Zurück an den Start – oder Startschuss für eine bessere Welt?

Soziale Bürgerbewegungen im Aufwind – Kampf um eine neue Ordnung nach der Pandemie

Man sollte meinen, die Zeit des Lockdowns im letzten Frühling sei auch für die Bürgerbewegungen eine Ruhepause gewesen, eine Inkubationszeit im stillen Kämmerchen. Statt dessen belehrt uns der belgische Experte Geoffrey Pleyers eines Besseren: War 2019 weltweit eines der aktivsten Jahre für Bürgerproteste und soziale Bewegungen der Zivilgesellschaft, erwies sich das Corona-Jahr 2020 wider Erwarten nicht als Bremse, sondern als Beschleuniger solcher Aktivitäten. Zwar kamen wegen der Ausgangssperre die Demonstrationen zeitweise zu einem Halt, doch stießen andere Organisationsformen in die Lücke, von Social Media bis hin zu Nachbarschaftshilfen und überregionalen Vernetzungen lokaler Initiativen. Soziale Bewegungen haben durch die Corona-Krise auf fast allen Kontinenten eine völlig neue Dimension erreicht.

Mit dieser Diagnose überrascht der Hauptvortragende Pleyers auf der Online-Konferenz „The Pandemic is a Battlefield“ (die Pandemie ist ein Schlachtfeld) der Friedrich Ebert Stiftung aus der Reihe „Nachhaltiges Rumänien“. Doch damit nicht genug: Die Pandemie liefert auch eine Plattform für kontroverse Diskussionen über die Zukunftsvision der Welt: Soll danach alles wieder in den Ausgangszustand zurückfallen, wie sich die meisten Global Player wünschen? Oder ist die Krise eine Chance zur Veränderung - und daher nicht nur Gesundheitskrise, sondern auch Krise des Kapitalismus, der richtige Moment für eine Reaktion auf den Klimawandel, eine He-rausforderung, ungelöste gesellschaftliche Probleme wie soziale Gerechtigkeit in Angriff zu nehmen? Gar Wegbereiter einer neuen Weltordnung? Eine erbitterte Schlacht hat sich zu diesem Thema aufgetan.

Eher Startrampe als Bremsklotz

Auf der einen Seite konfrontierte die Pandemie Bürgerbewegungen weltweit mit dem  Stopp ihrer bisher oft wöchentlich stattfindenden Demonstrationen. In den Medien verdrängte sie sämtliche Themen, die vorher für Schlagzeilen sorgten. „Auf einmal sprach niemand mehr von Migration“, sagt Pleyers, Forscher und Professor an der  Catholic University Louvain und Autor des Buches „Alter-Globalization. Becoming Actors in the Global Age“ (Altermondialismus. Akteur werden im globalen Zeitalter). Was nicht bedeutet, dass diese Probleme verschwunden sind.

Andererseits fokussierte die Krise die Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, die in dieser Zeit besonders aktiv waren, vor allem auf fünf Aspekte: 1. Protestaktionen, die trotz Gesundheitsrisiko auf sich genommen wurden; 2. gegenseitige Hilfe und Solidarität; 3. Einsatz für die Rechte der Arbeiter; 4. Überwachung der Maßnahmen der Regierungen und 5. Vermittlung von Wissen. Außerdem sehen sie sich mit den Bestrebungen der kapitalistischen und politischen Akteure konfrontiert, die die Krise dazu nutzen, die Nachpandemie-Welt in ihrem Sinne zu gestalten, schreibt Pleyers in seinem im August 2020 erschienenen Artikel „The Pandemic is a battlefield. Social movements in the COVID-19 lockdown“ (die Pandemie ist ein Schlachtfeld. Soziale Bewegungen während des Covid-19-Lockdowns).

Pandemie verstärkt Ungleichheit

Die Pandemie verstärkte bestimmte soziale Probleme und Ungleichheit – brachte aber gerade dadurch so manche Lösung. Als Beispiel nennt Pleyers Deutschland – Wohlstandsland, doch nicht für die ausgebeuteten Gastarbeiter aus Rumänien, vor allem  in der fleischverarbeitenden Industrie, für die kein Mindestlohn galt und die unter asozialen Bedingungen untergebracht waren. Ausgerechnet diese waren dann Herd eines größeren Ausbruchs.

