„Die Krise ist seit der Französischen Revolution die neue Normalität“

Interview mit dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk

Während der Festredeanlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde | Fotos: Zoltán Pázmány

Den alten Vater auf dem Rücken, den Sohn an der Hand und dazu zwei Penaten in der Hand, „tragbare Glücksgötter“ sozusagen, hat sich der legendäre Äneas auf den Weg aus dem verwüsteten Troja Richtung Westen, Richtung Europa gemacht und wurde als „Qualitätsimmigrant“ dann schließlich zum Gründervater des Okzidents. Dieses Bild prägt sich ein, wenn es Peter Sloterdijk, der Philosoph, der zu den 100 einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit zählt, vor dervollen Aula Magna an der West-Universität zeichnet. Wie es heute um Europa, die zahlreichen Krisen, aber auch um die Kultur steht, erklärte der Philosoph in einem Interview mit der Redakteurin Ștefana Ciortea-Neamțiu.

Sie haben im Rahmen des Vortrags über Europäer als „politische Amphibien“ gesprochen. Wiekommt man aus diesem Zustand heraus?

Wir sollen nicht aus diesem Zustand herauskommen, sondern wir sollen eine amphibische Identität entwickeln, das heißt wir sollen bipolare politische Wesen sein, mit einer nationalen und einer europäischen Identität und so, wie wir heute auch schon in der Regel einen bivalenten Pass besitzen, der zugleich national und europäisch ist, so sollen wir auch eine Form von politischer Identität entwickeln, die dieser doppelten Situation gerecht wird.

Europa durchläuft mehrere Krisen, Pandemie, Krieg, Klimawandel. Wie wird Europa daraus hervorkommen?

Ich glaube, dass die Krise seit der Französischen Revolution die neue Normalität ist und aus jeder Krise geht eine andere Krise hervor; ich denke, wir sollen die Illusion der ruhigen Zeiten fallen lassen, wir sind keine Rentner des Universums und keine Urlauber des Kosmos, sondern werden immer in einer oder anderen Weise agitiert sein. Das ist eine Erfahrung, die übrigens auch die Menschen der Spätantike hatten; bei Aurelius Augustinus liest man einen Satz der lautet: „In experimentisvolvimur“. Das bedeutet so viel wie:„Wir werden gewälzt von einer Prüfung zur nächsten“.Und wenn man sich daran gewöhnt hat, dass das Leben eigentlich ein permanentes Examen ist und einen permanenten Examensstress mit sich bringt, dann sind wir auch nicht so enttäuscht, wenn die nächste Krise auf uns zukommt.

Wenn es dieses ständige Examen gibt, welche zwei Penaten würde der Europäer heute in die Hand nehmen, wie Äneas damals?

Ja, die Glücksgötter der Gegenwart sind natürlich vielfältiger geworden als die der früheren Jahrhunderte, einfach deswegen, weil wir sehr viele penatische Energien oder Familienglücksenergien in Form von technischen Geräten dargestellt haben. Ich glaube, dass das egotechnische Zentralgerät heute ja in jedermanns Hand ist, dieses Mobilphon, das für die meisten Menschen heute so etwas wie der Universalschlüssel für alle Türen in der Welt geworden ist und wer ein wenig Navigationsfähigkeit besitzt, mit Hilfe eines mobilen Telefons, der hat heute so etwas wie ein Penatensystem in der Hand.

Ich komme jetzt auf zwei Begriffe zu sprechen, die sehr in Mode sind und auch in Europa, aber vor allem in Amerika die Runden machen, das sind „wokeculture“ und „cancelculture“. Was halten Sie davon, wie definieren sie das?

„Cancelculture“ ist ein Phänomen, mit dem ich persönlich noch nicht in Berührung gekommen bin; ich glaube, das ist so etwas wie eine neopuritanische Stimmung in der westlichen Zivilisation, die von dem amerikanischen Campus ausgestreut wird. Es gibt Neopuritanismus in Form einer feministischen Nervosität und es gibt moralische Überempfindlichkeiten im Bereich der rassischen Differenzen oder der kulturellen Differenzen, aber ich glaube das sind alles mehr oder weniger normale Phänomene in einer Kultur, die sich zunehmend durch Mischungen definiert,die amerikanische Grundidee des „meltingpots“, das heißt der gemischten Zivilisation für die westliche Sphäre insgesamt übernommen, in gewissen Grenzen, und importieren dadurch auch neue Friktionen.Aber auch hier muss ich sagen, man muss sie als Teile einer neuen Normalität akzeptieren. Die Normalität heißt nicht, dass sich die Dinge beruhigen, sondern dass sie eine Form finden, in der sich auch der Streit und die Differenz weiterbewegen können und das ist ja in beiden Formen gegeben.

Sie haben „meltingpot“ erwähnt; also kommen wir jetzt auch auf das Banat zu sprechen, denn dieses wurde vor hundert Jahren von dem britischen Historiker Robert William Seton-Watson als „meltingpot“ bezeichnet, weil hier eben viele Ethnien und Religionen beisammen leben. Sie waren bei der Eröffnung der Europäischen Kulturhauptstadt in Temeswar dabei. Was nehmen Sie mit aus Temeswar an Gedanken, Bildern oder Objekten?

Mir kommt diese Gegend, das Banat, so wie ich es erlebt habe, wie eine osteuropäische Schweiz vor, weil hier eine offenbar geglückte Form von Multikulturalität existiert, eine unaufgeregte Form der Koexistenz mehrerer ethnischen Gruppen.Es gibt keine nationale Hysterie; das ist ein großer Vorzug. Und auch wenn man die Schweiz dafür lobt, dass sie eben kein Nationalstaat ist, sondern ein multikulturelles Projekt oder ein mehrkulturelles Projekt, so lässt sich das in gewisser Weise auch für die Kultur dieser Weltregion sagen.