„Zeitgenössische Musik sollte wie ein altes Stück gespielt werden und klassische Musik wie zum ersten Mal“

ADZ-Gespräch mit dem Weltklassedirigenten Cristian Măcelaru

Foto: Sorin Popa

Als Jugendlicher spielte der in Temeswar gebürtige Cristian Măcelaru Geige. Mit 17 Jahren setzte er sein Musikstudium in den USA an der Interlochen Arts Academy fort. 2003 schloss er sein Diplomstudium an der Universität von Miami erfolgreich ab und war der jüngste Konzertmeister in der Geschichte des Miami Symphony Orchestra. Măcelaru setzte sein Musikstudium an der Rice University fort, wo er sein Interesse für das Dirigat entwickelte. Während seiner Zeit bei Rice dirigierte er außerdem das Houston Youth Orchestra und war zwei Spielzeiten lang Geiger beim Houston Symphony Orchestra. Von der Solti Foundation erhielt er 2012 seinen Emerging Conductor Award und 2014 den Solti Conducting Award. 2011 wurde Cristian Măcelaru stellvertretender Dirigent des Philadelphia Orchestra und von 2012 bis 2014 zum assoziierten Dirigenten des Orchesters befördert. Anschließend war er von 2014 bis 2017 Dirigent des Orchesters. Außerdem ist Măcelaru seit 2017 Musikdirektor des Cabrillo Festivals für zeitgenössische Musik. Im Februar 2017 dirigierte der begabte Temeswarer Musiker erstmals das WDR-Sinfonieorchester Köln. Seitdem ist er für drei weitere Gastauftritte mit dem Orchester zurückgekehrt. Im Mai 2018 gab das Orchester die Ernennung von Măcelaru zum Chefdirigenten mit Wirkung ab der Saison 2019-2020 mit einem anfänglichen Dreijahresvertrag bekannt. Diese Ernennung markiert seinen ersten Vollzeit-Orchesterposten. Im September 2018 gastierte er erstmals bei dem Orchestre National de France (ONF) und kehrte im Sommer 2019 zu einem zweiten Gastauftritt zurück. Aufgrund dieser Auftritte gab das ONF im November 2019 die Ernennung von Măcelaru zum nächsten Musikdirektor mit Wirkung vom 1. September 2021 bekannt, mit einem Vertrag von zunächst vier Jahren. Aber vielleicht ist sein beeindruckendster Erfolg bisher der Grammy-Preis für das beste klassische Instrumentalsolo, der dem Philadelphia Orchestra und der Solo-Geigerin Nicola Bendetti für die Aufnahme des Konzertes „Marsalis Violin Concerto. Fiddle Dance Suite“ unter seiner Leitung im Januar 2020 verliehen wurde. Cristian Măcelaru, der in den letzten Jahren auch in Rumänien immer wieder dirigiert hat, beantwortete während seines jüngsten Aufenthalts in Bukarest ADZ-Redakteurin Cristiana Scărlătescu einige Fragen.

Sie haben in Ihrer Kindheit Geigespielen gelernt. Sind Ihre neun Geschwister auch musikalisch begabt?
Ja und es wurden auch weitere Instrumente neben der Geige gespielt. Es war der Wunsch meiner Eltern, dass jeder von uns ein Instrument spielt, nicht unbedingt, um Berufsmusiker zu werden, sondern vor allem, um die Kunst im Allgemeinen schätzen zu lernen – was für jedes Kind wichtig und nötig ist. Die Informationen, die man sich beim Musikstudium aneignet, sind wesentliche Bauelemente des Bildungsprozesses, von denen jede Person in einer Gesellschaft, die Sensibilität, besseres Verständnis und Einigkeit anstrebt, einen Nutzen haben sollte. Durch die Kunst werden uns all diese Sachen offenbart, weil sie uns die Gefühle und Sensibilität jedes Menschen auf einem hohen Niveau verstehen lehrt.

Auch Ihre Kinder spielen Musikinstrumente seit früher Kindheit und treten wahrscheinlich schon in die Fußstapfen ihres Vaters.
Genau. Auch meinen Kindern habe ich erklärt, dass das Spielen eines Musikinstruments uns mit einer zusätzlichen Sprache – welche eigentlich die allgemeine Sprache unserer Seele ist – vertraut macht.

