„Der Kommunismus war eine Utopie, ein ‚Einhorn‘ der Politik“.

Interview mit dem Historiker und Essayisten Adrian Cioroianu, dem Dekan der Geschichtsfakultät an der Universität Bukarest

Foto: Zoltán Pázmány

Der Historiker und Essayist Adrian Cioroianu, Dekan der Geschichtsfakultät in Bukarest sowie Botschafter Rumäniens bei UNESCO, ist einer der Ehrengäste des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals Ende Oktober in Temeswar gewesen. Sein Dialog mit dem Historiker und ehemaligen polnischen Dissidenten Adam Michnik hat zum Anfang des Festivals für ein gut besuchtes Event gesorgt. Über die Revolution, die Übergangszeit, aber auch das, was sich junge Leute von diesen Ereignissen und Geschichtsperioden merken sollen, aber auch über seine Tätigkeit als UNESCO-Botschafter sprach Adrian Cioroianu mit der BZ-Redakteurin Ștefana Ciortea-Neamțiu.

Im Dialog mit Adam Michnik haben Sie sich auf die 30 Jahre seit dem Fall des Kommunismus bezogen. Was war es damals: eine Revolution, eine Revolte oder ein Staatsstreich?

Ich spreche ohne zu zögern von einer Revolution, weil sich diese vor allem durch ihre Konsequenzen definiert, nicht so sehr über chronologische Details von einigen Tagen. Mir ist es klar, dass dies, was ich Revolution nenne, mit Temeswar beginnt und bis zur ersten Verfassung, zwei Jahre später, dauert. Es war ein sehr komplizierter Prozess. Die Tatsache, dass wir jetzt entspannt reden können, zeigt mir, dass es damals eine Revolution gegeben hat, auch wenn es in ihrem Rahmen eine authentische Revolte in Temeswar gab, einen Staatstreich in Bukarest, auch die Turbulenzen der ersten „Mineriaden“ (N. Red. der Bergarbeiterüberfälle) oder die Kämpfe im ersten Parlament. All diese haben bis zuletzt die Revolution gestaltet.

In den 30 Jahren hat man das erreicht, was man erreichen konnte oder konnte man viel mehr machen?

Sicherlich konnte man mehr machen, zugleich aber hätte es auch schlimmer sein können, denn die Rumänen sind 1989 aus einem nationalen kommunistischen Regime herausgekommen. Das war für uns ein großes Problem und das, was uns von Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei differenzierte. In diesen drei Staaten und in Ostdeutschland war sowjetische Armee stationiert, für die Bevölkerung kam der Kommunismus einer sowjetischen Besetzung gleich. In Rumänien war seit 1958 keine sowjetische Armee mehr. Bei uns war der Kommunismus auf seine Art national, ähnlich wie in Jugoslawien oder Albanien. Deshalb die große Schwierigkeit, uns 1989 vom Kommunismus zu verabschieden, denn die „Besetzer“ waren Rumänen. Ion Iliescu hat seine eigenen Beschränkungen gehabt, er handelte im Sinne von Gorbatschow. Er hat sich 1989 nicht gewünscht, Rumänien in Richtung einer westlichen Demokratie zu bringen. Er wünschte sich viel mehr eine humane kommunistische Partei aufzubauen, eben Gorbatschows Utopie. Ich weiß nicht, ob der Kommunismus reformiert werden kann. Die Geschichte zeigt uns, dass Gorbatschow dies versucht und dadurch das System zerstört hat, denn dieses fußte eben auf Schloss und Riegel, nicht auf offenen Fenstern. Es hätte schlimmer werden können und ich denke dabei an das das ehemalige Jugoslawien. Wie Adam Michnik es ausgedrückt hat: Zumindest hat Ion Iliescu mit all seinen unbestreitbaren Beschränkungen nicht den nationalistischen Weg von Slobodan Milosevic eingeschlagen.

Bei dem soeben erwähnten Dialog mit Michnik haben Sie auch ausgesagt, dass sich sowohl die Rumänen als auch die Polen an der Ostgrenze der Demokratie befinden. Wie sehen Sie die heutige Situation in dieser Gegend?

Da wir uns auf dieser Frakturlinie befinden, ist die Gegenwart immer interessant. Wir werden nicht zu früh die Ruhe der Länder haben, in denen man sich im politischen Leben langweilt. Vielleicht langweilt sich ein Universitätsprofessor in der Schweiz, wenn er sich das politische Geschehen im Fernsehen anschaut. Wenn man in Rumänien fernsehsieht, dann erlebt man pro Tag 20 „breaking news“ und in Polen ist es genauso. Es sprühen die Funken, man attackiert sich gegenseitig. Oft spielt die Geographie eine Rolle in der Geschichte. Wir teilen mit den Polen eine gewisse Angst vor den Russen, vor ihrer politischen Welt, eine Angst, die von einer Faszination begleitet wird, denn gleichermaßen ehren wir die russische Kultur, wir erkennen, dass sie Intellektuelle von Großformat haben.

Was müsste sich ein junger Mensch heute aus der kommunistischen Periode merken?

