„Wie nach dem Wink eines Zauberers verwandelt“

Auf den Spuren eines Visionärs durch Chișinău: Der bessarabiendeutsche Bürgermeister Karl Schmidt

Das Denkmal Karl Schmidts vor der Philharmonie steht direkt gegenüber seinem Wohnhaus.

Das Rathaus von Chișinău, eines der Projekte im Rahmen der stadtplanerischen Tätigkeit

Wohnhaus in der Strada Mitropolit Varlaam 84

Das Restaurant „Karl Schmidt“ | Fotos: Aurelia Brecht

Deutsche Spuren in Chișinău? Streift man durch die Hauptstadt der Republik Moldau, so begegnet man an vielen Ecken in der Innenstadt der Person von Karl Schmidt. Als langjähriger Bürgermeister und vielleicht bekanntester Bessarabiendeutscher in der Republik Moldau, prägte er in seiner 1877 bis 1903 dauernden Amtszeit die Geschicke der Stadt in mehreren Bereichen entscheidend. So preisen seine Zeitgenossen den Zeitraum seines Wirkens als Zeit der „Europäisierung“ und sahen ihn als Erneuerer. Fest steht: Karl Schmidt hat maßgeblich zur Modernisierung der Stadt beigetragen.  

Ab 1812 wurde Bessarabien Teil des russischen Kaiserreiches; Chișinău war Gouvernementshauptstadt und entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Kleinstadt zur Metropole. Viele von Schmidts Spuren im Stadtbild wurden während der Sowjetzeit zerstört. Wer aber war dieser Mann, der als „Schöpfer des neuen Kischinjows“ bezeichnet, für 26 Jahre ohne Unterbrechung zum Bürgermeister gewählt wurde und schon zu seinen Lebzeiten ein hohes Ansehen bei seinen Mitmenschen genoss?

Herkunft und Aufstieg in Zeiten der Öffnung

Schmidts Familie gehörte zur bessarabischen Elite. Sein Vater stammte ursprünglich aus der Gegend von Dörpt/Dorpat, heute Tartu, im heutigen Estland, und wurde 1821 in seiner Funktion als Arzt in das damals existierende „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschickt. Dort wurde Karl Schmidt 1846 als Karl-Ferdinand Alexander Schmidt in Beltz/Bălți geboren – heute die zweitgrößte Stadt der Republik. Seine Mutter war polnischen Ursprungs. Die Familie wurde aufgrund der Verdienste des Vaters 1883 in den Adelsstand erhoben und war lutherischen Glaubens. 

Seine schulische Laufbahn absolvierte Karl Schmidt in Chișinău, dann studierte er Physik und Mathematik in Kiew und anschließend Jura in Odessa. Seine Ausbildungszeit fällt zusammen mit der Zeit der „Großen Reformen“ Zar Alexanders II., die neben der Abschaffung der Leibeigenschaft und weiteren Änderungen in den Bereichen Militär und Justiz im Russischen Kaiserreich auch mit einer Öffnung und Reformen im Bildungssystem einhergingen: Seine Schullaufbahn war durch freiheitlich-aufklärerische Ideale geprägt.

Nach Beendigung seiner Studienzeit in den sechziger Jahren bekleidete er an verschiedenen Orten des Gouvernements Bessarabien zahlreiche Ämter in der Gerichtsverwaltung und sammelte in dieser Zeit vermutlich die praktische Erfahrung, die ihm später in seiner Zeit als Bürgermeister und Stadtplaner zugute kam: Bereits mit 31 Jahren wird Schmidt zum Bürgermeister gewählt.

Ambitionierter Bürgermeister mit Ideen

Durch die „Großen Reformen“ wurde ein weiterer Prozess in Gang gesetzt: Die Lokalverwaltung gewann weitreichende Selbstverwaltungsrechte – und konnte nunmehr freier über städtischen Grund und Boden und deren Finanzen verfügen. Die Mitgestaltung durch die Bürger wurde auf diese Weise vereinfacht. In diesen Kontext fügt sich das Handeln und Schaffen Karl Schmidts und die mit ihm im Zusammenhang oft genannte „Europäisierung“ Chișinăus ein.

Seinem Erfolg in der Stadtplanung ging eine Umstrukturierung im Bereich der Verwaltung und der Finanzen der Stadt voraus. Schmidt erreichte, dass das Gouvernement von Bessarabien die horrenden Kosten für die Bereiche Polizei und Militär senkte, die lange in den Verantwortungsbereich der Stadt fielen und die die Stadtkasse Jahr für Jahr belasteten. So konnten die Mittel für das Allgemeinwohl und die städtischen Belange eingesetzt werden, die dringend benötigt wurden, denn die Stadtbevölkerung wuchs rasant.

Überhaupt war der Führungsstil Schmidts, glaubt man den Aussagen seiner Zeitgenossen, geprägt durch die Möglichkeit des offenen Austauschs und der Diskussion. Er recherchierte detailgenau, plante voraus, sicherte sich ab und holte Erfahrungsberichte aus anderen Städten und dem Ausland ein, bevor er ein Projekt in Angriff nahm. 

Schnell war auch klar: Unter Schmidt durfte nicht mehr „irgendwie“ gebaut werden. Es wurden Normen festgelegt, die die Maße von Gebäuden und Straßen, Abstände zwischen Bauten und Regelungen für Keller und Höfe bestimmten.