Auch die „Black Lives Matter“-Diskussion in den USA um Gleichberechtigung und Rassismus hat Aufschwung durch die Pandemie erhalten, zumal Afroamerikaner und amerikanische Ureinwohner von Covid-19 stärker betroffen sind, sei es durch genetische Disposition, sei es durch soziale Benachteiligung. So kam es, dass vor allem Afroamerikaner - und unter diesen wiederum Frauen - Nachbarschaftshilfe-Netzwerke gründeten und auf die Straßen gingen. Ihre Projekte reichen von Armenküchen über die Organisation von Gesundheitsleistungen, Lebensmittelverteilung, Aufklärung zur Vermeidung von Ansteckung, Protesten, etc. Die Anti-Rassismus Bewegung war auch vorher schon dagewesen , sagt Pleyers - doch im Lockdown, wo die Menschen mehr Zeit im Internet verbrachten, wurde sie ungleich sichtbarer.

Auch in Indien und Afrika taten sich vor allem Frauen in der Organisation von Bürgerhilfe hervor. Sie kümmerten sich um ihresgleichen - oft Randgruppen, von staatlichen Programmen nicht erfasst.

In Europa waren solche zivilen Bewegungen weniger verbreitet, bemerkt der Vortragende. Doch erwähnt er ähnliche Bemühungen von Frauen mit Migrationshintergrund ohne Aufenthaltserlaubis in Frankreich, der Staat legalisierte ihren Status als Anerkennung für ihren Einsatz im Kampf gegen die Pandemie. In Großbritannien entstanden rund 4000 Gruppen, die sich in Nachbarschaftshilfe engagierten, Einkäufe oder Apothekengänge übernahmen, Hunde ausführten oder verifizierten, wer alleinstehend war und Hilfe brauchte.

Die zunehmende Digitalisierung während der Pandemie hat die Bemühungen all dieser Gruppen auf eine neue Ebene gehoben. Sie konnten sich besser organisieren und untereinander vernetzen.

Auch der Lockdown akzentuierte die soziale Ungleichheit. Für viele war das Privileg des geschützten Zuhausebleibens – sei es als systemrelevante Arbeitskräfte, sei es, weil sie es sich finanziell nicht leisten konnten – nicht gegeben. Dies löste ein neues Selbstbewusstsein über die Bedeutung bestimmter Berufe aus. Die Betroffenen schlossen sich zusammen und streikten für ihre Rechte, für Schutzausrüstung oder gegen miserable Entlohnung bei gleichzeitig hohen Anforderungen. In Hongkong führten einige tausend medizinische Angestellte erfolgreich einen historischen 5-Tagesstreik durch, sie forderten von der Regierung bessere Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus. Solidaritätsmaßnahmen entstanden am Arbeitsplatz. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die Entscheidung der Chicagoer Lastwagenfahrer-Gewerkschaft „Teamster 705“, aus ihrem Streikbudget rund zwei Millionen US-Dollar zu opfern, für Gesundheitsleistungen an die arbeitslos gewordenen Kollegen.

Solidarität statt Mitleid

Auf allen Kontinenten entstanden lokale Hilfsbewegungen. Slumbewohner in Sao Paolo, Brasilien, organisierten sich mangels staatlicher Hilfe: In Paraisopolis wurden 420 „Straßenpräsidenten“ gewählt, jeder war für 50 Wohnungen zuständig. Sie verifizierten, wer Symptome hatte, medizinische Hilfe brauchte, wo Familien mit geringem oder ohne Einkommen lebten, wer an Hunger litt. Sie spielten eine bedeutende Rolle bei der Aufklärung über Covid-19. Selbsthilfegruppen gründeten ein eigenes Rettungssystem, stellten Ärzte an, organisierten das Kochen und Verteilen von über 10.000 Mahlzeiten pro Tag. In Rio de Janeiro gründeten verschiedene Bürgerbewegungen einen „Bürgerrat“, der sich drei Aufgaben stellte: zu instruieren, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, Nahrungs- und Hygienemittel zu sammeln und zu verteilen und vom Staat öffentliche Dienstleistungen einzufordern.

Dabei ging es den meisten Mittelklasse- bis Slum-Nachbarschaften vor allem um Solidarität - nicht darum, dass Reiche Geld spenden, um Arme aus Mitleid zu retten.  Pleyers resümiert im genannten Artikel: In einer von Hyper-Individualismus und egoistischen Interessen dominierten Welt wurden Fürsorge und aktive Solidarität ein fundamentaler Teil des Aktivismus und Schlüsselbeitrag gegenwärtiger Bürgerbewegungen.

Watchdog für staatliche Geldflüsse und Überwachung

Ein wichtiger Aspekt von Bürgerbewegungen ist das transparent Machen von Geldflüssen. So haben NGOs staatliche Hilfspakete im Rahmen der  Pandemie analysiert: In den USA gingen von 2 Billionen US-Dollar nur 9 Prozent an öffentliche Dienste, davon 5 Prozent an Spitäler, nur 450 Millionen wurden Lebensmittelbanken zugewiesen. Eine halbe Billion hingegen floss an Großunternehmen, davon allein 58 Milliarden an die Fluglinien! Auch in Europa prangern Aktivisten die prioritäre Verteilung von Staatsgeldern zur Rettung von Fluglinien an, ausgerechnet zu Zeiten der tiefsten Klima- und Umweltkrise.

