„Wir leben in einer von Texten übersättigten Welt“

Ein Gespräch mit Soziologin und Übersetzerin Nadia Badrus

Foto: Klaus Philippi

„Immer schon habe ich Menschen bewundert, die der realen Welt etwas Nützliches bringen“, raunt Soziologin Nadia Badrus. Die rumänische Übersetzung des zweisprachigen Kochbuches „Oma hat´s gekocht und Opa hat´s geschmeckt / Bunica g²tea, bunicul savura“ vom Honterus-Verlag und dem Dr. Carl-Wolff-Altenheim Hermannstadt/Sibiu, wo sie seit Sommer 2022 selbst wohnt, trägt ihre Handschrift. Allen Pflegerinnen, die sich um sie kümmern, hat sie je ein Buch-Exemplar geschenkt. Nadia Badrus, 1951 in Bukarest geboren, hat aber auch Erfahrung mit schwerer Kost: Ihr Meisterstück ist die 2018 vom Schiller-Verlag herausgegebene rumänische Übersetzung der Monografie „Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS“ von Paul Milata („Între Hitler, Stalin {i Antonescu. Germanii din România în Waffen-SS“). Nadia Badrus ist Jüdin, hat in Bukarest studiert, Hermannstadt und Siebenbürgen auch wegen der religiösen Toleranz schätzen gelernt, am Hermannstädter Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie zig Jahre mitgearbeitet und Erfahrungen als Übersetzerin gesammelt. Medizin hätte sie gerne studiert, wenn sie schon früher den Erfahrungsschatz von später gehabt hätte. Klaus Philippi hat sie über ihr Studium, ihr Credo als Übersetzerin und ihre Beziehung zu Israel befragt. Das Gegenstück zur realen Welt? „Vielleicht die Welt der Wörter“,  resümiert Nadia Badrus. Auch sie „birgt Gefahren.“

Mit welchen Erwartungen haben Sie sich 1970 zum Studium der Soziologie an der Universität Bukarest entschlossen, und was für Überraschungen hat es Ihnen gebracht?
An meine Erwartungen damals kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Mein ganzes Leben hindurch habe ich Entscheidungen eigentlich immer ohne Vorwissen getroffen. Noch heute ist es so, dass ich mir Illusionen mache, die beim Kontakt mit der Realität sofort einbrechen. Wobei ich vermute, dass ich damals zu Beginn meines Studiums erst einmal noch keinen Illusionen aufgesessen war.

Das Soziologie-Studium dauerte vier Jahre und war einer von vier eigenständigen Ausbildungszweigen der Philosophischen Fakultät an der Universität Bukarest. Psychologie und Soziologie hielten die Spitze betreffend die Studierenden-Anzahl, während Philosophie und Erziehungswissenschaften weniger Andrang verzeichneten. Für Philosophie konnte ich mich nicht erwärmen, sie schien und scheint mir nach wie vor zu abstrakt. Auf dem Stundenplan für Soziologie jedoch standen auch philosophische Vorlesungen, und was Professor Gheorghe Vl˛du]escu im Fach Antike Philosophie vortrug, hat mich sehr beeindruckt. Andere Träger großer Namen hingegen vermochten Informationen nicht packend zu vermitteln. Miron Constantinescu etwa, zu dessen Meriten die Gründung des Studiengangs Soziologie zählte, fand ich im Hörsaal enttäuschend. Nichts dafür wog so schwer wie das Abgeschnitten-Sein von allem, was in der großen, weiten Welt passierte, auch nach dem Studium. Aufgefallen ist mir das erst Jahre später. Vergleichsreferenzen gab es keine.

Wie stand es um den politischen Druck, an der Universität das ein oder andere heikle Thema unbedingt nicht anschneiden zu dürfen?

Dieser Druck war derart selbstverständlich, dass er gar nicht mehr ausgeübt werden musste. Mein Adoptiv-Vater Gheorghe Badrus war Aktivist der Kommunistischen Partei, und so wusste ich, was geht und was nicht geht. Trotzdem wäre ich einmal um ein Haar exmatrikuliert worden, wie mein Jahrgangs-Kommilitone Vladimir Tism˛neanu später beschrieben hat, wenn auch nicht unter Berücksichtigung sämtlicher Nuancen. Ich war verliebt und habe, retrospektiv betrachtet, eher fahrlässig statt mutig gehandelt, obwohl Tism˛n-eanu mit seiner Version meines Rebellierens schon richtig liegt.

