Wieso brauchen wir eine Bildungsreform – und was sollte diese ändern?

Umjubeltes Präsidialprojekt „Gebildetes Rumänien“ vs. Ergebnisse der PISA-Bewertungen

Kinder drücken die Schulbank: Wie viel sie während dieser Jahre für ihre Zukunft lernen können, hängt maßgeblich von Rahmenbedingungen ab – und diese sind derzeit Gegenstand hitziger Debatten. | Archivfoto: Agerpres

Seit Monaten wird über die zwei neuen Bildungsgesetze gesprochen, die weiterhin auf sich warten lassen. Die unter der Obhut des ehemaligen Bildungsministers Sorin Cîmpeanu (PNL) als Teil des von Präsident Klaus Johannis initiierten Projektes „România educată“ (Gebildetes Rumänien) ausgearbeitete Variante unterlag im Sommer 2022 einer hitzigen öffentlichen Debatte und hat heftige Kritik von den am Bildungsprozess Teilnehmenden auf sich gezogen: Über 2000 Änderungsvorschläge wurden eingereicht. Obwohl laut Cîmpeanus Aussagen die neuen Gesetzesvarianten bereits fertig seien, scheint die neue Ministerin und ehemalige Präsidialberaterin zu Bildungsthemen Ligia Deca (PNL) eine Neubearbeitung der Unterlagen eingeleitet zu haben, die Vorstellung der überarbeiteten Bildungsgesetze hat sie bereits mehrfach vertagt. Wieso sorgt diese Gesetzgebung für so viele Schlagzeilen, und was steckt dahinter?

Sinkend: Die Zahl der Uni-Absolventen

Die Daten des Europäischen Statistikbüros Eurostat belegen bereits seit Jahren, dass Rumänien auf dem letzten Platz unter den Ländern der Europäischen Union liegt, was den Prozentsatz der Uni-Absolventen betrifft: Im Jahr 2020 haben 25 Prozent der rumänischen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 34 Jahren einen Universitätsabschluss, im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 41 Prozent. Auch Bulgarien und Ungarn lagen mit 33 bzw. 31 Prozent höher. Somit scheint das EU-Ziel von 45 Prozent der aktiven Bevölkerung mit einem Hochschulabschluss für Rumänien weit weg zu sein – auch wenn knapp die Hälfte der 27 EU-Staaten es bereits erreicht haben: Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Schweden, Slowenien, Spanien und Zypern. Betrachtet man die absoluten Zahlen, so ist unser Land stolz, zu den Top10 Europas zu gehören. Aber: Bei knapp 19 Millionen Einwohnern gab es in Rumänien im Jahr 2021 121.000 Uni-Abschlüsse, in Großbritannien jedoch doppelt so viele im Vergleich zur Einwohnerzahl (784.000 Uni-Absolventen bei einer Gesamtbevölkerung von 63 Millionen).

Auch ist die Anzahl der Absolventen kontinuierlich gefallen. Laut einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung wurden im Jahr 2020 rund 10,3 Uni-Abschlussdiplome je 1000 Personen ausgestellt,im Jahr 2013 noch12,6. Der EU-Durchschnitt ist von 13,5 im Jahr 2013 auf 14,7 im Jahr 2020 gestiegen.

Steigend: Die Anzahl der Schulabbrecher

Im Jahr 2021 führte Rumänien die EU-Statistik zur Anzahl der Schulabbrecher: Über 15 Prozent der Jugendlichen aus Rumänien zwischen dem 18. und 24. Lebensjahr hatten damals höchstens die achte Klasse absolviert, was immerhin noch etwas besser war als im Jahr 2012, als 17,8 Prozent der Schüler die Schulbänke vorzeitig verlassen haben. Aufgrund dieser Entwicklung wird unser Land höchstwahrscheinlich das EU-Ziel von neun Prozent Schulabbrechern im Jahr 2030 nicht erreichen (18 EU-Länder haben das Ziel bereits im Jahr 2021 erreicht).
Dauerhaft Niedrig:

Der Bildungshaushalt

Seit Jahren ist er einer der geringsten innerhalb der EU, laut Daten des Europäischen Statistikbüros. Laut Bildungsministerium werden auch in diesem Jahr nur 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung investiert – bei einem EU-Durchschnitt von 5 Prozent. Nur Irland scheint generell weniger Geld dem Bildungswesen zuzuweisen. Gesagt muss aber sein, dass nur sechs europäische Länder das Ziel von sechs Prozent des BIP für Bildung überschreiten. Die wenigen Prozente Unterschied scheinen nicht groß zu sein, jedoch könnte man am Beispiel Rumäniens um fast das Doppelte des diesjährig zugewiesenen Budgets von rund 49,5 Millionen Lei sprechen.

