Die Olympioniker-Familie aus Mercydorf

Tagesstätte für Kinder mit besonderen Bedürfnissen feierte 20-jähriges Jubiläum

Marius Sabău führt das, was Schwester Georgis vor 20 Jahren begonnen hat, weiter. Er leitet die Tagesstätte für Kinder mit besonderen Bedürfnissen aus Mercydorf.

Die Kinder und Jugendliche, die die Tagesstätte besuchen, ließen bei der Jubiläumsveranstaltung die Geschichte der Einrichtung Revue passieren. Fotos: Raluca Nelepcu

Viele Kinder sitzen an dem sonnigen Samstag Morgen in den ersten Reihen der römisch-katholischen Kirche aus Mercydorf/Carani, einer Ortschaft im Kreis Temesch, rund 25 Kilometer von der Kreishauptstadt Temeswar/Timişoara entfernt. Aufmerksam schauen sie dem Generalvikar Johann Dirschl zu, der gerade die Heilige Messe zelebriert, und singen eifrig mit. Es ist ein ganz besonderer Anlass, der in Mercydorf begangen wird. 20 Jahre feiert die Sozialeinrichtung der Caritas Temeswar, die für etwa 20 Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu einem zweiten Zuhause geworden ist. Die Tagesstätte für behinderte Kinder und Jugendliche trägt den Namen „Casa Sfânta Maria“ – „Heilige Maria“-Haus - und wurde kurz nach der Wende von der deutschen Schwester Georgis ins Leben gerufen.



Ich hatte damals Bischof Kräuter gefragt, ob es denn möglich wäre, eine Tagesstätte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu eröffnen. Er sagte damals zu mir: `Schwester Georgis, das können Sie gerne tun, aber wir haben kein Geld, um ihnen zu helfen“, erinnert sich die Gründerin des „Heilige Maria“-Hauses.  Die Tatsache, dass kein Geld da war, entmutigte Schwester Georgis nicht. Eines Tages lernte sie den orthodoxen Priester aus Mercydorf kennen, der ihr anvertraute, dass er ein autistisches Mädchen hatte. Von ihm erfuhr die Schwester, dass der römisch-katholische Pfarrer ein großes Pfarrhaus besaß, das sich perfekt als Tagesstätte für behinderte Kinder eignen würde. „Es war sehr schwer, ihn zu überzeugen, dass in seinem Haus Behinderte untergebracht werden sollen, doch bis zuletzt willigte er ein. Schließlich war er aus dem Alltag der Tagesstätte nicht mehr wegzudenken“, sagt Schwester Georgis.

Ganz so schwer könnte es wohl nicht gewesen sein, sich mit den Kindern anzufreunden. Die ersten, die ins Haus einzogen, waren die vier Mädchen Oana, Marinela, Anca und Wilhelmine. Anlässlich der 20. Jahresfeier seit der Gründung des Heilige Maria Hauses ließen die Kinder die Geschichte der Tagesttätte Revue passieren. Die Geschichte rührte einige der Gäste zu Tränen.

Eine Geschichte mit glücklichem Ende, denn im Laufe der Jahre veränderte sich auch die Menthalität der Leute in Rumänien, die die Tatsache, dass es auch spezielle Kinder auf dieser Welt gibt, heute viel leichter akzeptieren als vor 20 Jahren. Von Montag bis Freitag werden Kinder und Jugendliche aus Temeswar, Orzydorf/Orţişoara, Warjasch, Kalatscha, Baratzhausen/Bărăteaz, Knees/Satchinez und Mercydorf ins „Heilige Maria“-Haus gefahren. Dabei holt sie ein Bus frühmorgens vor ihrer Haustür ab und fährt sie nach Mercydorf – nach dem Mittagessen geht es wieder nach Hause. Um die jungen Menschen sorgen sich Heilerziehungspfleger, Psychologen und Logopäden. Die Therapie reicht vom Vermitteln des eigenen Körperbewusstseins und von Wahrnehmungsempfindungen bis hin zum Erlernen und Üben von Kulturtechniken – alles Dinge, die dazu dienen, das Leben und die soziale Inklusion dieser Kinder zu erleichtern. Die ungefähr 20 Kinder, die die Tagesstätte besuchen, leiden an unterschiedlichen Behinderungsformen, wie Epilepsie, Autismus oder Langdon-Down-Syndrom. Dadurch, dass sie ihre Vormittage in der Tagesstätte verbringen, werden auch Mutter und Vater entlastet. Meist nehmen Kinder mit besonderen Bedürfnissen die ganze Zeit ihrer Eltern in Anspruch, denn man muss sich rund um die Uhr um sie kümmern.

Die Tagesstätte steht unter der Obhut des Caritasverbands der römisch-katholischen Diözese in Temeswar, sie wird aber hauptsächlich über Spenden aus Deutschland finanziert. „Die Einrichtung finanziert sich zu 90 Prozent über Spenden und unter zehn Prozent beträgt die Subvention vom rumänischen Staat. Es ist die Geschwister-Jeckel-Stiftung aus Oberursel, die im Laufe der vergangenen 20 Jahre mehr alls 550.000 Euro für die Sozialeinrichtung gespendet hat, aber auch die Direkte Hilfe für Kinder in Oberursel und die Salvatorianer um Bruder Franz unterstützen die Tagesstätte mit Geld und Sachspenden“, sagt Caritas-Geschäftsführer Herbert Grün.

Der Leiter der Mercydorfer Tagesstätte für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ist Marius Sabău. Marius, wie ihn die Kinder nennen, ist kein typischer Chef, sondern einer, der sehr gern unter den Kindern weilt und mit ihnen wie mit seinen eigenen umgeht. Dass ihm das, was er macht, gefällt, ist nicht zu übersehen. „Als die Kinder erzählten, was sie in der Tagesstätte lernen, sagten sie: ´Wir lernen, unsere Schnürsenkel zu binden´. Kleine Dinge, wie zum Beispiel das alleine Essen, einen Teller vom Tisch nehmen können, sich die Schnürsenkel binden oder sich selbstständig anzuziehe-  das sind alles  sehr große Errungenschaften für die meisten von ihnen. Um einen Vergleich aufzustellen: Für all diese Siege und Errungenschaften arbeiten sie genau so viel wie die Kinder aus dem normalen Schulsystem, die Erfolge bei den Schülerolympiaden erzielen“, erklärt der Leiter der Tagesstätte, Marius Sab²u. Und weiter: „Ich könnte sagen, dass wir hier eine Olympioniker-Familie haben. Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch erklären muss, wie es sich anfühlt, wenn man nur von Olympionikern umgeben ist“.

Es sind ergreifende Worte, die an dem sonnigen Samstag im Juni anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Heilige-Maria-Hauses in Mercydorf gesprochen werden. Worte, die Marius Sab²u nicht leicht fallen, denn seine Olympioniker, wie er sie nennt, sind tatsächlich speziell. Für viele von ihnen ist jeder Tag ein Kampf. Ein Kampf ums Überleben in einer Welt, die nicht für Menschen mit besonderen Bedürfnissen wie sie geschaffen wurde.