Bei der Planung diente wohl die Stadt Odessa in weiten Teilen als Vorbild – dort hatte Schmidt seine Studienzeit verbracht, dort lebte sein Freund und Wegbegleiter, der Architekt Alexander Bernardazzi. Bei ihm gab Schmidt zahlreiche Gebäude in Auftrag, die bis heute das Stadtzentrum prägen: So existiert das Rathaus, das sich an der Hauptachse der Stadt, dem Boulevard Ștefan cel Mare befindet, und das ebenfalls auf diesen Architekten zurückgeht, bis heute. Das Mädchengymnasium der Fürstin Natalia Dadiani beherbergt heute das nationale Kunstmuseum. Auch einer der Wassertürme, die Teil des neu eingerichteten Wassersystems waren, wurde von Bernardazzi entworfen und steht bis heute. Insgesamt gehen auf Bernardazzi rund 30 Gebäude in Chișinău zurück, viele davon wurden von Schmidt in Auftrag gegeben.

Schmidts Schaffen lässt sich in zahlreichen Bereichen der Stadtplanung wiederfinden und wirkte ganzheitlich: In den ersten Jahren seiner Tätigkeit nahm er die Einrichtung einer Kanalisation und die Wasserversorgung in Angriff. Mit der Einführung des neuen Systems verbesserten sich die hygienischen Zustände in der Stadt. Weitere Veränderungen waren die sukzessive Pflasterung der Straßen, die Einführung einer Pferdestraßenbahn als Transportmittel sowie die Installation von Straßenbeleuchtung und Telefonmasten. Grünanlagen entstanden, man begann Wert auf Straßenbepflanzung zu legen. Plötzlich war die Verschönerung der Stadt von Wichtigkeit. Der Zeitgeist hatte sich verändert.

Mit der Gebäudeplanung waren für Schmidt aber auch stets soziale und kulturelle Aspekte verbunden: Unter seiner Ägide entstanden Krankenhäuser, karitative Einrichtungen, Spielplätze. Vereine zu allen erdenklichen Sachgebieten sprossen aus dem Boden. Die Bildung breiterer Bevölkerungsschichten rückte in den Mittelpunkt und ging mit der Neugründung von Schulen einher.

Pogrom von 1903 und das Ende der Ära Karl Schmidt

Das Jahr 1903 ist ein Einschnitt in der Geschichte Chișinăus und markiert zugleich den Wendepunkt für Schmidts Wirken als Bürgermeister. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Juden die größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt. Bei einem Pogrom, das sich an Ostern ereignete und drei Tage andauerte, wurden 49 Jüdinnen und Juden ermordet, 600 verletzt und hunderte jüdische Frauen vergewaltigt. Das Ereignis ging als das „Pogrom von Kishi-nev“ in die Geschichtsbücher ein und führte dazu, dass viele Juden emigrierten.

Karl Schmidt bemühte sich in diesen Tagen um die Begrenzung der Schäden, indem er den Betroffenen persönlich Hilfe leistete und im Nachgang zur Aufklärung der Ereignisse beitrug. Enttäuscht und erschüttert durch das Morden und Plündern, das sich in der Stadt abgespielt hatte, in der er jahrelang versucht hatte, einen freiheitlichen Geist und Toleranz einziehen zu lassen, trat er zurück. Einer, der immer für das Allgemeinwohl gekämpft hatte, war müde geworden.

Eine Bewertung aus dem Jahr 1927 kommt ein Jahr vor Schmidts Ableben zu folgender Würdigung seiner Person: „Was K. A. Schmidt für Kischinjow gemacht hat, ist nicht schwer zu sagen. Das wissen alle. Das sieht jeder. Die Stadt, die im Dreck und in der Finsternis buchstäblich versank, verwandelte sich wie nach dem Wink eines Zauberers und stellte sich in die Reihe mit anderen großen Kulturstädten.“

Spuren im Heute

Im Zentrum der Stadt kann man bis auf den heutigen Tag zahlreiche Gebäude bewundern, die immer noch als Wahrzeichen der Stadt gelten und die in der Amtszeit Schmidts und mit seinem planerischen Zutun entstanden sind. Das Puschkin-Denkmal im Stefan-cel-Mare-Park geht auf seine Initiative zurück. Unterhalb des Kathedralenparks trägt ein Restaurant mit traditioneller Küche den Namen des Bürgermeisters. Um das Jahr 2014 hat man bei Straßenarbeiten in der Strada Armenească die Reste eines älteren Aquädukts entdeckt, das vermutlich auch auf die Amtszeit des Bürgermeisters zurückgeht.

Im Jahr 2014 wurde im Beisein der damaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Ulla Schmidt, ein Denkmal für ihn enthüllt. Bis heute kann man es im Stadtzentrum Chișinăus gegenüber dem Wohnhaus der Familie Schmidt bewundern, an dem eine Plakette in deutscher und rumänischer Sprache an Schmidt erinnert. Die heutige Strada Mitropolit Varlaam, in der das Denkmal zu finden ist, war ihm zu Ehren noch zu seinen Lebzeiten in „Carol Schmidt Straße“ umbenannt worden und hieß bis 1944 so.

Karl Schmidt, der sicher Deutsch und Russisch auf hohem Niveau, vermutlich Rumänisch und vielleicht auch Polnisch sprach, gehörte zu einer kosmopolitischen Elite, die im russischen Kaiserreich die Geschicke einer Stadt lenkten, die im Aufbau begriffen war und stetig wuchs. Innerhalb von knapp drei Jahrzehnten wurde die Stadt zur Großstadt und erhielt ihr heutiges Gepräge, was zu weiten Teilen auf Schmidt zurückgeht. Anstoß zur Aufstellung seines Denkmals haben im Jahr 2014 die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland und Polens gegeben. Und so schließt sich der Kreis der Geschichte: Vielleicht hat dies etwas wirklich Europäisches.