Leserecke

Im Schatten der Akazienbäume (III)

Der Temeswarer Hauptbahnhof in einem aktuellen Foto. Das 1857 fertiggestellte Gebäude hieß zunächst „Josefstädter Bahnhof“. Foto: Zoltán Pázmány

Ich konnte nicht wissen, dass wenig tiefer sich der Familienschmuck in einem Kasten verbarg. Ich konnte nicht wissen, dass meine verzweifelte Großmutter, die ein Leben lang das schwer erarbeitete Geld der Familie in Häuser investierte, die abwechselnd von Faschisten und Kommunisten enteignet wurden, in der Dämmerung ihres Lebens den Schmuck vergrub, wie die Ägypter, mit ihrer toten Seele zusammen. Ich konnte es nicht wissen, dass auch der Garten in der Ceaușescu-Zeit mit den Kräften der Häftlinge bebaut, und dass auch der Birnbaum zum Sterben verurteilt wurde. Ich lebte in meiner heiligen, schönen, liebevollen Welt, die mein Dasein für immer prägte. Wie ich schon erwähnte, in jener Zeit gehörte das Haus nicht mehr uns. Meine Großmutter, die es erwarb, verließ uns vor Jahren, und ihre ursprüngliche Wohnung wurde von der praktischen Regierung in drei Wohnungen geteilt, nachdem Arbeiter die eben gelegten Zentralheizungsrohre und die englische Toilette abmontiert und mitgenommen hatten. Die Fenster gaben die Blicke auf die Straße frei.

Akazienbäume spendeten im Sommer Schatten und duftende Träume. Die Wohnungen öffneten sich auf eine mit Weinreben bedeckte Terrasse. Der Kirschbaum, noch von meinem, mir unbekannten, Großvater gepflanzt, verziert heute noch den Winkel zum Treppenaufsatz. Das Leben der Mitbewohner kannte im Laufe des Jahres zwei Höhepunkte: die Verteilung der Kirschen und die Verteilung der Nüsse. Diese Bäume teilten ihr Schicksal mit dem Fatum des Hauses. Sie gehörten allen und zugleich niemandem. Nur mein Vater kümmerte sich noch um die „nationalisierten“ Pflanzen. Die neuen Bewohner erhielten jeweils eine Parzelle und bepflanzten nur diese. Die Ernte aber belebte den Alltag. Am aufregendsten fand ich das „Kirschfest“. An jenem Tag durfte ich auch hoch auf die Äste klettern, mich zwischen Blättern und reifen Kirschen mit einer leeren Tüte verstecken und sammeln, und essen, und essen, und ... essen. Es wurde nämlich in dieser Stunde das große Verbot aufgehoben. Ich, die Tochter der ehemaligen Besitzer, durfte die Kirschen schlemmen. Und das tat ich auch.

Sie waren überall. Hängend an meinen Ohren, saftig zwischen den Lippen, in meinen Händen, rötlich strahlend in dem wohltuenden Schatten und zwischendurch landeten sie auch in der Tüte. Es war ein Fest der Sinne und die Stimmung schlug hoch. Die Kirschen wurden gewogen und verteilt, Freunde und Verwandte beschenkt. Der Alltag kehrte zurück, mit dem enormen Unterschied, dass es mir jetzt erlaubt wurde, auf dem Weg zur Schule eine vergessene Frucht zu vernaschen. Ähnlich verlief die Nussernte. Wochenlang sammelten wir die heruntergefallenen Nüsse, unter den Argusaugen eines alten, vom Land zugezogenen Nachbarn, in eine große Holzkiste.

Unsere Nachbarschaft war gut.

Das Haus durch Kinderaugen

In jener Zeit, als ich die Buchstaben entdeckte, wohnten im Haus fünf Familien. An der Straßenfront ein älteres Ehepaar mit zwei Kindern, eine alleinlebende Kosmetikerin und eine Familie mit einer Tochter. Unsere Wohnung befand sich im ersten Stock der Gebäudeanlage, die im Garten für meine Eltern von Vaters Onkel gebaut wurde. Unter uns im Souterrain lebten still, vor sich hin schweigend, ein Lehrerpaar. Irgendwann zogen aus einem mir unbekannten Dorf auch die Eltern dorthin. Ich sehe sie alle vor meinen Augen, als ob die Zeit stehen geblieben wäre.

(Fortsetzung folgt)