„wie ich eines tages die u-bahn verlor“

Thomas Perles Prosaband „wir gingen weil alle gingen.“ jüngst in Wien erschienen

Thomas Perle: „wir gingen weil alle gingen.“ prosa, edition exil: Wien 2018, 136 S., ISBN: 978-3-901899-69-0, 12 Euro.

Dem 1987 im rumänischen Oberwischau/Vișeu de Sus geborenen deutschen Schriftsteller und Dramatiker Thomas Perle waren nur wenige Jahre seiner Kindheit in der Maramuresch vergönnt, denn bereits 1991 emigrierte die Familie nach Deutschland, wo Thomas Perle dreisprachig aufwuchs: mit der deutschen Muttersprache, der ungarischen Vatersprache und der rumänischen Elternsprache. Nach dem Abitur ging Thomas Perle nach Wien, um Theater-, Film- und Medienwissenschaft zu studieren. Bereits während des Studiums sammelte er Erfahrungen am Volkstheater Wien, und nach seinem Studienabschluss war er als Regieassistent am Schauspielhaus Wien tätig. Für seine Theaterstücke, etwa „mutterseele. dieses leben wollt ich nicht.“, wurde er bereits vielfach ausgezeichnet, so zum Beispiel mit dem Wiener Dramatikerpreis 2018. Im vergangenen Jahr war er außerdem Stadtschreiber in Rottweil. Und vor just vier Wochen wurde Thomas Perle für sein Theaterstück „karpatenflecken“ der im zweijährigen Turnus verliehene Retzhofer Dramapreis, ein Nachwuchspreis für szenisches Schreiben, zuerkannt, der vom Drama Forum Graz vergeben wird und mit einer Uraufführung am Wiener Burgtheater verbunden ist.

Für seinen Prosatext „wir gingen weil alle gingen.“ erhielt Thomas Perle 2013 den exil-Literaturpreis der Wiener edition exil, und dieser Text eröffnet auch seinen ersten Prosaband, der im vergangenen Jahr in Wien erschienen ist und aus dem Thomas Perle auch schon in Rumänien, im Juni in Klausenburg/Cluj-Napoca, vorgelesen hat. Dieser gänzlich in Kleinbuchstaben verfasste Text schildert aus der Perspektive eines elfjährigen Mädchens das Leben in Rumänien unter dem Ceaușescu-Regime, die Auswanderung der Familie nach Deutschland, ihr „übergangsleben“ als Spätaussiedler in Nürnberg und die allmähliche Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft, nicht zuletzt die sprachliche. Dazu zählt etwa die Episode, in der die Ich-Erzählerin von ihrem ersten Schultag in Deutschland berichtet, der gleich mit einem doppelten Fauxpas beginnt: Erstens kommt sie wegen ihres kleinen Bruders verspätet zur Schule, und zweitens macht sie bei der Entschuldigung vor lauter Aufregung gleich noch einen sprachlichen Fehler. Statt zu sagen, dass sie die U-Bahn verpasst hat, sagt sie: „ich habe die u-bahn verloren!“, weil sie die auf Rumänisch mitzudenkende korrekte Satzversion „am pierdut metroul“ falsch ins Deutsche übersetzt.

Die Spracherfahrungen des jungen Mädchens, des autobiografisch-literarischen Alter Egos von Thomas Perle, bilden sich auch typografisch im Text ab. Immer wieder werden ungarische und rumänische Floskeln, Wörter oder Begriffe kursiv in den deutschen Text montiert und machen so die trilinguale Existenz der ausgewanderten Heranwachsenden sinnfällig. Die von Thomas Perle in diesem Prosatext geschilderten Erfahrungen lassen sich sehr schön mit dem Roman „Wunderzeit“ von Catalin Dorian Florescu oder auch mit dem Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“ von Aglaja Veteranyi vergleichen, wo ebenfalls interkulturelle Migrationserfahrungen aus kindlicher bzw. jugendlicher Perspektive geschildert werden. Thomas Perles Prosatext „wir gingen weil alle gingen.“ endet mit einem Nachruf auf die verstorbene Mutter in Form der folgenden Sätze: „heute bin ich ein wenig älter als sie während der revolution. und knapp so alt wie sie damals, als sie die entscheidung fasste zu gehen. jetzt begreife ich die worte, die sie mir damals ins ohr geflüstert hatte. für euch.“