Sie sind erstmals mit nur 19 Jahren als der jüngste Konzertmeister in der Geschichte des Miami Symphony Orchestra in der New Yorker Konzerthalle Carnegie Hall aufgetreten. Wie fühlte es sich an und wie beeinflusste Sie Ihr besonderes Debüt?
Um ehrlich zu sein, wenn ich als Erwachsener darauf zurückblicke, stelle ich fest, dass ich nie die Bedeutung eines Ereignisses zur Zeit seines Ablaufs erfasst habe, weil ich immer von dem bestimmten Musikstück und von der Idee der künstlerischen Neuschöpfung an der Geige oder beim Dirigat besessen bin. Ich bin dermaßen mit dem künstlerischen Vermittlungsverfahren und mit den technischen Fragen der darzubietenden Werke beschäftigt, dass ich nie Zeit gehabt habe, in dem Moment an andere Sachen zu denken. Daher erinnere ich mich nicht, während meines Debüts ein anderes Gefühl empfunden zu haben als bei den anschließenden Bühnenerfahrungen.

Sie haben Geige an der Universität Miami sowie Geige und Dirigat an der Rice University studiert. Welche Ihrer Professoren haben den stärksten Einfluss auf Ihre Persönlichkeit und auf Ihren musikalischen Stil ausgeübt?
Selbstverständlich haben alle meine Professoren einen bestimmten künstlerischen, persönlichen oder menschlichen Einfluss auf mich ausgeübt. Derjenige, der in mir Verständnis und echte Liebe für Geige und Musik im Allgemeinen erregt sowie meinen Werdegang als Geiger ermöglicht und geprägt hat, war Johann Fernbach, der ehemalige Konzertmeister der Philharmonie in Temeswar. Nach meiner Umsiedlung in die Vereinigten Staaten habe ich vom rumänischen Geiger Sergiu Luca gelernt, wie man sich die Musik „vorstellt“, sozusagen, und wie man den Kern der Musik jenseits der Partitur entdeckt. Dann möchte ich auch meinen Dirigierprofessor Larry Rachleff von der Rice University erwähnen, mit dem ich intensiv zusammengearbeitet habe. Ich bin ihm dankbar für die Tatsache, dass ich ihn beobachten und von ihm lernen durfte, welches die optimalen Kommunikationsmethoden mit einem Orchester bei Proben und Konzerten im aktuellen sozialen Kontext sind. Neben Larry Rachleff würde ich zu meinen Mentoren, deren Meisterkurse ich besucht habe, auch Rafael Frühbeck de Burgos, David Zinmann, Pierre Boulez, Charles Dutoit zählen.

Sie haben mit den wichtigsten Orchestern der Welt zusammengewirkt. Bei welchem Orchester fühlen Sie sich wie zu Hause?
Auf der Konzertbühne fühle ich mich immer wie zu Hause. Ich bin aber wie ein Vater, der mehrere Kinder hat, und es fällt mir schwer, ein Orchester zu wählen. Von Anfang an sind die Orchester, die ich dirigiere, diejenigen die ich bevorzuge. Jene, die ich nicht leite, habe ich entweder nicht kennengelernt, oder es sind Orchester, für die es vielleicht nicht nötig ist, unbedingt mit mir zusammenzuarbeiten. Im Laufe der Zeit habe ich zum Beispiel mit dem Philadelphia Orchester, bei dem ich drei Dirigentenstellen inne gehabt habe, enger zusammengearbeitet und sogar 100 Konzerte dargeboten. Auch mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln arbeite ich gut zusammen, insbesondere da ich seit letztem Herbst dessen Chefdirigent bin. Ich finde es immer schön, zu einem Orchester zurückzukehren, dessen Mitglieder man schon zu kennen beginnt und somit die interne Politik der Gruppe begreift. Je besser man eine solche Familie kennt, desto leichter ist es, mit ihr zu kommunizieren und manche Sachen müssen nicht mehr besprochen werden, sondern es reicht beispielsweise ein bedeutungsvoller Blick.

