Alle in den Westen: Lebensretter, Gemüsebauern, Menschenhändler

Arbeitsmigration – einige dunkle, aber viele lichte Seiten

Personalmangel und wenige Kunden in der Bar: Carmen Jurcă hofft auf bessere Zeiten in den Urlaubsmonaten der Westeuropäer.

Die Großgemeinde Tschanad an der Westgrenze: Die Dorfstraßen bleiben oftmals menschenleer. Viele der Bürger suchen sich in der Altenpflege einen Job in Deutschland und Österreich.

Der gefürchtete Sozialtourismus in Richtung Westeuropa bleibt zumindest vorerst aus. Am rumänisch-ungarischen Grenzübergang bei Tschanad war in der ersten Woche 2014 wenig los.
Fotos: Zoltán Pámány

Der britische Parlamentarier Keith Vaz muss sich wohl einsam gefühlt haben, als er am 1. Januar 2014 auf etwaige Horden an Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien gewartet hatte. Er sah sich nämlich in seiner Annahme nicht bestätigt, dass die totale Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt der beiden 2007 der EU beigetretenen Länder nun zu einer Invasion führen könnte. Vor allem in Großbritannien und Deutschland hatte die Zuwanderungsdebatte zu Hektik und Animositäten geführt, die Niederländer hatten sich ebenfalls laut Umfragen massiv gegen die Zuwanderung ausgesprochen, nachdem auch die letzten neun EU-Länder ab dem 1. Januar 2014 ihre Schranken öffnen und die Freizügigkeit der Bürger aus Rumänien und Bulgarien gewährleisten mussten. Während das deutsche Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB allein im Falle Deutschlands im Jahr 2014 von 100.000 – 180.000 Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien ausgeht, glaubt die PSD-Parlamentarierin Corina Cre]u, dass die Zahl der Auswanderer aus Rumänien nach Deutschland und Großbritannien zusammen nicht die 10.000 überschreiten wird. Hochgekocht hatten die Debatte auch rumänische Politiker, die im vergangenen Jahr mit ihren kuriosen Aussagen nicht gerade dazu beitragen konnten, die Ängste und den Populismus in Westeuropa abzubauen. So glaubte Staatspräsident Traian Băsescu, seine Landleute würde es nicht nach Westeuropa ziehen, weil Rumänien ein „schönes Land“ sei, Premierminister Victor Ponta sagte unter anderen, die Bürger seien „mit der Entwicklung Rumäniens beschäftigt“ und der Außenminister Titus Corlăţean ist der Meinung, Großbritannien sei nicht das Lieblingsland der Rumänen. Das Argument jedoch, dass die Bürger Rumäniens, die ins Ausland auf Arbeit wollten, bereits schon weg sind, teilen viele andere Politiker gern mit ihm.

 „Nicht eine Chance, Geld zu verdienen“ sei es, „sondern eine Notwendigkeit, dies zu tun“, sagt Alina Cruţ, die seit wenigen Tagen erneut in Österreich zur Altenbetreuung ist. Die 24 Jahre alte allein erziehende Mutter ist nicht zum ersten Mal in Österreich auf Arbeit. Nicht immer hat sie gute Erfahrungen gemacht mit den Agenturen, die sie vermittelten. Zuletzt sei sie jedoch durchaus zufrieden, sagt sie. Gefragt, ob sie denn ohne gesicherten Job und allein wegen der Sozialhilfe ins Ausland gehen würde, blickt sie ersteinmal verdutzt drein, dann verneint sie entschieden. Das Geld aus einer westlichen Sozialversicherung könne man in etwa auch in Rumänien verdienen, und man wäre zu Hause, sagt Alina. Ohnehin sei man im Ausland „unter Fremden“ und riskiere, „den Kontakt zum eigenen Kind zu verlieren“.

Rumänien: Personalmangel immer akuter

Kurz vor ihrer Abreise ist Alina Cru] noch einmal an ihren alten Arbeitsplatz gegangen, in die Pension Anka im westrumänischen Tschanad/ Cenad. Der Bezug zur ehemaligen Arbeitsstelle bleibt, doch damit kann sich die Inhaberin Carmen Jurcă nichts kaufen. In ihren Einrichtungen mit Pension, Restaurant und Lebensmittelladen ist die Personalfluktuation groß. Immer wieder muss die Inhaberin der Vier-Sterne-Pension im Gemeindezentrum neues Personal einlernen, oder hoffen, dass die ein der andere Mitarbeiterin dann nach einiger Zeit aus dem Ausland zurückkehrt oder aus familiären Gründen gar nicht weg will. Andreea Samargiu zog es nach Jahren in Griechenland wieder in ihren Heimatort, und arbeitet nun in der Pension mit all ihrem Wissen aus den griechischen Hotels und Restaurants. Nadia Laura Radu ist gar nicht ins Ausland gegangen. Dafür ist ihre Mutter im Ausland auf Arbeit und so ganz gut sind die Erfahrungen ihrer Familie mit Auslandsjobs nun auch wieder nicht: Ihr Gatte ging nämlich auf Geratewohl einen Job als Saisonarbeiter in Spanien suchen... und dann musste die Familie ihm aus Rumänien Geld schicken, damit er wieder zurückkehren konnte.

Armut treibe viele Rumänen auf Arbeit nach Westeuropa, weiß Mechtild Gollnick. Die Deutsche lebt seit nahezu zwei Jahrzehnten in Rumänien. Mangelnde Schulbildung und dementsprechend auch geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist in vielen Roma-Familien zu einem Generation übergreifenden Problem geworden, sagt die Rumänien-Vertreterin des deutschen  Hilfsvereins „Hilfe für Kinder“. Es ist oft Armut, aber auch Nachlässigkeit zugleich, wenn speziell für Roma vorgesehene Bildungsplätze unbelegt bleiben: An Schulen, Lyzeen und an Hochschulen. Sie sind dann auch auf dem europäischen Arbeitsmarkt der krasse Gegensatz zu den Ingenieuren und Ärzten, die aus Rumänien angeworben werden.

Der Kontostand macht den Unterschied

Daniel S. (der Name wurde auf Wunsch der Person geändert) spricht fließend Deutsch und hat deshalb schon mehrere Praktika in deutschen Kliniken hinter sich. Seine Freundin paukt derzeit neben Medizin auch fleißig Deutsch. Nach dem Abschluss wollen sie nach Deutschland, wo „gute Arbeitsbedingungen und vorteilhafte Entlohnung“ winken. Innerhalb der Fachausbildung nach dem Studium komme man in Rumänien nicht so richtig zum Zug. „Ich möchte als junger Arzt reichlich praktische Erfahrung sammeln, was in Rumänien nicht unbedingt gegeben ist“, sagt Daniel S. Dazu kommt für einen Berufsanfänger der gewaltige Unterschied beim Startgehalt: 1.500 Lei in Rumänien, 2.450 Euro in Deutschland. „Nicht zuletzt wünsche ich mir gute Arbeitsbedingungen, die in Deutschland gegeben sind, in Rumänien jedoch nicht".

Differenziert sieht die Zuwanderung nach Deutschland auch der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. Anfang der Woche sagte er, dass qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland willkommen seien, wies aber im gleichen Atemzug darauf hin, dass 46 Prozent aller nach 2007 zugewanderten Bürger aus Rumänien und Bulgarien gar keine berufliche Ausbildung haben und Berlin müsse dementsprechend „nicht die Probleme anderer Länder importieren.“ Andererseits ist hinreichend bekannt, dass gerade Jobs in der  Landwirtschaft und im Bereich der Haushaltshilfe und nichtfachlichen Alten- und Krankenpflege – also unqualifizierte Arbeitskräfte – in Westeuropa gefragt sind. „Durch Personal aus Osteuropa sind Haushaltshilfen für einen Großteil unserer Gesellschaft überhaupt noch zu bezahlen“, hatte im vergangenen Jahr ein Mann seine Absicht begründet, in der Zeitung eine diesbezügliche Anzeige aufgeben zu wollen.

Die Einkommensunterschiede sind erheblich. Physisch und psychisch ist die Belastung beim Auslandsjob höher, sagt Alina Cru], die ihren Job an der Bar in Tschanad aufgegeben hat und 4-5 Mal so viel in Österreich verdient. Und der Teufelskreis schließt sich: Da der Umsatz von Jahr zu Jahr sinkt, sind vor Ort auch verlockende Löhne ausgeschlossen, weiß Pensionsinhaberin Carmen Jurcă.

Menschenhandel: Die Schattenseiten der Arbeitsmigration

Zwielichtige Agenturen, Reisen auf Geratewohl in den Westen, oder angelockt von Versprechungen aller Art haben manch einem jedoch mehr Kosten als Einnahmen auf ihrem Auslandstrip beschert. Genauso wie der Gatte von Nadia Radu schlechte Erfahrungen gemacht hatte, gibt es reihenweise Frauen und Männer, die im Westen längst nicht die versprochenen Bedingungen vorfanden, die Entlohnung nicht mit den Versprechen übereinstimmte und die Arbeitgeber es mit den Sozialversicherungen ihrer osteuropäischen Arbeitnehmer nicht immer sehr genau nahmen. Von da bis zum Menschenhandel durch Banden, die manch einen in seinem rumänischen Dorf mit hohen Versprechungen lockten, ist es nicht weit. Rumäniens Agentur zur Bekämpfung von Menschenhandel identifizierte 1041 Fälle im Jahr 2012. Etwa zwei Drittel davon waren Frauen. Das Durchschnittsalter der Opfer lag bei 24 Jahren, besonders anfällig seien jedoch Frauen im Alter von 17 Jahren, so die Statistik der Agentur auf Nachfrage der Banater Zeitung. 52 Prozent der registrierten Fälle von Menschenhandel rumänischer Bürger ereigneten sich im Ausland, die wichtigsten Destinationen der Opfer von Menschenhandel waren Italien, Deutschland und Spanien. 39 Prozent der Opfer wurden ausgebeutet, indem sie gezwungen wurden, verschiedene Arbeiten zu verrichten. Der größte Anteil der Opfer von Menschenhandel (etwa die Hälfte aller Fälle) wurde zu Prostitution gezwungen. Nur knapp über 10 Prozent aller identifizierten Opfer von Menschenhandel wurden zu Bettelei, Diebstahl oder pornographischen Aufnahmen verpflichtet. 

Während die Debatte in Deutschland über Armutszuwanderer und Hiobsbotschaften mit 46 Prozent sogenannten "berufslosen" Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien die Runde machen, bringt Zeit Online Meldungen ganz anderer Natur: 2012 stammten 2704 Ärzte in Deutschland aus Rumänien und stellten in dieser Berufsgruppe die höchste Zahl der Ausländer. Sie wurden gefolgt von Medizinern aus Griechenland, Österreich, Russland und Polen. Auch Ingenieure und Mathematiker aus Rumänien kommen in Deutschland gut an. 2014 wird die Zahl der Fachkräfte durch die gänzliche Öffnung des Arbeitsmarktes bestimmt weiter zunehmen und „in der Landwirtschaft sind osteuropäische Saisonarbeiter in Deutschland ohnehin ein Muss geworden“, sagt MdP Ovidiu Ganţ. Sie alle tragen das Sozialsystem in Deutschland mit, die, die es missbrauchen, bilden offensichtlich eine – möglicherweise unbedeutende – Minderheit.