Ich glaube, er müsste sich im Zusammenhang mit dem kommunistischen Regime merken, dass es keine Einhörner gibt. Der Kommunismus war eine Utopie, ein Einhorn der Politik, der Kommunismus mag als Doktrin sehr schön klingen mit der Idee der Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen den Menschen, aber alle radikalen Politiken haben irgendwann schön geklungen. Die jungen Menschen müssen dies behalten. Wir müssen sie nicht erschrecken, müssen ihnen nicht unendlich oft wiederholen, dass wir Schlange gestanden haben, diese jungen Menschen können es nicht verstehen. Es ist mir vor Jahren passiert, als ich den Studenten gesagt habe, bitte, werft nicht mehr die Cola-Flaschen auf den Hof der Fakultät, denn vor euch haben ganze Generationen keine Plastikflaschen gehabt und ihren Kaffee aus ausgewaschenen Shampoo-Flaschen getrunken. Als Student in Bukarest bin ich 1989 oft aus Craiova mit dem Zug angereist und ich habe respektable Frauen gesehen, die aus der Tasche oder dem Beutel improvisierte Thermosflaschen hervorgezogen haben. Wenn ich das heute meinen Studenten erzähle, klingt es mir selbst unglaubwürdig, und die Studenten schauen mich an, ohne zu wissen, ob ich scherze oder nicht. Aber eines muss man ihnen sagen: Es gibt keine Utopien! Die Politik ist etwas sehr Konkretes. Unsere Demokratie ist nicht perfekt, aber auch so ist sie jeglicher Diktatur vorzuziehen. Eine Utopie ist dann, wenn jemand kommt und sagt: „Ich werde dich in einen von einem Einhorn gezogenen Schlitten spazieren führen!“ Bis zuletzt wird man selbst an den Schlitten angespannt, weil es eben keine Einhörner gibt und es auch nicht geschneit hat!

Und was soll sich ein junger Mensch über die Übergangszeit merken?

Die Übergangszeit ist immer mit Problemen verbunden. Auch als Individuum merkt man das, wenn man eine Grippe hinter sich lässt. Man freut sich, diese überstanden zu haben, aber man ist nicht vollkommen gesund, weiß aber, dass es nicht mehr lange dauert. Das muss man behalten: dass es besser wird. Das heutige Rumänien mit all dem, was uns nicht gefällt, ist sicherlich dem Rumänien der Neunziger Jahre überlegen, die für mich die Definition des Chaos sind. Ich habe damals das Studium absolviert und ich müsste eigentlich zufrieden sein, denn damals habe ich viele Erfolge gehabt, ich wurde an der Fakultät aufgenommen. Alle Institutionen wurden verjüngt, es gab viele neue Arbeitsplätze, meine Kollegen haben angefangen, im TV oder bei Zeitungen zu arbeiten, im Radio, in Unternehmen und in Museen. Zugleich gab es das Chaos, die unaufhörlichen Kämpfe, die ständigen Anfechtungen, die viel virulenter waren als heute, denn wir hatten nicht die Basis der Verfassung. Aus diesem Gesichtspunkt würde ich die Übergangsphase als eine Geduldlektion vortragen. Die Geschichte ist an und für sich eine Übergangszeit. Die Übergangszeit nimmt kein Ende, aber das Morgen soll besser sein als das Heute.

Sie sind nicht nur Universitätsprofessor, sondern auch der rumänische Botschafter bei der UNESCO. Womit beschäftigen Sie sich zurzeit?

Die gesamte Delegation hat die Pflicht, mehreres gleichzeitig zu machen: in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Kultur und neuerdings Kommunikation. Rumänien ist Teil mehrerer Engagements schon seit Jahrzehnten, es gibt thematische Arbeitsgruppen wie zum Beispiel über die Meeresküsten oder das Erhalten lokaler Sprachen; 2019 war das UNESCO-Jahr der Lokalsprachen. Außerdem gibt es die Akten eines jeden Landes. Im Falle Rumäniens gibt es eine Akte, die eingefroren wurde, bei der es um die römische Goldmine von Roșia Montană geht. Es bestand die Aussicht, dass sie zum Weltkulturerbe erhoben wird, aber die Anwälte der rumänischen Seite – Roșia Montană befindet sich in einem Prozess zwischen dem rumänischen Staat und den Firmen, die sich wünschen, dort Bergbau zu betreiben – haben suggeriert, dass das Verfahren eingefroren werden soll. Es sind vom Außenministerium sowie vom Kultusministerium Anordnungen gekommen, um das Aufnahmeverfahren einzufrieren. Die Gültigkeitsdauer der Empfehlung, die Mine in das Weltkulturerbe aufzunehmen, läuft 2021 ab. Wenn der Prozess bis dahin ein Ende nehmen würde, könnte Roșia Montană aufgenommen werden.

Eine zweite Akte betrifft das Denkmal-Ensemble Brâncuși aus Târgu Jiu. Sie ist sehr gut verfasst, alle Dokumentationen werden vom Nationalen Institut für das Patrimonium verfasst. Es bleibt noch abzuwarten, dass die Akte diskutiert wird. Alle Akten, die mit Kriegen zu tun haben, werden sehr genau untersucht und das Denkmalensemble ist eben den Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Aber ich bin optimistisch. Eine weitere Akte, die wahrscheinlich im Dezember diskutiert wird, hat zum Objekt das Fiedler-Orchester („taraf de lăutari“) aus Siebenbürgen, für das immaterielle Kulturerbe. Es gibt noch eine Akte für das immaterielle Kulturerbe, ich hatte große Hoffnung damit gehabt, aber es bewegt sich nichts: Es handelt sich um die Pilgerschaft nach Șumuleu Ciuc, an der auch Papst Franziskus teilgenommen hat. Die Akte wurde auf einigen sensiblen Punkten nicht überarbeitet, in der Akte wird Rumänien nirgendwo erwähnt, sondern nur Siebenbürgen, auch in dem Präsentationsfilm erscheint Rumänien nicht, die Bibliographie, auf die sich die Akte bezieht, ist nur auf Ungarisch und wurde weder ins Rumänische noch ins Englische übersetzt. Diese Pilgerschaft verdient es, aufgenommen zu werden, es müssen aber diese Änderungen durchgeführt werden.

Was das Banat betrifft, gibt es da eine Dokumentation?

Wenn eine Gruppe von Experten etwas vorschlagen würde, dann ja. Zurzeit liegt nichts vor.