Wie sicher ist die Welt heute?

Fabian Neidhardt äußert sich zur Ungewissheit im Alltag

Fabian Neidhardt | Foto: Daniel Gebhardt

Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben unsere Weltanschauung zweifellos geändert. Eines unserer wesentlichsten Bedürfnisse, und zwar jenes nach körperlicher Sicherheit, wurde von einem unsichtbaren Feind gefährdet. Ob man es sich eingestehen mag oder nicht, hatte dies bedeutende, sogar irreparable Auswirkungen auf unsere Denkweise und unser Handeln. Wie benimmt sich eine Person, die ihre körperliche Sicherheit bisher für eine Selbstverständlichkeit gehalten hat und plötzlich aller Gewissheit beraubt wird? 

Der Alarmzustand verpflichtet uns nicht nur zur Einhaltung einiger von der Regierung auferlegten Regeln. Er wird von jedem einzelnen Bürger sowie der gesamten Gesellschaft tief verinnerlicht. Hat die Corona-Krise uns dazu gebracht, bisherige Gewissheiten und die eigene Sicherheit in Frage zu stellen – oder hat sie bereits vorhandene Geisteskonflikte nur verschärft? 

Der deutsche Autor Fabian Neidhardt, der sich kurz als Straßenpoet, Sprecher und Botschafter des Lächelns charakterisiert, setzt sich in seinen beiden Romanen und öffentlichen Vorträgen mit Themen wie die gegenwärtige Ungewissheit und die Unverbindlichkeit auseinander und schlägt dabei Lösungen aus einer psychologisch-philosophischen Perspektive vor.

„Das Leben ist ein Erdbeben“

Fabian Neidhardt wurde 1986 geboren und lebt in Stuttgart. Nach einem Volontariat als Redakteur und Moderator bei Radio Energy Region Stuttgart machte er den Bachelor in Sprechkunst und Kommunikationspädagogik an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und den Master in literarischem Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim. Bis Mai 2019 absolvierte er außerdem eine Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule.

Er veröffentlicht in Zeitschriften, Anthologien und im Internet, spricht auf der Bühne und gibt Workshops in kreativem Schreiben und Sprechkunst, arbeitet für den Sender SWR, führt durch das Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar und moderiert Veranstaltungen.

Seit 2010 sitzt er als Straßenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fußgängerzonen und schreibt kurze Texte auf Zuruf. Ende 2012 erschien sein erster Roman „Das Leben ist ein Erdbeben und ich stehe neben dem Türrahmen“ unter der Creative Commons Lizenz. Seinen Debütroman hat er der Leserschaft online kostenlos zur Verfügung gestellt. Seit 2016 wird er von der Literaturagentur AVA International in München vertreten. 2016 hielt er einen TEDxTalk über Unverbindlichkeit im Alltag, seit 2018 moderiert er TEDxStuttgart. 2020 ist er Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Heuer hat er seinen zweiten Roman veröffentlicht, sein Debüt unter der Schirmherrschaft des Verlags Haymon.

„Wie Generation ‘Vielleicht‘ kommuniziert“

Auch hierzulande ist Fabian Neidhardt kein Unbekannter: Im Oktober 2019 war er beim Goethe-Institut im Rahmen des Debatten-Marathons zu Gast.

Das Goethe-Institut Bukarest veranstaltet seit 2018 eine erfolgreiche Diskussionsreihe mit dem Titel „Fokus-Talk“ im Rahmen seines Jugendforums „Millennials im Fokus“, bei dem junge Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland und Rumänien, die der Millennials-Generation angehören (als solche bezeichnet man die zwischen 1980 und 2000 Geborenen), sowie Fachleute aus verschiedenen Bereichen das Wort ergreifen. Die am meisten diskutierte Problematik des Debatten-Marathons war die Ungewissheit heutzutage, die der  Gastsprecher und Schriftsteller Fabian Neidhardt unter dem Titel „Wie Generation ‚Vielleicht‘  kommuniziert. Wahrscheinlich.“ geistreich darlegte. Dabei handelte es sich um die heutigen Ungewissheiten und die allgemeine Unsicherheit der jungen Leute, die sich, im Gegensatz zu früheren Generationen, vor der Ehe scheuen oder keine Kinder in „eine solche Welt“ setzen möchten. Oder aber auch das online Bestellte ohne richtigen Grund zurückschicken, einfach weil sie jedes beliebige Engagement vermeiden. Als Argument für seine Beobachtung führte Neidhardt die Wechselwirkung zwischen der beispiellosen Freiheit und den Auswahlmöglichkeiten in der Gegenwart einerseits und der ständig steigenden Scheidungs- und Selbstmordrate sowie der zunehmenden Unzufriedenheit der Menschen andererseits an, die in früheren Generationen, ungeachtet mancher Beschränkungen, niedriger waren. Dies widerspiegele sich auch im täglichen Entscheidungs- und Kommunikationsverhalten, denn nicht viele Personen können von Anfang an eine entschiedene Antwort auf eine einfache Ja- oder Nein-Frage geben und sagen stattdessen „vielleicht“. Nur wenige wagen, in Anbetracht der Möglichkeit eines Fehlschlags, etwas zu riskieren. Die Frage aber sei, so Neidhardt, ob die Menschen einfach nur noch unentschlossen seien, wenn sie vage antworten, oder ob sie nicht über genügend Mut verfügen, um ihre Meinung offen zu vertreten.

