In jeder Situation gibt es Hoffnung

Kinder mit besonderen Bedürfnissen besuchen das „Heilige Maria“-Haus in Mercydorf

Lesen, Schreiben, Arithmetik: Im „Heilige Maria“-Haus findet täglich Unterricht statt.

Marius Sabău leitet die Sozialeinrichtung in Mercydorf. Fotos: Zoltán Pázmány

Langsam, knapp und leicht verständlich spricht Lehrerin Saveta Flutur mit ihren Schülern, hebt den Ton nie an, sondern erklärt zwei-drei-vier und manchmal sogar fünf Mal die selbe Lektion. Um den Tisch sitzen Andra, Tinu, Tibi, Ioana, Ali und Alina, die sich auf Hefte und Lehrbücher zu konzentrieren versuchen. Manchmal schaffen sie es, dann lobt sie Lehrerin Flutur, manchmal aber auch nicht, doch versuchen tun es trotzdem alle, so gut sie es nur können. Das Klassenzimmer befindet sich nicht in einer Schule, sondern in der Tagesstätte für behinderte Kinder und Jugendliche „Heilige Maria“ aus Mercydorf/Carani, rund 20 Kilometer von Temeswar/Timişoara entfernt. Die Einrichtung des Temeswarer Caritas-Verbands besuchen täglich ungefähr 14 Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen, die teilweise aus sozialschwachen Familien stammen. Mit zwei Bussen werden sie von Montag bis Freitag von zu Hause abgeholt, um in einer familiären Atmosphäre ein paar Stunden in Gesellschaft anderer Kinder zu verbringen. Für die Eltern bedeutet das eine große Entlastung.

„In erster Linie ist es eine Hilfe dadurch, dass die Kinder nicht nur in der Familie bleiben, wo sie nur mit wenigen Personen in Kontakt treten. Wir bieten ihnen eine gute Möglichkeit, ihr Sozialverhalten zu entwickeln. Die Eltern haben die Gelegenheit, zu erfahren, dass sie nicht allein gelassen sind, dass es keine isolierten Fälle sind, wie sie denken“, sagt Marius Sabău, der seit 2004 die Sozialeinrichtung in Mercydorf leitet. „Außerdem erfahren sie, dass es nicht unbedingt bedeutet, dass Gott sie bestraft hat, weil sie ein behindertes Kind haben. Es gibt Hoffnung in jeder Situation, man kann immer einen Ausweg finden“, fügt er hinzu. Im Wohnzimmer wird gerade gemalt, in einem kleinen Zimmer nebenan beteiligen sich drei Vorschulkinder an einer Logopädie-Stunde und im Klassenzimmer findet der Unterricht statt. Überall herrscht eine gemütliche Atmosphäre, fast wie in einer Familie.

Vom Pfarrhaus zur Sozialeinrichtung

Offiziell wurde die Tagesstätte in Mercydorf im Jahr 2001 gegründet. Die Einrichtung wurde aber eigentlich viel früher ins Leben gerufen. Es war die deutsche Schwester Georgis, die kurz nach dem Ende des Kommunismus in Rumänien als Lehrkraft an die neu gegründete „Sancta Maria Hilfe“-Schule  nach Temewar kam. Am Aufbau Rumäniens arbeitend, bemerkte sie das Elend, in dem vor allem Kinder in Heimen leben mussten, und beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Eines Tages lernte sie den orthodoxen Priester aus Mercydorf kennen. Der Mann vertraute ihr an, dass er ein autistisches Mädchen hatte – was damals, in den 1990er Jahren, in Rumänien noch ein großes Tabu war. Gleichzeitig erfuhr Schwester Georgis, dass der römisch-katholische Pfarrer aus der Ortschaft ganz allein in einem riesigen Pfarrhaus lebte. Sie ging also zum katholischen Pfarrer und erzählte ihm von ihren Plänen, eine Tagesstätte für behinderte Kinder zu gründen. Von der Idee, Behinderte in sein Haus zu lassen, zeigte sich der Priester zunächst angewidert. Doch Schwester Georgis ließ nicht nach. Schließlich erklärte sich der Mann bereit, sein Haus für die Tagesstätte zur Verfügung zu stellen. Schwester Georgis reiste in die Dörfer aus der Umgebung, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu finden und deren Familien Unterstützung anzubieten. Oana, Marinela, Anca und Wilhelmine waren die ersten, die am 1. Juni 1993 ihren ersten Tag in der Tagesstätte aus Mercydorf verbrachten.