Irgendwann im zweiten oder dritten Jahr des Studiums wurde auch ich zu einer Hochschulkonferenz des Studentenvereins abgeordnet. Uns Delegierten wurde von einem Parteikader vorab eingeschärft, zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzustehen und „Ceaușescu, PCR!“ zu skandieren – ungeachtet der Angabe, dass er, der Parteikader, nicht da sein würde. Und ich war so töricht, das in einem Gespräch unter vier Augen mit diesem Mann, der uns streng auf die Veranstaltung einzustimmen versuchte, als Theater der Absurdität zu bezeichnen. Zur Konferenz bin ich auch deshalb nicht mehr gegangen, weil der, in den ich verliebt war, von Hermannstadt nach Bukarest angereist kam; Tism˛neanu ist dieser Umstand entgangen. Mein Fernbleiben von der Konferenz brachte mich letztlich beinahe um das Studium, denn in der Studentenvereins-Sitzung zuvor hatte ich zweifach mit Nein gestimmt: Gegen das Umbenennen des Studentenvereins zum „Verein der Kommunistischen Studenten“ und die Ernennung von Nicu Ceau{escu, der so alt war wie ich und Physik studierte, in ein Ehrenamt.
Ich hatte Glück, nicht exmatrikuliert zu werden. Es kursierte ja das Gerücht über einen Adventisten, der Philosophie studiert hatte und im vierten Studienjahr vor eine Kommission einberufen wurde, die ihm absichtlich Fragen stellte, die er aus religiösen Gründen ehrlich zu beantworten verdammt war. Lügen durfte er auf gar keinen Fall, was unweigerlich zu seiner Exmatrikulation führte. Einfach so, kurz vor dem Staatsexamen.

Gleich nach Ihrem Studium in Bukarest zogen Sie 1974 nach Hermannstadt. Womit konnten Sie sich an Ihrem damals neuen Wohnort beschäftigen, was war spannend am Umzug von der Hauptstadt in die Provinz, und wie haben Sie das bürgerliche Hermannstadt Mitte der 70er-Jahre erlebt?

Auf einmal zählte für die Anweisung, sich da oder dort im Land in den Dienst des kommunistischen Staats zu stellen, nicht mehr der universitär erzielte Notenschnitt, sondern der Wohnort der Familie. Dadurch wollte man beruflich bedingte Entzweiung Verheirateter verhindern. Ein Nebeneffekt davon war, dass in Bukarest plötzlich auch Personen hängenblieben, die an der Universität nicht zu den besten Studierenden gezählt hatten. Mir jedenfalls war klar, dass allein schon nur wegen des Affronts, den ich mir geleistet hatte, Bukarest für mich ein riskantes Pflaster sein würde. Also heiratete ich im Zeitfenster zwischen dem Staatsexamen und der Zuteilung von Arbeitsstellen meinen Partner und durfte mich problemlos für Hermannstadt entscheiden. Das staatliche Unternehmen für Bau und Montage auf Kreisebene Hermannstadt war mein Arbeitgeber während der ersten drei Jahre. Die Leute hielten das genauso für eine komische Zuteilung und führten mich im Organigramm als Ökonomin, da sie weder wussten, was eine Soziologin ist, noch dafür eine vakante Planstelle übrig hatten. Die Jahre dort waren eine tote Zeit.

Hermannstadt selbst dagegen empfand ich sehr bereichernd. Die Familie meines Ehepartners nahm mich freundlich auf, überhaupt war die Welt hier eine total andere als in Bukarest. Das Aufstellen von Weihnachtsbäumen und aufmerksam schöne Verpacken von Weihnachtsgeschenken hatte ich in Bukarest so nicht erlebt. Eher war ich die Vorsicht Dritter gewohnt, sich zwei Weihnachtsbäume zu beschaffen und einen davon ungeschmückt auf dem Balkon zu positionieren, damit von draußen ja nicht der Eindruck aufkommen könnte, dass drinnen Weihnachten gefeiert wird.

Dieses heuchlerische Schauspiel ging in Bukarest tatsächlich sehr weit. In Hermannstadt gab es so eine Hemmschwelle einfach gar nicht. Mich, die ich nur in aktivistischen Kreisen herumgekommen war, hat das besonders berührt, da mein Adoptiv-Vater Gheorghe Badrus und meine Mutter, die Jüdin war, sich areligiös verhielten. Auch zu Ostern war Hermannstadt eine Überraschung für mich, als die Leute Ostereier färbten und einander schöne Feiertage wünschten.

Nach Ableistung der drei Pflichtjahre im Staatsunternehmen ging ich ans Hermannstädter Zentrum für Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Sozialistischen Republik Rumänien für Soziale und Politische Wissenschaften, das heutige Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt. Dort endlich hatte ich die erhoffte Freiheit und Zeit für das, was mich eigentlich interessierte. Trotz meines Soziologie-Studiums hat mich das Übersetzen gelockt und erfüllt. Obwohl ich dafür weder ausgebildet worden bin noch Hochschuldiplome für Rumänisch, Deutsch oder andere Sprachen vorweisen kann.