Ein anderer, ebenfalls autobiografisch grundierter Text aus diesem Prosaband befasst sich mit Leben und Tod der Großmutter und trägt den Titel „mutterkörper. jedes leben einmal zu ende.“ In die Kindheitsgeschichte der Großmutter hinein gewoben ist die Geschichte des jüdischen Mädchens Martha, das vor ihren Augen deportiert wird. Als sie ihrer Schulfreundin zurufen und auf die Straße rennen will, bekommt sie von ihrer Mutter, also der Urgroßmutter, „eine ohrfeige bis ins knochenmark. willst sterben?“ Wenige Jahre später wird die deutsche Großmutter selbst Opfer der Deportation: „vor den waggons tummelten sich jetzt die menschen unserer minderheit mit koffern in der hand. das deutsche wurde wegevakuiert.“

Das kurze Prosastück „august.“ schildert die Lebensgeschichte des rumänischen Schlachthofarbeiters Vasile, der eine rumäniendeutsche Frau namens Käthe („kete“) und mit ihr zusammen die gemeinsame Tochter Krimhilde hat. Die Ehe zerbricht an der gemeinsamen Auswanderung nach Deutschland, auf die Vasile mit Hass und Gewalt reagiert, weil er sich im deutschen Ausland weder sprachlich noch mental zurechtfindet. Alleine nach Rumänien zurückgekehrt, erhält er eines Tages per Post die Scheidungspapiere. „er solle seine unterschrift gefälligst darunter. So stand das in dem brief, den kete auf rumänisch verfasst. weil er nicht mehr zurück. nicht mehr zurück in das verfluchte deutschland wollte, das er hasste.“ An dieser Stelle wird auch eine schriftstellerische Eigentümlichkeit Thomas Perles deutlich, der Verben oder Teile von Verbformen oftmals elliptisch ausspart, um die Intensität der Sprachenergie seiner poetischen Prosatexte zu steigern.

„holz.“ ist ein weiterer Prosatext aus diesem Band betitelt. Der Text schildert das Schicksal von Karl und Margarethe, die gemeinsam in einem Karpatendorf aufwachsen, sich ineinander verlieben und heiraten wollen. Der Erste Weltkrieg macht ihnen dann einen Strich durch die Rechnung. Nach der Rückkehr aus der italienischen Kriegsgefangenschaft heiratet Karl schließlich dann doch noch seine Margarethe, die ohne ein Lebenszeichen von ihm treu auf ihn gewartet hat, und sie bekommen sieben Kinder, von denen vier Töchter überleben. Auch in diesem Prosatext von Thomas Perle ist der Tod der Mutter von zentraler Bedeutung, an dem der Vater schließlich psychisch zerbricht – „lasst mich sterben! einfach liegen! liegen lassen, verflucht nochmal!“ – und am Ende gar auch physisch gänzlich verschwindet.

Neben dem umfangreichsten Text „schwarzer schnee.“, der an seinem Beginn eine morbide Szenerie von Tod, Grab, Friedhof und Beerdigung entfaltet und in seinem weiteren Verlauf von der homosexuellen Liebe des Ich-Erzählers zu seinem Freund Daniel erzählt, finden sich in Thomas Perles Prosaband noch zwei kürzere Prosatexte. Im „schweigen.“ überschriebenen Text wird das Schicksal der Tante – ihre Liebe zu einem verheirateten Mann, ihre Abtreibung und ihre lebenslange Ehelosigkeit – im Akt des Erzählens gleichsam totgeschwiegen. Und mit dem letzten Text des Prosabandes, der den Titel „wir danken der partei.“ trägt, kehrt Thomas Perle noch einmal in die Endzeit des Ceaușescu-Regimes zurück. Die Mutter des neunjährigen Ich-Erzählers wird von der Securitate abgeholt, der Vater bei Verhören malträtiert, der Schulfreund Nicu verschwindet nach Deutschland, und eines Tages verschwindet auch der Vater, der von einer Reise nach Bukarest nicht mehr zurückkehrt, weil er dort beim Ausbruch der Revolution von regimetreuen Milizionären erschossen wird. Erst viel später erfährt der Ich-Erzähler auch vom Tod der Mutter, die als Dissidentin wegen ihrer Texte gegen das Regime sterben musste. Sieben Jahre nach der Revolution, nach dem Tod der Großmutter, bei der er bis dahin gelebt hatte, emigriert der noch minderjährige Ich-Erzähler alleine nach Deutschland und zieht dort zu Verwandten, die ihn bei sich aufnehmen. Der letzte Satz dieser Erzählung wie des gesamten Prosabandes von Thomas Perle klingt wie ein persönliches Vermächtnis: „die sozialistische hymne musste ich nie wieder singen.“