Haben Sie als Dirigent und Geiger ein Lieblingsstück oder eine Musikschule oder -strömung, die Sie bevorzugen? Gibt es einen Komponisten, den Sie überaus gern interpretieren?
Ja, ein Komponist, der mir geistig und auf Gefühlsebene am Herzen liegt, muss wohl Béla Bartók sein. Ich finde, Béla Bartók ist nie verstanden worden, wie er es verdient hätte. Sein Werk wird ab-strakt gespielt; man bemüht sich in der Regel, die schwierigen technischen Elemente richtig zu interpretieren. Die Sache mit Bartók ist, dass er als Vertreter des Expressionismus aus einer besonders lebendigen, gefühlsbetonten Perspektive und mit einer starken emotionalen Nachhaltigkeit interpretiert werden muss – und dies erreicht man nicht, wenn man an der technischen Oberfläche bleibt. Von einem intellektuellen Gesichtspunkt übt Bartók eine besondere Faszination auf mich aus und von einem emotionalen Standpunkt ist seine Musik verstörend schön. Deshalb bewundere ich Bartók nicht nur, sondern ich fühle mich ihm gegenüber irgendwie verantwortlich, sein Werk einem breiteren Publikum näher zu bringen und verständlich zu machen. Ich wünsche mir, dass er als Genie gewürdigt wird, denn er vertritt die Strömung des Expressionismus, die unter anderem in der bildenden Kunst sehr gut bei Kunstfreunden und -kritikern ankommt. Meines Erachtens ist es weniger wichtig für die Kunst im Allgemeinen, ein Bild oder eine Geschichte darzustellen, als dass sie eher ein Gefühl oder eine persönliche Wahrnehmung von einem Gefühl zum Ausdruck bringt, die nur mit dem Verstand begriffen werden kann. Je tiefer unser Verständnis von Bartóks Musik ist, die stark auf die Volksmusik in Siebenbürgen, welche uns alle betrifft, anspielt, desto schöner wird sie empfunden. Als Rumänen sollten wir mit dem Werk von Béla Bartók vertraut sein und uns als Bewohner des gleichen kulturellen Raums mehr mit seiner Musik identifizieren.

Die Werke welcher rumänischen Komponisten stellen Sie im Ausland vor?
Im Ausland habe ich sehr viel George Enescu und Constantin Silvestri dirigiert. Ich lerne zwar weiterhin über die rumänische Musik, da ich während des Studiums in den USA nur wenig Zugang dazu hatte. Aber mit Dan Dediu, dem bekannten zeitgenössischen Komponisten, der Rumänien im Ausland ganz gut vertritt, habe ich öfters zusammengearbeitet. Außerdem habe ich versucht, mehrere andere rumänische Komponisten vorzustellen, wie den Temeswarer Remus Georgescu, Alfred Alexandrescu, Alfred Mendelssohn usw. Es ist mein Traum, die Werke weiterer rumänischer Komponisten wie Anatol Vieru, Mihail Jora, Paul Constantinescu u. a. zu dirigieren. Es gibt viele Komponisten, die Stücke von wesentlicher Bedeutung für die rumänische Musik geschrieben haben – wichtig ist es, dass man genau hinhört, um ihre Botschaft zu entdecken. Wenn man sich um eine authentische Vorstellung eines Werkes bemüht, wird dies beim Publikum immer sehr gut ankommen. Der Erfolg eines Musikstückes hängt, meiner Meinung nach, in den meisten Fällen nicht von seiner Komplexität, sondern eher von der Art und Weise, wie es interpretiert wird, ab. Zum Beispiel wird ein schlecht gespieltes Stück von Brahms auch schlecht klingen. Doch ein zeitgenössisches Werk, das vielleicht nicht so anspruchsvoll wie jenes von Brahms ist, aber herrlich gespielt wird, wird auch ausgezeichnet klingen.

Wie wirken die Komponisten, die außerhalb der rumänischen Grenzen nicht bekannt sind, auf das ausländische Publikum, kommen sie gut an?
Jedes Mal! Dies hat auch mit der Tatsache zu tun, dass ich ihre Kompositionen nicht nur als Pflicht-übung technisch sauber dirigiere, um zum nächsten Stück überzugehen, das ich wirklich interpretieren möchte. Jedes Stück, das ich dirigiere, ist in dem Moment meine Lieblingsmelodie. Ich bemühe mich, einem Stück bei der ersten Interpretation die gleiche Aufmerksamkeit wie einer Sinfonie von Rachmaninow zu schenken. Ich empfinde dasselbe Interesse, dieselbe Zueignung für jedes Werk und deswegen wurde mir nie vorgeworfen, dass ein weniger bekanntes, von mir dirigiertes Stück nicht ebenso interessant wie das eines etablierten und berühmten Komponisten sei. Während der Interpretation und des Hörens verliert die Musik ihre Grenzen und Volkszugehörigkeit. Leute schätzen die einzigartige Persönlichkeit jedes Komponisten, ungeachtet der sozialen oder kulturellen Herkunft.

Es ist umso wichtiger, dass ein Orchester ein zeitgenössisches Stück bei dessen Uraufführung so interpretiert, als würde es dieses immer schon spielen. Es gibt auch einen bekannten Ausspruch unter Musikern: „Zeitgenössische Musik sollte wie ein altes Stück gespielt werden und klassische Musik wie zum ersten Mal“ – sodass beide Partituren sich der gleichen Hingabe erfreuen.

Wir danken für das interessante Gespräch und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg!