Zwischen Barbarei und Moderne

Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“ in Stuttgart

Foto: Martin Sigmund

Vor 240 Jahren, am 18. Mai 1779, wurde Christoph Willibald Glucks Reformoper „Iphigénie en Tauride“ (Iphigenie auf Tauris) in Paris uraufgeführt, gerade einmal sechs Wochen nach der Weltpremiere von Goethes gleichnamigem Schauspiel im Herzoglichen Privattheater in Weimar. Wenn es sich bei der Goetheschen „Iphigenie“ von 1779 auch erst um die Prosafassung und noch nicht um die spätere, vom Verfasser selbst als „verteufelt human“ bezeichnete klassische Versfassung handelt, so treffen sich diese beiden Goetheschen Versionen des Iphigenie-Stoffes mit der Gluckschen Oper doch in ihrer aufklärerischen Intention. Allerdings in einem durchaus differenten Sinne!

Während Goethe in seiner „Iphigenie“ die Humanität der Dramenfiguren ins Zentrum rückt und deren Idealität feiert, während er spontane Gefühle, individuelle Reaktionen und emotionale Eruptionen tunlichst vermeidet, so geht es bei Gluck einerseits zwar barbarischer, andererseits zugleich moderner zu. Bei Goethe schenkt Thoas den beiden Geschwistern Iphigenie und Orest am Ende das Leben und lässt sie in Freiheit in die Heimat segeln, damit ein Zeichen für Versöhnung und friedliche Koexistenz setzend. Bei Gluck hingegen wird Thoas von Pylades erdolcht und dann besingt der Chor auch noch fröhlich die notwendige Säuberung der Krim (so der moderne Name des antiken Tauris) von den dort ansässigen Barbaren. Beides, Humanität und Bestialität, sind jedoch, wenn man Max Horkheimer und Theodor W. Adorno folgen will, nur zwei Seiten jener Dialektik der Aufklärung, deren kultureller Fortschritt immer in archaische Regression, deren zivilisatorische Errungenschaften immer in barbarische Gewalttaten umzuschlagen drohen.

Moderner als Goethe ist Gluck darin, dass er die dramatischen Figuren, die beim Weimarer Dichterfürsten als wandelnde Allegorien nur Ideen verkörpern, als echte Menschen aus Fleisch und Blut auf die Bühne bringt, und zwar nicht nur im körperlichen, sondern auch im seelischen Sinne: als wirkliche Wesen mit Träumen, Visionen, Vorahnungen, Vermutungen, Intuitionen, Halluzinationen und Obsessionen. Genau diesen Grundgedanken macht sich die Stuttgarter Inszenierung der Gluckschen Reformoper „Iphigénie en Tauride“ zu eigen, die am 28. April dieses Jahres im Stuttgarter Großen Haus ihre Premiere feiern und am 30. Mai die achte und (erfreulicherweise nur in der laufenden Spielzeit) letzte Aufführung erleben konnte, übrigens mit vollständiger Premierenbesetzung!

Genau genommen handelt es sich bei der Stuttgarter „Iphigénie en Tauride“ nicht um eine Neuinszenierung, sondern um die Neueinstudierung jener Opernproduktion, die unter der Regie von Krzysztof Warlikowski und mit der Ausstattung von Malgorzata Szczesniak an der Opéra National de Paris im Jahre 2006 ihre umjubelte Premiere feiern konnte. Der Regisseur und die Bühnenbildnerin der Pariser Uraufführung betreuten, neben dem damals schon als Dramaturg mitwirkenden und mittlerweile an der Staatsoper Stuttgart fest engagierten Miron Hakenbeck, gemeinsam auch die Stuttgarter Neueinstudierung und sorgten damit in der schwäbischen Landeshauptstadt gleichfalls für einen durchschlagenden Opernerfolg.

Durch mehrere Kunstgriffe gelingt es dem polnischen Regie- und Ausstattungsduo, die Kraft der Erinnerungen, die Wucht der Reminiszenzen und die Gewalt der Traumata sinnfällig zu machen, welche das Schicksal Iphigenies und Orests bestimmen. Gläserne Bühnenvorhänge, die je nach Beleuchtung (Licht: Felice Ross) entweder als Spiegel wirken oder transparent den Blick auf den Hintergrund freigeben, versinnbildlichen den psychologischen Mechanismus, dass gegenwärtige Erlebnisse plötzlich und unwillkürlich auf pathogene Vorgänge oder traumatisierende Situationen in der Vergangenheit hin durchsichtig werden können.

