„Wir werden nicht alt, wir Exilierten“

Tagung der Internationalen Stefan Zweig Gesellschaft in Ostende

Stefan Zweig und Joseph Roth auf der Terrasse des italienischen Lokals „Almondo“ in der Langestraat in Ostende, Sommer 1936. Der Fotograf war vermutlich Zweigs Geliebte und Sekretärin Lotte Altmann. | Foto: Wikimedia Commons

In diesem Jahr jährte sich der Todestag des österreichischen Schriftstellers, Übersetzers und Humanisten Stefan Zweig zum 80. Mal. Aus diesem Anlass wurden seit Beginn des Jahres viele Veranstaltungen vor allem in Österreich, aber auch in anderen Ländern organisiert. Die Jahrestagung der Internationalen Stefan Zweig-Gesellschaft (ISZG) fand in diesem Jahr (30.09.-2.10.) im belgischen Ostende statt.

Im Jahr 1936 verbrachte eine Gruppe befreundeter Schriftsteller und Künstler den Sommer gemeinsam in der belgischen Küstenstadt Ostende, zu jener Zeit einer der glanzvollsten Badeorte Europas, um dem „Land der Bücherverbrenner“ zu entfliehen. Dazu gehören Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Ernst Toller und gelegentlich auch Klaus und Erika Mann. Die verzweifelten, heimatlosen, verbotenen Dichter erleben dort im Exil die täuschend friedliche Urlaubsatmosphäre, sie arbeiten intensiv und feiern ausgelassen, sie verlieben sich leidenschaftlich und unterhalten sich konsequent über Weltpolitik.

Dieses einzigartige Kapitel in der deutschsprachigen Literaturgeschichte beschreibt Volker Weidermann, seit Oktober 2021 Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Hamburg), in seiner Monografie „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ (2015). Er schildert zunächst Zweigs ersten Besuch in Ostende 1914, der auf den jungen Schriftsteller eine magische Wirkung ausübte sowie die familiäre und berufliche Situation Stefan Zweigs und Joseph Roths 1936. Anschließend schildert Weidermann die Ereignisse dieses besonderen Sommers, indem er ein detailliertes Portrait aller erwähnten Persönlichkeiten liefert. Er analysiert ihre seelischen Verfassungen sowie ihre Beziehungen untereinander. Im Mittelpunkt der Monografie stehen die Freundschaft zwischen Zweig und Roth sowie die Liebe zwischen Roth und Irmgard Keun. Zum Schluss gibt Weidermann die Nachgeschichte des Sommers 1936 wieder. Dabei geht er vor allem auf das Leben der Künstler nach dem Aufenthalt in Ostende ein und beschreibt den Tod von Roth im Jahr 1939 in Paris sowie Zweigs Selbstmord in Brasilien im Jahr 1942. Erinnert wird unter anderem auch an Zweigs traurige Feststellung „Wir werden nicht alt, wir Exilierten“. Weidermann schließt mit den Worten „Ostende gibt es nicht mehr“ und weist dabei auf den heutigen Aspekt des im Zweiten Weltkrieg zerbombten Nordseestädtchens hin. Gedeutet werden kann dies als symbolträchtige Stimmung des Verfalls und Niedergangs, die dem Buch zu entnehmen ist.

Dieser spannende Exkurs Weidermanns über die Künstlerfreundschaften wurde von den Referenten und Referentinnen auf der diesjährigen Tagung der ISZG mehrmals erwähnt und stellte oft einen Einstieg in die Diskussionen dar, zumal er übersichtlich, gut recherchiert und mit vielen Zitaten, Berichten und Anekdoten aus dem erlebnisreichen Sommer 1936 gespickt ist.

Die Vorträge von Els Snick über Joseph Roth und das deutsche Exil in Ostende, von Bernd Oei über   Joseph Roth von, mit und gegen Stefan Zweig, von Julia Rebecca Glunk über Stefan Zweig und Frans Masereel, von Brigitte Vergne-Cain über Stefan Zweig und Émile Verhaeren waren äußerst kenntnisreich und anregend. Dabei konnten die Tagungsgäste besondere Kulturstätten in Ostende wie das Café „De Grote Post“, das „Leeshuus am Groentemarkt“, die „Brasserie du Parc“ und die „Galerie BeauSite“ kennenlernen. Im Hauptsalon der „Brasserie du Parc“, einem Art-Déco-Café mit Originaleinrichtung, erinnert auch heute ein über deren ehemaligem Stammtisch aufgehängtes Foto an die Begegnung von Zweig und Roth in Ostende und an dieses Lokal, das zu ihren Lieblingsgaststätten zählte.

Malte Godglück verdankten die Teilnehmenden an der Tagung eine unterhaltsame Lektüre aus Texten von Zweig und Roth mit Bezug zu Ostende.

Auf dem während des Rahmenprogramms organisierten Spaziergang durch Ostende wurde auch die berühmte Buchhandlung Corman besucht, die in den schlimmsten Jahren die Exilautoren mit Lesestoff versorgte.

Im Rahmen der von Els Snick witzig und kompetent realisierten Stadtführung konnten Orte in Ostende, die einen Bezug zu Zweig und Roth haben, sowie das James-Ensor-Museum besichtigt werden. Der „Maler der Masken“ James Sidney Ensor, wichtiger Vertreter des belgischen Symbolismus und Vorläufer des Expressionismus, beeindruckt heute noch mit seinen fantastischen Visionen zu Dämonen und Skeletten, die an Hieronymus Bosch erinnern und in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als „entartete Kunst“ etikettiert wurden.

Ein Highlight der Tagung waren der Ausflug nach Brügge mit dem Zug und die anschließende Bootsfahrt sowie der Besuch einer dortigen Schokoladenmanufaktur, gefolgt von einem Abendessen in dem urigen Lokal „De Halve Maan“ (Der halbe Mond). Die Tagung endete mit einer eindrucksvollen Matinée, bei der die Teilnehmenden an der Tagung sich von der ausdrucksvollen Stimme der brasilianischen Sopranistin Manuela Vieira bezaubern ließen. Die von ihr ausgewählten Lieder aus der „Saudade Stefan Zweig“ und ihre geistreichen Ausführungen über ihren Geburtsort Petropolis, den Sterbeort von Stefan Zweig, boten einen unvergesslichen Abschluss der Tagung.

Über den nächsten Veranstaltungsort für die Tagung der Internationalen Stefan Zweig Gesellschaft wird zurzeit nachgedacht. Der Vorsitzende der ISZG, Hildemar Holl, dem unser aller Dank für die einwandfreie Organisation der Tagung gebührt, wird bestimmt, wie auch bisher, zusammen mit seinem Team einen Ort finden, der zu Stefan Zweig und seinem Umfeld einen literaturgeschichtlichen Bezug hat.