Wie kam das Erlernen der deutschen Sprache?

Von Anfang an über das Lesen. Irgendwann einmal habe ich auch versucht, Deutsch zu sprechen, es damit aber nicht genügend weit gebracht, um dolmetschen zu können. Ich übersetze ausschließlich schriftlich vom Deutschen ins Rumänische und brauche Zeit dafür, es geht mir nicht auf der Stelle von der Hand. Übersetzen heißt für mich, den deutschen Text zu verstehen und ihn vollständig in die rumänische Sprache zu übertragen. Es soll nicht zu merken sein, dass er das Resultat einer Übersetzung ist. Die Herausforderung besteht darin, den Unterschied zwischen den zwei Sprachen, die einander kein bisschen ähneln, zu überwinden. Vor allem an der Syntax fällt es mir auf, als ob die rumänische Sprache bestimmte „Muskeln“ beansprucht, die beim Übersetzen besonders gefragt sind.

Was bereitet Ihnen größere Freude, das Schreiben oder das Übersetzen?

Eindeutig das Übersetzen! Mein Eindruck ist der, dass wir in einer von Texten übersättigten Welt leben. Übersetzungen aber bringen der Welt keine an sich neuen Texte. Von daher lade ich auch keine Schuld auf mich, etwas vielleicht Überflüssiges zu veröffentlichen. Gutes Übersetzen ist zudem ein Akt der Bescheidenheit, sich mit dem Original zu begnügen und es ganz unverändert in eine neue Sprache umzuwälzen.

Welchen Medienkanälen geben Sie Ihr Vertrauen?

Mein Umzug von Zuhause hierher ins Altenheim zu einem anderen Fernsehgerät bedeutete leider den Verzicht auf das Einschalten des französischen Senders TV5. Doch ich habe Internet-Anschluss und somit die Möglichkeit, täglich die Weltnachrichten von der BBC zu lesen und zu hören, was ich seit Jahrzehnten gewohnt bin. Für die Nachrichten betreffend Rumänien nutze ich das Portal g4media.ro und den Fernsehsender Digi24, nur bringt der etwas zu viel leeres Gerede und Reklame. Allgemein versuche ich, möglichst auch mit eigenem Kopf zu denken. Und weil ich außerdem keinen Social-Media-Account habe, bin ich weitestgehend vor Filterblasen und Desinformation geschützt. Mein Interesse gilt auch dem Portal in englischer Sprache timesofisrael.com, das nüchtern über jüdische und israelische Themen berichtet. Ich finde es sehr gut und schaue täglich hinein.

Erzählen Sie bitte von Ihrer persönlichen Israel-Erfahrung!

Als Jüdin stand mir die Ausreise nach Israel offen. Der Antrag, den ich noch zur Zeit des Ceau{escu-Regimes gestellt hatte, wurde 1989 genehmigt. Im Glauben, es spät zu tun, verließ ich Rumänien Mitte November 1989, ohne den Fall von Ceau{escu sechs Wochen darauf zu ahnen. Nach Rumänien bin ich im August 1990 zurückgekehrt.

Ich wollte wegen Ceau{escu weg aus Rumänien, und mein Bild von Israel war illusorisch. Binnen acht Monaten dort habe ich in groben Zügen Hebräisch gelernt, was ich wegen seiner Eigenartigkeit sehr mochte. Plötzlich schienen mir das Deutsche und das Rumänische doch als eng beieinander liegende Sprachen. Mein Verständnis für das, was ich damals erlebte, gewinnt noch heute Jahr um Jahr an Tiefe.

Der Staat Israel ist ein kompliziertes Gebilde und als Land infolge eines Traumas entstanden. Wäre der Holocaust nicht geschehen, hätte die große Welt keinen neu formierten Staat in einer bereits bewohnten Zone akzeptiert. Ein Zehntel der Sitze in der Knesset, dem Parlament Israels, haben Araber durch Wahl erhalten. Aber unterrepräsentiert sind sie doch, weil sie 20 Prozent der aktuellen Bevölkerung Israels stellen.

1990 antwortete ich erstaunten Freunden in Rumänien, dass ich in Israel hätte bleiben können, wenn ich auf einen Teil meiner selbst verzichtet hätte. Ich fühlte, entweder gleich oder nie mehr wieder nach Rumänien zurückkehren zu können, denn meine Anpassung wäre allmählich etwas Eliminatorisches gewesen. Ich scheute das und halte auch den aktuellen Rechtsruck der Regierung Israels für bedenklich.