im Rat wird in der Regel nicht mehr gefordert. Auch, dass wie derzeit noch in Art. 7 Abs. 2 EUV, ein einziges Land (außer dem betroffenen Mitgliedsstaat) den Beginn eines bestimmten Verfahrens blockieren kann, würde wohl bei einer Reform der Verträge heute nicht mehr so geregelt. Das von Ihnen angesprochene doppelte Quorum von 65% bzw. 55% mag schwer erreichbar scheinen. Ist es das aber wirklich? Es ist ein doppelter Schutzmechanismus, der sowohl die größeren als auch die Gruppe kleinerer Staaten schützen soll. Es bedarf nur 15 von 27 Ländern (etwas mehr als die einfache Mehrheit) bzw. 291 von den derzeit 448 Millionen Einwohnern, welche in der EU leben. Diese zweite Hürde (2/3 der Bevölkerung) ist in der Regel erreichbar, solange zumindest drei der bevölkerungsstärkeren Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien oder Polen dafür stimmen. Andererseits können die bevölkerungsreicheren Staaten aber auch nicht „allein“ ihren Willen durchsetzen, ohne nicht mehr als die Hälfte aller EU-Staaten auf ihrer Seite zu wissen. Ich finde dies, aus demokratischer Sicht, einen Teilerfolg: Weder gibt es die Vetomöglichkeit eines einzelnen Staates noch stellt der besprochene Mechanismus etwa eine dreistufige Hürde dar. Denn auch solche Quoren hat es im Europarecht schon gegeben, etwa im Vertrag von Nizza.

Das EU-Parlament hat die Gipfelbeschlüsse bereits kritisiert und bekannt gegeben, diese nachverhandeln zu wollen, einschließlich den in der Schwebe gebliebenen Rechtsstaatsmechanismus. Besteht aus Ihrer Sicht damit mehr Hoffnung?

Kritik am ausgehandelten Gipfelergebnis gab es tatsächlich reichlich. Selbst die Kommissionspräsidentin bezeichnete dies ja als „bittere Pille“. Viele Abgeordnete haben Nachverhandlungen angekündigt. Geplant war, das Budget in der für Mitte September angesetzten regulären Plenarsitzung zu verhandeln. Ob aber angesichts der weiterhin grassierenden Pandemie mit Reiseeinschränkungen und zu erwartenden weiteren wirtschaftlichen Verwerfungen die Parlamentarier so weit gehen werden, das im Sommer von den Staats- und Regierungschefs ausgehandelte Ergebnis notfalls komplett abzulehnen, bezweifle ich aber. 

Details dieses Kontrollmechanismus, der ja schon seit Jahren im Gespräch ist, sind bisher stets unklar geblieben. Welche entpolitisierten und auf einigermaßen festem juristischem Grund beruhenden Kriterien könnte oder sollte ein solcher Hebel Ihrer Meinung nach beinhalten?

Dies ist eine ausgezeichnete Frage. Zunächst: Es ist ja nicht so, dass man verschiedene Aspekte der Justiz bisher gar nicht untersucht hätte. Seit 2013 veröffentlicht die Kommission alljährlich das sogenannte „Justizbarometer“. Dies umfasst eine große Menge statistisch erhebbarer Daten z.B. in Zivil- oder Verwaltungsverfahren. Wie lange dauert ein Gerichtsverfahren durchschnittlich? Anteilig wie viele Mittel des nationalen Haushalts werden für den Justizapparat ausgegeben? Wie viele Richterinnen und Richter (im Verhältnis zur Bevölkerung) sind in einem Land tätig? Dies alles ist sicher hilfreich, um die Justiz noch effizienter zu gestalten.

Doch wie genau misst man eigentlich, ob ein Land ein Rechtsstaat ist? Hier darf es keine zu simplen Indikatoren geben. Rechtliche Fragen sind oft vielschichtig, der entscheidende Unterschied oft klein - es gibt nun einmal kein Schwarz-Weiß-Schema. Daher braucht es eine Reihe detaillierter Messmethoden. Die EU muss dafür aber kein komplettes Neuland betreten: Seit 2016 gibt es einen umfangreichen Rechtsstaats-Fragenkatalog der Venedig-Kommission des Europarats. Dessen Fragen lauten z.B. „Ab welchem Grad stellt eine Bestechung/Vorteilsnahme einer Person, die ein öffentliches Amt bekleidet, eine Straftat dar?“ oder „Sind in bestimmten Sektoren, welche dem Risiko der Korruption in besonderer Weise ausgesetzt sind, ausreichende Präventionsmaßnahmen getroffen worden?“. Zahlreiche Fragen dieser Art sind letztlich nötig, um zu einer Einschätzung zu kommen, ob ein EU-Staat (gerade noch? - oder schon nicht mehr?) rechtsstaatlich verfasst ist.
Schon im September 2020 wird nun der erste „Bericht der EU über die Rechtsstaatlichkeit“ erwartet, wie Justizkommissar Reynders angekündigt hat, worauf wir gespannt sind.


Seit dem Abgang der PSD-Regierungen und des inzwischen inhaftierten Ex-PSD-Chefs Dragnea gehört Rumänien zwar nicht mehr zu den ausgemachten Rechtsstaatssündern, trotzdem ist in puncto Rechtstaatlichkeit hier-zulande noch längst nicht alles in Ordnung. Wo sehen Sie die größten Baustellen?

Dazu reicht eigentlich ein Blick in die EU-Berichte im Kooperations- und Kontrollverfahren. Anders als dies teils dargestellt wurde, sind diese meiner Auffassung nach eben nicht politisch geprägt, sondern benennen klar offene Schwachstellen, wie vor einem Jahr noch die fehlende Transparenz und Vorhersehbarkeit des Gesetzgebungsverfahrens für die Rechtsvorschriften zur Justizreform.

Rumänien tut gut daran, die verbliebenen Vorgaben dieser Berichte Punkt für Punkt abzuarbeiten. Die Berichte nennen ja auch bisweilen gut funktionierende Bereiche, so die Arbeit der ANABI. Seit dem Ende der PSD-geführten Regierung konnten durchaus mehrere Kritikpunkte behoben werden. Für die Korruptionsbekämpfung wichtige Behörden haben wieder regulär ernannte Leiter, welche nicht nur vorübergehend tätig sind. Noch bestehende Kompetenzprobleme müssen aber gelöst und die Regeln und Prozesse des Obersten Magistraturrats sollten noch einmal einer Prüfung unterzogen werden. Auch die Arbeiten an der Modernisierung des Straf- und Strafprozessgesetzbuches sollten nun, nach den Irrwegen der letzten Jahre, zügig abgeschlossen werden.

Besten Dank für Ihre Ausführungen.