Um diesen Gedanken einer von früher her traumatisierten Existenz zu unterstreichen, rückt Warlikowski die gesamte Opernhandlung aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Iphigenie, ständig umgeben von einem aus sieben Statistin-nen bestehenden stummen Chor von Priesterinnen, erlebt ihre eigene Geschichte gleichsam doppelt: als verinnerlichte Rückblende aus ihrer Seniorenresidenz und als theatralische Vergegenwärtigung des einstmals Geschehenen. Aus diesem Grund erscheint die Stuttgarter Iphigenie auch in doppelter Gestalt auf der Bühne. Während etwa Iphigenie (Amanda Majeski) als betagte Dame erinnerungsschwer vom König der Taurer singt, erwehrt sich Iphigenie (Renate Jett) als deren junges und stummes Bühnenpendant gleichzeitig der Annäherungsversuche des Thoas. Und während die vitale Iphigenie als Sängerin mit Orest (Jarrett Ott) und Pylades (Elmar Gilbertsson) höchst dramatisch interagiert, schreitet Iphigenie als Schauspielerin stumm und gealtert durch die Räume ihres Altersasyls.

Entsprechend diesem Gedanken der traumatischen Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart wird das lange zurückliegende mythische Geschehen gleichfalls durch stumme Akteure auf die Bühne geholt. Während Iphigenie von ihrer Familie und der Sehnsucht nach ihrer Heimat singt, sieht man Klytämnestra, Agamemnon, Elektra, Chrysothemis sowie Iphigenies vermeintlichen Bräutigam Achill im Hintergrund agieren. Und der singende Orest wird auf der Bühne nicht nur durch die Schauspielerin, die Klytämnestra verkörpert, sondern auch mittels der Projektion von Filmszenen, die Orests Muttermord darstellen, erinnyengleich heimgesucht.

Christoph Willibald Glucks vieraktige Oper „Iphigénie en Tauride“ zählt zu den sogenannten Reformopern, jenen Opern also, welche die gattungsmäßigen Beschränkungen der ‚opera seria’ und der ‚opera buffa’ auf eine höhere musikdramatische Einheit hin zu transzendieren trachteten. Wie Richard Wagner im 19. Jahrhundert, so versuchte Gluck bereits im Säkulum davor dramatisches und musikalisches Geschehen miteinander zu amalgamieren, den Gesang also stärker in der dramatischen Situation zu verankern und das Bühnengeschehen deutlicher auf die Musik zu beziehen. Aus diesem Grunde wirkte der ehrlich und gut gemeinte wie auch seitens der Sängerinnen und Sänger wohlverdiente Szenenbeifall des Stuttgarter Publikums dann doch irritierend, weil er das intensive Bühnengeschehen oft genug abrupt unterbrach und so den Spannungsbogen der musikdramatischen Handlung empfindlich störte.

Der musikalische Reichtum der „Iphigénie en Tauride“ ließ die Tatsache sinnfällig werden, warum Christoph Willibald Gluck mit seinen rund 50 Opern als Star unter den musikdramatischen Komponisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts höchstes Ansehen genoss. Das Unwetter am Anfang der Oper, der Tanz der Skythen, die Prozessions- und die Opferszenen, und dann natürlich die herrlichen Arien Iphigenies und die wunderbaren Duette des Freundespaares Orest und Pylades sorgen für eine höchst abwechslungsreiche musikalische Gesamtstruktur, wobei sich die virtuosen Gesangseinlagen gleichwohl an den dramatischen Spannungsbogen des Bühnengeschehens gekonnt anschmiegen.

Herausragend war Amanda Majeski in der Titelrolle, die damit zugleich ihr Haus- und Rollendebüt gab, genauso wie die beiden Rollendebütanten Jarrett Ott und Elmar Gilbertsson, vor allem in deren gemeinsamen Duetten und insbesondere in jenem, wo Orest und Pylades für einander ihr Leben hingeben wollen. Gezim Myshketa als Thoas beeindruckte nicht nur gesanglich, sondern auch durch sein schauspielerisches Talent, etwa in der Balkonlogenszene, in der er am Ende erdolcht wird. Mitreißend war auch die Tanzeinlage einer der Bewohnerinnen des Altenheims (Claudette Walker), die das Publikum vollauf begeisterte. Musikalisch apart war die Platzierung des Chors (Einstudierung: Bernhard Moncado) im Orchestergraben, wodurch man die herrlichen Stimmen des Staatsopernchors Stuttgart neu erleben und anders genießen konnte. Der Barockspezialist Stefano Montanari gestaltete sein Dirigat packend und vital, und beim berauschenden Schlussapplaus überraschte er das begeistert klatschende Publikum mit einer besonderen Geste: um die Hände seiner Gesangssolisten bei den Schlussverbeugungen ganz fassen zu können, schob er den Dirigentenstab zwischen Hemd und Jackenkragen, einem Bogenschützen gleich, der einen nicht abgeschossenen Pfeil in seinen Köcher zurücksteckt.