Bürgerbewegungen spielen zudem eine wichtige Rolle in der Überwachung von Lobbys. Pleyers nennt in seinem Artikel die NGO „Corporate Europe Observatory“, die in ihrem Bericht aufzeigte, dass die Pharmaindustrie im Bereich EU-Forschungsfinanzierung Milliarden kontrolliert und „öffentliche Interessen in EU-Initiativen depriorisiert“. Dort ist auch davon die Rede, dass sich die Haupt-Lobby der europäischen Pharmaindustrie erfolgreich gegen die Finanzierung von medizinischen Technologien gegen Coronaviren durch die „EU Innovative Medicine Initiative“ (IMI), eine öffentlich-private Partnerschaft zur Finanzierung von Forschung und Innovation im Bereich Gesundheit, richtete.

Hinzu kommt die Überwachung der Ambitionen von Regierungen, im Rahmen der Pandemie eingeführte Kontrollmaßnahmen schleichend dauerhaft zu implementieren. Es besteht das reale Risiko, so Pleyers, dass die neue Normalität wesentlich mehr soziale Kontrolle impliziert.

Schlachtfeld um eine neue Weltordnung

Während die Pandemie für die einen selbstverständlich verdeutlicht, dass es sich nicht nur um eine Gesundheitskrise handelt, dass Klimawandel und Umwelt einen neuen Ansatz fordern und soziale Gerechtigkeit eine Rolle spielen muss, behaupten die derzeit dominanten Akteure, es gäbe keine Alternative zur bisherigen Weltordnung. Hierzu spaltet die Pandemie die Gesellschaft – und eröffnet ein Schlachtfeld um die Frage, wie die Nachpandemiewelt aussehen mag. Während Aktivisten die Krise als Chance sehen, ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell aufzubauen, erhalten Ölkonzerne und Luftlinien massive staatliche Hilfen.

Eine weitere Spaltung ist zwischen jenen zu erkennen, die der Wissenschaft oder der Regierung vertrauen, und den Pandemie-Negierern und Verschwörungsanhängern. Dabei meint Pleyers allerdings, zwischen Misstrauen in Wissenschaft und Regierung müsse man unterscheiden. Misstrauen in die Regierung sei im Gegensatz zum Zweifel an Wissenschaft Teil der Demokratie, zur Illustration zitierte er sinngemäß Kanzlerin Angela Merkel: Deutschland sei  eine Demokratie, doch basiere diese auf Wissenschaft und Wissenschaft sei keine Glaubensfrage.

Dass diese Haltung nicht selbstverständlich ist, zeigen die jüngsten Entwicklungen in Rumänien: das plötzliche Auftauchen der „Allianz für die Vereinigung der Rumänen“ (AUR) als neue politische Kraft im Parlament, die vor allem durch die Aktionen der vokalen Senatorin Diana [o{oaca Pandemie-Negierer, Maskengegner und jene, die sich aus Frust gegen die Einschränkungen wenden, anspricht (AUR hat sich inzwischen von [o{oaca distanziert). Populistisch geschürtes Misstrauen in Wissenschaft - von einigen als Teil des „Establishments“ empfunden, zumal sich die Regierung darauf stützt - kann sich durchaus in der Politik niederschlagen. Auch so mancher „Impfgegner“ argumentiert, das Milliardengeschäft der Pharmakonzerne nicht unterstützen zu wollen – soll man dies nun in die Sparte der Verschwörungsanhänger, der Systemgegner oder in die erwähnte kritische Überwachung von Lobbys einordnen?

Jeden Tag verfassen Gelehrte Modelle für eine neue, bessere Welt. Sie schaffen damit einen neuen Handlungsfaden im kollektiven Narrativ, das sich auch verändert – aber ist das genug? Können wir die Welt durch das Schreiben von Meinungsartikeln ändern? „Die Herausforderung besteht darin, nicht der Illusion zu verfallen, dass die Pandemie zivilisatorische Krisen automatisch repariert“, warnt Pleyers. „Aber auch nicht der Desillusion, die besagt, nichts wird sich ändern, alles fällt auf das Ausgangsnormal zurück.“ So verbleiben wir vor dem Hebel der Geschichte mit der spannenden Frage sitzen: Wird die Welt von morgen noch kapitalistischer, noch gewaltbereiter, mit noch mehr sozialer Kontrolle? – Oder nachhaltiger, ökologischer, solidarischer!