Der Schmerz der Ungarn (Teil II)

Blick auf die Kettenbrücke in Budapest Foto: Zoltán Pázmány

Vor hundert Jahren wurde der Vertrag von Trianon unterzeichnet, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor. Das Land sah sich als schuldloses Opfer der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Aber war es das auch?

(Fortsetzung vom 1. Juli)

Es wurde sinnlos, die Staatsvölker in Nationen und nationale Minderheiten einzuteilen, da sich mutmaßliche ethnische Minderheiten zu Nationen erklärten und dafür europaweit Anerkennung fanden, während die namensgebende Nation sich unversehens als Unterdrücker gebrandmarkt sah. Doch selbst militärgeographische Gegebenheiten wurden zu Lasten der Verlierer ausgelegt: Wie der Brenner über Südtirol entschied, so wurde der Oberlauf der Donau zum Schicksal für die geschlossen siedelnden Magyaren, die sich nun in der Tschechoslowakei wiederfanden.

All dies rief in den Ungarn von der aristokratischen Oberschicht bis zu der Arbeiterschaft ein hilfloses Entsetzen hervor. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Hatten sie nicht seit tausend Jahren alles richtig gemacht, einen Staat mit dem Segen des Papstes gegründet, Fremden Aufnahme gewährt und Heimat geboten, das christliche Europa gegen die Anstürme aus dem Osten verteidigt? Und das sollte nun alles ihnen zum Nachteil gereichen?

In ihrer selbstbewussten Geschichtsdeutung hatten die Ungarn übersehen, was an ihren Taten und Auffassungen von anderen ganz anders bewertet werden konnte, als sie es gewohnt waren. Sie hatten nicht ausreichend wahrgenommen, dass sich seit einem der größten Erfolge ihrer Geschichte der europäische Zeitgeist zutiefst gewandelt hat. 1867 hatte "der Weise des Vaterlandes", Ferenc Deák, einen "Ausgleich" mit dem habsburgischen Kaiser Franz Joseph erreicht. Der Kaiser hatte zwar 1849 mit Hilfe des russischen Zaren den Freiheitskampf der Ungarn niedergeschlagen, den von ihm selbst ernannten Ministerpräsidenten sowie viele Militärführer hinrichten lassen und Ungarn gedemütigt, doch als er nun durch Preußen und in seinen italienischen Besitzungen unter Druck geriet, sahen die Magyaren ihre Stunde gekommen. Sie hatten nicht die Kraft, nun "1848" zu vollenden und eigenständig zu werden, doch sie vermochten ihre Gleichberechtigung auf dem Wege einer Realunion mit Österreich durchzusetzen, die "k. und k. Doppelmonarchie". Diese Konstruktion brachte einen bis heute in Budapest sichtbaren wirtschaftlichen Aufschwung, war aber der Höhepunkt, von dem es aus nur noch abwärtsging, erst in eine Nationalisierungswelle, dann trotz der anfänglichen Zurückhaltung des Ministerpräsidenten Graf István Tisza mitten hinein in die Vorentscheidungen des Ersten Weltkriegs. Der so gefeierte "Ausgleich" war wertlos, gar schädlich geworden.

Doch die Enttäuschungen der Ungarn weisen noch viel weiter zurück: bis hin zum Auftauchen der Magyaren am Rande des Abendlandes. Das Nomadenvolk, vom Westen gerne Reitervolk genannt, besiedelte das Karpatenbecken im Jahr 896. Voller Stolz werden das Vorgehen und der Erfolg seit Menschengedenken "Landnahme" genannt, ohne zu beachten, dass darin das Eingeständnis der Eroberung eigentlich fremden Gebietes steckt. Damit gerieten die Magyaren in eine zweifelhafte Stellung gegenüber denen, die von sich behaupteten, schon vorher oder seit jeher dort beheimatet gewesen zu sein. Das Gespür für die Wortwahl, die immer wichtiger wurde, je mehr der Geist des Nationalismus um sich griff, konnte seinen ungarischen Untertanen auch ihr König Ferenc József nicht beibringen.

1896 reiste er nach Budapest, um die Tausendjahrfeier zu krönen. Der gewiefte Habsburger sprach von "Heimatgründung" anstelle von Landnahme, drang aber nicht in den ungarischen Sprachgebrauch ein, vielleicht auch, weil die Ungarn die begrifflich nahe "Staatsgründung" erst ihrem König Stephan zuschreiben und um die Jahreswende 1000/1001 datieren.