Pisa konstatiert 44 Prozent funktionale Analphabeten

Seit in Rumänien die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weltweit einheitlichen PISA-Bewertungen für Schüler eingeführt wurden, liegt unser Land auch dabei weit entfernt vom EU-Durchschnitt. Ziel dieser Bewertungen ist es, die Grundkompetenzen der Schüler bezüglich Lesen, Mathe und Naturwissenschaften zu messen – und zwar insbesondere in der Art und Weise, wie die Schüler mit den Informationen umgehen und diese bearbeiten können. Die letzten veröffentlichten Daten aus dem Jahr 2018 setzen Rumänien erneut auf den letzten Platz innerhalb der EU, was die Schulleistung angeht: Rund 44 Prozent der rumänischen Schüler bis im Alter von 15 Jahren wurden als funktionale Analphabeten eingestuft, d.h. sie würden einen Erstlesetext lesen, jedoch dessen Inhalt nicht verstehen oder mit anderen Inhalten verknüpfen können. Nur ein Prozent der Schüler würden beim Lesen Höchstleistung zeigen, im Vergleich zum allgemeinen Durchschnitt von neun Prozent aller Länder, in denen die PISA-Bewertungen durchgeführt werden.

Ärger ist aber die Tatsache, dass im Gegensatz zu anderen EU-Ländern, in denen man in den letzten Jahren eine Verbesserung der Situation bemerken konnte, die rumänischen Schüler mit jeder Bewertung schlechter abschneiden.

Erklärungen für das niedrige Bildungsniveau?

Davon gibt es viele, von den überaus häufig wechselnden Ministern und den weit über 100 Änderungen des Bildungsgesetzes während der letzten 30 Jahre bis zu den Lehrkräften, deren Interesse nicht selten vor allem darin besteht, ihre Schüler in ein lukratives Afterschool-Programm einzuschreiben; andere Stimmen sehen Eltern in der Verantwortung. Tatsache ist, dass Rumänien im letzten Jahrzehnt rund 30.000 Lehrkräfte verloren hat, während jedoch die administrative Seite des Bildungssystems gewachsen ist. Gleichzeitig ist wegen des geringeren Gehalts im Bildungswesen auch die Qualifikation der Lehrkräfte gesunken: Nur rund ein Drittel hat im Jahr 2022 bei der Einstellungsprüfung eine Note über 7 erhalten.

Ansätze der neuen Bildungsgesetze

Zumindest theoretisch beschwor die Rhetorik des projektanbahnenden – wenn derzeit auch plagiatsbeschuldigten – Bildungsministers Cîmpeanu im Juli 2022 eine komplette Revolutionierung des rumänischen Schulsystems. Die neue Gesetzgebung würde den zahlreichen Anforderungen aller am Bildungsprozess Beteiligten entgegenkommen. Die Änderungen sollten die Qualität des gesamten Schulwesens verbessern und ihm ein neues Image verpassen. Die zukünftigen Erwachsenen sollten somit besser für das Leben vorbereitet sein, effizienter denken und arbeiten sowie innovativ und zukunftsorientiert agieren können. Gleichzeitig sollte sich das Schulwesen viel stärker der Wirtschaft und ihren Anforderungen anpassen.

Die Lehrkräfte würden wesentlich besser verdienen und hätten gleichzeitig viel mehr Freiheit, ihre Stunden selbst gemäß Anforderungen (sprich: Niveau) der Klassen gestalten zu können. Die Hierarchie im Bildungssystem würde abgeflacht und vereinfacht sowie effizienter organisiert werden, wobei zahlreiche Schulen eigene Aufnahmekriterien formulieren dürfen, ohne vom Bildungsministerium oder den Schulinspektoraten abhängig zu sein.