Im Kreis sitzen die Kinder auf ihren Stühlen im Wohnzimmer und warten, dass Psychologin Veronica Rad, Vera, wie sie alle nennen, den Start gibt. Cristian leidet an Epilepsie, Gabi hat das Langdon-Down-Syndrom, Antonia sitzt im Rollstuhl und kann kaum sprechen, der kleine David ist ein autistisches Kind. Jedes der 14 Kinder leidet an einer seelischen Störung, doch zusammen schaffen sie es, die Probleme, die damit zusammenhängen, zumindest teilweise zu überwinden. Plötzlich stimmen sie ein Lied an. Ein christlisches Lied, in dem es um Glauben und gute Taten geht. „Fă bine dimineaţa, fă bine şi la prânz“, übersetzt bedeuten die Zeilen des Liedes: „Vollbringe morgens eine gute Tat, vollbringe zu Mittag eine gute Tat“. Gutes zu tun, obwohl man sich tagtäglich mit den eigenen Problemen auseinandersetzen muss, ist nicht leicht, aber möglich. In diesem Sinn werden die Kinder, die die Tagesstätte besuchen, erzogen. Musik und Singen gehören hier einfach zum Alltag dazu. Es ist kein trauriger Ort, sondern ein gemütlicher Ort des Zusammenseins, an dem sich jeder um jeden kümmert. Die Kinder und Jugendliche, die tagtäglich aus Temeswar, Orzydorf/Orţişoara, Warjasch/Variaş, Kalatscha/Calacea, Baratzhausen/Bărăteaz, Knees/Satchinez und Mercydorf ins „Heilige Maria“-Haus gefahren werden, leiden an unterschiedlichen Erkrankungen: Epilepsie, Autismus, Down-Syndrom, von leichten bis zu schweren geistigen Behinderungsformen ist alles dabei. Heilerziehungspfleger, Psychologen und Logopäden bieten diesen Kindern Unterstützung und Therapie an. Dies reicht vom Vermitteln des eigenen Körperbewusstseins und von Wahrnehmungsempfindungen bis hin zum Erlernen und Üben von diversen Kulturtechniken. Einmal in der Woche besucht sie ein Kinetotherapeut, um einen individuellen Gymnastikplan für jedes Kind aufzustellen. Auch die Pflege von Beziehungen und sozialen Fähigkeiten ist ein wesentlicher Aspekt in der Tagesstätte aus Mercydorf.

Mit Menschen arbeiten, die zeitlebens Kinder bleiben

„Mein erster Tag hier war sehr schön. Die Kinder haben mich sofort total nett aufgenommen. Ich muss in erster Linie helfen, wo es zu helfen gibt. Wie zum Beispiel, wenn jemand frühstückt und gefüttert werden muss. Sonst bin ich bei allen Aktivitäten dabei. Wir basteln, malen und kochen manchmal sogar“, sagt  Anna Hosten. Die Freiwillige aus Deutschland ist seit Oktober 2012 als Jesuit European Volunteer (JEV) in der Tagesstätte tätig. Zwar hatte sie früher mal mit blinden Menschen gearbeitet, dennoch wusste sie nicht so genau, was es heißt, mit wirklich schwer Behinderten zu arbeiten. „Ich musste mich daran gewöhnen, dass jemand, der älter ist als ich, auf meine Hilfe angewiesen ist“, sagt Anna Hosten. Die meisten der Jugendlichen, die in Mercydorf betreut werden, bleiben zeitlebens Kinder. Auch wenn sie sich körperlich weiterentwickeln.

Bei gutem Wetter gehen die Kinder in den Garten, wo sie ein paar angenehme Momente an der frischen Luft verbringen können. Es gibt hier Schaukeln und im Sommer wird sogar ein Swimming Pool aufgebaut. Für die Kinder werden ein paar Mal im Jahr Ausflüge organisiert, wie zum Beispiel in die Salzgrotte von Turda. Der Aufenthalt in der Salzgrotte dient nicht nur dem Wohlgefühl, sondern auch der Gesundheit. Teilnehmen können allerdings nur jene Besucher der Tagesstätte, die eine etwas leichtere Behinderung haben. Für Marius Sabău ist es eine Freude, die Kinder überall begleiten zu können. Oft hat er es aber schwer, die richtigen Orte zu finden, zumal in Rumänien die meisten Hotels nicht behindertengerecht gebaut sind. Noch vor der Unterkunftsbuchung muss Marius Sabău hinfahren und sich überzeugen, dass es für die Kinder, die im Rollstuhl sitzen, kein allzu umständlicher Aufenthalt sein wird. Dass womöglich nicht jeder mit diesen Kindern arbeiten könnte, das gibt der Leiter der Tagesstätte für Kinder mit besonderen Bedürfnissen aus Mercydorf offen zu: „Es muss Empathie vorhanden sein. Darüber hinaus muss man irgendwie immun sein beim Anblick des Leids. Wenn du mit diesen Menschen in Kontakt trittst, siehst du viel, viel Schmerz. Und oft kannst du nichts dagegen tun. Eine Person, die im Rollstuhl sitzt, hat Schwierigkeiten, aufzustehen und sich auf einen Stuhl oder eine Bank zu setzen, und das jeden Tag, womöglich ein Leben lang. Und du stehst daneben und siehst täglich diesen Schmerz“, betont Marius Sabău. „Wenn du nicht bereit bist, das zu sehen, wenn du dich überwältigt fühlst von dem Mitleid, das du empfindest, dann kannst du nicht mit diesen Menschen arbeiten. Es ist genau so, wie bei jenen Menschen, die in Ohnmacht fallen, wenn sie Blut sehen. Außerdem musst du an der Arbeit mit den Menschen Gefallen finden“, sagt Marius Sabău, der aus seinem Beruf eine Lebensaufgabe gemacht hat.

Mit den Menschen arbeiten kann einerseits schön, andererseits aber auch schön nervenaufreibend sein. Vor allem, wenn mit „Menschen“ die Behörden aus Rumänien gemeint sind. In diesem Jahr wurden die staatlichen Zuwendungen für Kinder mit Behinderung halbiert. Von der Kommune kommt so gut wie keine Unterstützung, so dass die Mercydorfer Tagesstätte hauptsächlich auf Spenden aus Deutschland angewiesen ist. Und auch diese zu bekommen wird immer schwieriger, wenn man schließlich den Spendern erklären muss, dass man von dem erhaltenen Geld unter anderen die Gehälter der Logopäden, Psychologen und Heilerziehungspfleger bezahlen muss, weil der rumänische Staat dafür keine Mittel übrig hat.