Der später heiliggesprochene erste Träger der Stephanskrone, des bis heute verehrten Nationalschatzes, legte auch den Grund dafür, dass die Magyaren guten Gewissens all den nationalen Minderheiten gegenübertraten, die über Jahrhunderte in ihrem Land lebten und es am Ende dennoch äußerlich wie innerlich zerrissen. Schon in ihrer nomadisierenden Zeit waren die Magyaren, so mutmaßt der Wiener Historiker Ernö Deák, offen für Gastfreundschaften und Bündnisse mit Fremden, die auf den langen Zügen Vorteile brachten, sich allerdings leicht lösen ließen. Dass diese Tugend auf dem Weg über die Karpaten nicht verlorengegangen sei, lasse sich aus den Ermahnungen Stephans I. an seinen Sohn Emmerich nachweisen.

Tatsächlich finden sich dort Aussagen, die als eine tausend Jahre alte Vorwegnahme heutiger Multikulti-Losungen anmuten. "Das Land, das nur eine Sprache und nur ein Brauchtum hat, ist schwach und gebrechlich. Daher befehle ich dir, mein Sohn, dass du die Ankömmlinge wohlwollend behütest und in Ehren hältst, damit sie sich lieber bei dir aufhalten als anderswo zu wohnen." Wer einen Staat in neuer Umgebung gründet, hat mehr Fähigkeiten als Offenheit und Gutmütigkeit aus frisch erlangter christlicher Überzeugung. Stephan war kein Stammesfürst mit beschränktem Gesichtsfeld, sondern ein Geopolitiker, der sich durch den Segen des Papstes, mehr noch durch den Überblick über sein Land und dessen Nachbarschaft legitimierte. Er sah wohl, dass die natürlichen Grenzen des Karpatenbeckens zu weit verliefen und die Eroberung eigentlich zu groß für sein Volk war - oder anders betrachtet, sein Volk allein nicht ausreichte, um sein Land zu besiedeln, zu nutzen und zu verteidigen.

Schlau machte er aus der Not eine Tugend, aus dem Bedarf an Fremden die Aufnahmefreundlichkeit gegenüber Ankömmlingen. Dass er dies nicht auf Gastfreundschaft beschränken wollte, ergibt sich aus den Worten: "damit sie sich lieber bei dir aufhalten als anderswo zu wohnen!" Im Laufe der Jahrhunderte haben die Herrscher Ungarns immer mehr Ankömmlinge empfangen und Fremde gerufen und die Siedler mit vielfältigen Privilegien, Besitztümern und Verbandsrechten ausgestattet, damit diese die zugewiesenen Aufgaben verlässlich erfüllten. Dass sie damit einen hohen, vielleicht zu hohen Preis an den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl der Gesamtbevölkerung des Königsreichs der Ungarn bezahlten, war nicht ihre Sorge, denn seit Jahrhunderten kamen die Herrscher selbst aus den Reihen der "Ankömmlinge", waren familiär nicht in Ungarn verwurzelt. Ihnen waren die Zahl der Untertanen und die Sicherung der Reichsgrenzen wichtiger als die Empfindungen des namensgebenden Volkes.

Stephan hatte nicht geahnt, dass seine Magyaren an Zahl nicht so schnell zunehmen werden wie die Dazugekommenen. Die einfache Lösung, alle unterschiedslos zusammenzuzählen und als Untertanen zu verbuchen, hatte sich schon 1848 erledigt, als die einzelnen Sprachen- und Brauchtumsgruppen als rivalisierende Nationalitäten auftraten. Integration und Assimilation waren keine berechenbaren Verfahren mehr. 1910 machten die - bekennenden - Magyaren allenfalls die Hälfte der Bevölkerung Ungarns aus. Es bedurfte vielleicht gar nicht eines Ersten Weltkrieges und der Westmächte, um eine Aufteilung nach Trianoner Art zu erzwingen, vielleicht hätten die mit benachbarten Völkern verbundenen Nationalitäten ohnehin bald "ihr Selbstbestimmungsrecht" gegenüber den Magyaren durchgesetzt.