Die Eltern würden über die neue Gesetzgebung viel einfacher die Möglichkeit haben, die Entwicklung ihres Kindes über zahlreiche Feedback- und Bewertungsrunden nachzuvollziehen.
Den Schülern – als Hauptfiguren des Bildungsprozesses per se – würde mehr Denkfreiheit geboten sein sowie die Möglichkeit, den eigenen Vorlieben nachzugehen und selbstständig agieren zu können, nicht einfach mechanisch „bestehende Schablonen“ zu reproduzieren, erklärte Cîmpeanu. Der Druck der Benotung würde teilweise durch Ersetzen von Semesterarbeiten mit einem komplexeren Bewertungssystem der gesamten Schulleistung gemildert. Gleichzeitig würden die Schüler stärker individuell betreut werden, um ihr „Höchstpotential“ erreichen zu können – was insbeson-dere für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sehr nützlich wäre.

Kritik von vielen Seiten

Trotzdem hat der Gesetzesentwurf große Kritik auf sich gezogen. Remus Pricopev etwa, Rektor der Hochschule für Verwaltungs- und Politikwissenschaft (SNSPA) in Bukarest, beklagt vor allem die Auflösung des Plagiatkontrollbüros (CNATDCU), welches beispielsweise das Plagiat des Bildungsministers selbst enthüllt hat. Über 100 Intellektuelle haben sich in einem offenen Brief an den Bildungsminister gegen die Politisierung des Bildungssystems ausgesprochen.

Die Umorganisierung der Schulinspektorate und deren zukünftige direkte Abhängigkeit von einem Staatssekretär oder „vom Kugelschreiber eines Ministers“ wurde von der USR als „Reform in Breschnew-Stil“ beschrieben. Und die Schulleitungen würden über das neue Gesetz kaum mehr Autonomie erhalten – sondern eher einen zusätzlichen Administrativen Direktor,  und für die versprochenen Gehaltserhöhungen gäbe es sowieso kein Budget.

Die Einschränkung der Meinungsfreiheit wiederum wird vom Nationalen Schülerverband kritisiert, welcher den Ausschluss der Schülervertreter aus den Verwaltungsräten der Schulen beklagt, da dadurch die Schüler ihre Interessen auf höchster Entscheidungsebene nicht mehr einbringen könnten.

Die Bukarester Französischlehrerin und Journalistin Eleonora Fojică erklärt im Detail auf romaniacurata.ro, wieso zahlreiche vorgeschlagene Änderungen der Bakkalaureatsprüfung kontraproduktiv seien, beispielsweise die geplante einheitliche Probe A mit Mathe, Naturwissenschaften, Geschichte, Geographie und Sozialwissenschaften für alle Profilgänge (sei es Natur-, Sozialwissenschaften oder Fachschulen).

Auch der zusätzliche bürokratische Arbeitsaufwand mit der Erstellung persönlicher Schülerbewertungen (PPE) wird von zahlreichen Lehrkräften kritisiert, insbesondere unter Anbetracht der großen Schüleranzahl in einer Klasse. Ebenfalls beklagen sich die Lehrkräfte über die generelle Entwertung des Bildungssystems und ihrer eigener Stellung durch das Streichen der Semesterprüfungen und die Abschaffung der Mittelschulbenotung aus den Aufnahmekriterien in die Oberschule.

Die Schüler würden sich daher eher auf Mathe und Rumänisch konzentrieren und die „Nebenfächer“ (sprich diejenigen, die bei der Aufnahme in die Oberschule nicht geprüft werden) vernachlässigen, was zu einer weiteren Senkung der Qualität der Bildung führen würde, erklärt die Rumänischlehrerin Ruxandra Cioc auf republica.ro.

Und jetzt?

Ob die von Ligia Deca überarbeitete Variante der Bildungsgesetze, Cîmpeanus Versprechungen und die Prinzipien des Präsidialprojekts „Gebildetes Rumänien“ sowie die Vorschläge der am Bildungsprozess Beteiligten zu einer echten Verbesserung der Qualität des rumänischen Bildungswesens führen können, ist noch nicht abzusehen.

Aus den PISA-Ergebnissen geht jedoch hervor, dass überaus dringender Handlungsbedarf im rumänischen Bildungswesen besteht, und das nicht so sehr auf auf organisatorischer Ebene (ausgenommen in Bezug auf die Entscheidungsfreiheit der Lehrkräfte und Autonomie der Schulen), sondern insbesondere, was die Form und den Inhalt der Kurrikula angeht. Soweit ein überaus weitläufiger Teil der Schüler nicht einmal einen Text korrekt lesen, verstehen und interpretieren kann, sollte das Bemühen sich vielleicht eher auf die Qualität des Verständnisses und nicht das Volumen der übertragenen Informationen konzentrieren.