Dabei kommen die Worte des aufklärerischen Philosophen Immanuel Kant zur Unmündigkeit in den Sinn: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt“. Dasselbe hat auch der Gastsprecher mit anderen Worten ausgedrückt und hinterließ dem Publikum drei Gebote zur Verbesserung des Verhältnisses mit der Welt und den Mitmenschen: „sei direkt“, „habe Mut“ und „traue dich, Fehler zu machen“, gemäß dem Sprichwort „Fehler machen und daraus lernen ist Erfahrung“. Abschließend riet Neidhardt, anderen zuzuhören und durch Empathie, Geduld, Offenheit und Verständnis ihre Kommunikationsfähigkeit zu bessern.

Wegweiser Lebensende

Was geschieht aber, wenn unsere einzige Gewissheit, der Tod, plötzlich nicht irgendwann an einem späteren Zeitpunkt unseres Lebens wartet, sondern gleich um die Ecke lauert? Dann wird alles relativ und ungewiss. Jede Selbstverständlichkeit löst sich auf, daher muss man unbedingt im Rückblick auf sein bisheriges Leben alles umbewerten und die Prioritäten neu setzen. 

Im seinem Roman „Immer noch wach“(2021) schildert Fabian Neidhardt die Geschichte von Alex, der gerade 30 geworden ist, mit seinem besten Freund ein Café eröffnet hat und die Zukunft mit seiner Freundin Lisa plant. Und jetzt muss er sterben. Die Diagnose verändert alles, und Alex trifft eine überraschende Entscheidung: Er will die verbleibende Zeit auskosten, sich dann verabschieden und in ein Hospiz gehen.Er schreibt eine Liste, steht vor der großen Frage, was wirklich wichtig ist, wenn die Lebenszeit abläuft. Mit wem möchte er seine letzten Tage verbringen? Was gibt es noch zu klären? Und was macht ihn eigentlich glücklich?

Im Hospiz bezieht Alex sein letztes Zimmer. Er knüpft Kontakte, lernt Menschen kennen, die den kleinen Rest ihres Lebens hier verbringen, und er knüpft Freundschaften. Doch der Tod lässt auf sich warten; und dann überlegt das Schicksal es sich einmal mehr anders und schenkt Alex Lebenszeit. Aber wo anfangen, wenn man bereits abgeschlossen hat? Wenn man nicht einfach zurück kann ins alte Umfeld, weil man für die Menschen dort schon tot ist? Fabian Neidhardts Debüt stellt seine Leser vor große Fragen und große Trauer. Und er tröstet sie damit, dass es die kleinen Dinge sind, die am Ende wirklich bedeutsam sind. Und vielleicht auch gerade die, die einem selbstverständlich erscheinen: Wie dich deine Freundin weckt, wenn du schlecht träumst. Wie sie mit dir tanzt, auch wenn du bei der Verteilung des Rhythmusgefühls leer ausgegangen bist. Und wie dich dein bester Freund im Arm hält, wenn die Tränen kommen.In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts.

Arme Zeit, reiche Zeit

Die Ideen des Schriftstellers zu den wichtigsten zeitgenössischen Problemen treffen zwar den Nagel auf den Kopf, doch neu sind sie nicht, sie entstammen der von Martin Heidegger vertretenen philosophischen Strömung der Phänomenologie. Der deutsche Philosoph befasste sich ausführlich mit dem Begriff der Zeit und unterschied die verarmte von der reichen Zeit. Was er damit meinte: Man erlebt eine verarmte Zeit, wenn man das Leben ohne jegliches Ziel und dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit unbewusst führe. Erst wenn man das Memento mori immer im Gedächtnis und im Hintergrund seines Handelns behält und das Leben als sinnerfüllt betrachtet, indem man auf die Zukunft hinblickt und nicht nur den Augenblick genießt, erlebt man eine reiche Zeit. 

Leider entscheiden sich viele Jugendliche heutzutage für erstere Art und Weise, ihre Zeit zu verbringen, da sie sich mit der Zukunft und der Idee ihrer eigenen Vergänglichkeit nicht auseinandersetzen wollen. Statt sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, wählen manche Leute den Fluchtweg in die Genuss- und Unterhaltungskultur, Videospielsucht, Alkohol- oder Drogenrausch.  Ein Abgrund, der die Carpe-Diem-Generation von ihrer Zukunft trennt.

Den Hauptgestalten beider Bildungsromane von Fabian Neidhardt gelingt es, aus dem Abgrund eines sinnloses Daseins auszubrechen und im Laufe ihres Werdegangs ihre Weltauffassung völlig zu ändern, sich selbst zu entwickeln und die wesentlichen Dinge im Leben zu erkennen und schätzen. Ihr Leben und die verbrachte Zeit werden folglich mit Sinn beschenkt und dadurch vollkommen bereichert.