Wer angesichts politischer Katastrophen nicht den eigenen Anteil an den Ursachen prüft, sondern sich in Vorwürfe an die Gegner flüchtet, wird den Ausweg nicht finden. So setzte Ungarn auf den Schrecken von Trianon die Schrecken im Zweiten Weltkrieg, weil es sich den "Gegnern" verschloss und damit falschen Freunden auslieferte. Die nachfolgende kommunistische Diktatur goss den Beton sowjetischer Blockdisziplin über die nachhallende Trianon-Empörung der Magyaren innerhalb und außerhalb der im Pariser Friedensvertrag 1947 im Großen und Ganzen bestätigten Grenzen von 1920. Die junge Demokratie hat den Beton weggeschafft. Ihr erster Regierungschef József Antall hat die Formel gefunden, er sei "in der Seele", also nicht staatsrechtlich, auch der Ministerpräsident der vom Vaterland getrennten Ungarn, wobei vor allem an die in Rumänien, im damaligen Jugoslawien, in der damals noch bestehenden Sowjetunion und in der damals noch einigen Tschechoslowakei zu denken war.

In Europa ist nicht gewürdigt worden, wie gewieft der gegenwärtige Ministerpräsident Orbán 2011 dem "Nein, nein, niemals" von 1920 ein wirksames Ende setzte. Mit der breitesten demokratischen Legitimation seit Jahrzehnten ausgestattet, wagte er die Verkündung eines nach den Diktaturen endlich in freier Entscheidung ausgearbeiteten Grundgesetzes. Fast unbemerkt haben er und seine Mitstreiter dem kleinen Staatsgebiet Verfassungsrang gegeben. Keine Zusatzbezeichnung, wie seit 1920 zunächst "Königreich", dann "Volksrepublik" und zuletzt "Republik", lässt mehr glauben, es könnte sich lediglich um ein Teilgebiet des Gesamtlandes handeln - wie es in Deutschland in der Nachkriegszeit gewesen war, als auf dem Territorium eine Bundesrepublik, eine Demokratische Republik und sogar "besetzte Gebiete" nebeneinander bestanden.

Der neue Name lässt keine demagogischen Missdeutungen mehr zu. Der Artikel A lautet: "Der Name unseres Vaterlandes (,haza') ist Ungarn." Artikel B präzisiert sofort: "Ungarn ist unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat." Das Wort "haza" lässt sich zwar auch mit Heimat übersetzen, doch die Festlegung als Rechtsstaat bestimmt eindeutig, dass Ungarn Staatsname ist. So schnörkellos tritt der Staat auch international auf. "Magyarország", das Land der Ungarn, endet folglich an den anerkannten Staatsgrenzen und reicht nicht darüber hinaus. Die Rechtsstaatlichkeit wiederum steht vorsätzlichen Verletzungen völkerrechtlich eingegangener Verträge (vor allem des Pariser Friedensvertrags von 1947) entgegen.

Diese Selbstbindung beeilt sich, das ungarische Grundgesetz für die Magyaren in den Nachbarstaaten mit Hilfe des Artikels D erträglicher zu machen: "Geleitet von der Idee der einheitlichen ungarischen Nation trägt Ungarn Verantwortung für die jenseits seiner Grenzen lebenden Ungarn . . . und befördert deren Zusammenarbeit untereinander und mit Ungarn." Zugleich wurde die Erlangung oder Wiedererlangung der ungarischen Staatsbürgerschaft erleichtert, und der Artikel G garantiert die Fortwirkung der Staatsbürgerschaft per Abstammung. Beides ist darauf angelegt, die in altungarischen, heute ausländischen Gebieten verwurzelten Magyaren für das Ende der jahrzehntelangen Illusion zu entschädigen, wenigstens nach all den Diktaturen und nach dem Siegeszug der freiheitlichen Demokratien könnte ihre jeweilige Heimat eines schönen Tages zurück zu "Ungarn" gelangen.

Den größten Dienst hatte Orbán den abgetrennten Magyaren jedoch schon in seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident um die Jahrtausendwende geleistet, als er den Beitritt Ungarns zur Europäischen Union vorbereitete. Denn die EU ist das wohl einzige Heilmittel für die Schmerzen der Ungarn seit Trianon.

(Schluss)

Dieser Artikel ist am 02.06.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Der Autor stellte ihn der Banater Zeitung freundlicherweise zur Vefügung.

Georg Paul Hefty war zwischen 1981 – 2016 Verantwortlicher Redakteur der politischen Redaktion, Zeitgeschehen der F.A.Z.