Rumäniens Generation ohne Eltern

Tagesstätten für allein aufwachsende Kinder

Psychologe Cristian Badi: „Wir arbeiten mit den Kleinen auch in den Sommerferien. Da stehen viele Freizeitaktivitäten auf dem Programm.“ Foto: Zoltán Pázmány

Mit dem Vater sprechen sie oft nur am Telefon, meist abends, für ein paar Minuten, einige Male die Woche. Sie müssen kochen und putzen, sich um ihre kleineren Geschwister sorgen und vergessen oft, was eigentlich Freizeit heißt. Es ist die neue Generation, die die EU liefert: Kinder und Jugendliche, die bei Großeltern und Verwandten aufwachsen, weil die Eltern für ihre Jobs ins Ausland müssen, oft für Jahre. Die Risiken dabei sind hoch: Schulschwänzen, Isolation, sogar Selbstmord. Neue Tageszentren sollen nun den Kindern helfen, mit dem Alleinsein umzugehen, die elterliche Liebe und Zuneigung kann jedoch niemand ersetzen.

 

Schüchtern erzählt Patricia (10) von ihrem Wunschbrief an den Weihnachtsmann. Sie war brav, hat ihrer Mutter und  Schwester täglich geholfen und sich mit dem älteren Bruder vertragen, auch wenn es manchmal kompliziert war. Ihre Wunschliste ist nicht lang: zwei neue Wasserfarben, ein Computerspiel. Und dann noch dieser eine Wunsch, der größte eigentlich, den sie aber nicht gleich ausspricht. Patricia zupft an ihren blonden Haaren, blickt kurz nach unten und flüstert: „Dass der Vater nach Hause kommt“. Es ist immer wieder der gleiche Wunsch. Seit Jahren. Ein Wunsch nach einem Vater, den Patricia eigentlich nie richtig gekannt hat. Denn die 10-Jährige hat ihn nie richtig zu Hause erlebt. Vor mehr als 10 Jahren fuhr er nach Frankreich, schon bevor die Kleine geboren wurde. Auf der Suche nach Arbeit, nach mehr Geld. Nun leidet er aber an einer Krankheit und muss sich dort behandeln lassen. Eine baldige Rückkehr steht nicht in Sicht. Patricias Mutter ist auch wegen einer Krankheit in den Ruhestand getreten. Es ist viel mehr die ältere Schwester (15), die sich um die Kleine sorgt und ihr bei den Hausaufgaben hilft. Manchmal aber auch der Bruder, 24 Jahre alt.

Patricia gehört zu einer neuen Generation, die sich hauptsächlich nach dem EU-Beitritt Rumäniens gebildet hat und jetzt ihren Höhepunkt zu erreichen scheint: Kinder und Jugendliche, die nur mit einem Elternteil oder bei den Großeltern, Verwandten oder Nachbarn aufwachsen, weil Mutter und Vater im Ausland arbeiten.

 

125.000 Kinder wachsen ohne Eltern auf


Geschätzte 3,4 Millionen Rumänen arbeiten im Ausland, sie lassen nach einer Erhebung des Kinderhilfswerkes Unicef rund 350.000 Kinder zurück. Bei ungefähr 125.000 Kindern sind beide Elternteile weggegangen. Allein im Kreis Vaslui waren im vergangenen Jahr rund 45.000 Kinder den Großeltern und Verwandten überlassen. Die Eltern sind eigentlich verpflichtet, ihr Weggehen zu melden und die Verantwortung für das Kind einer anderen Person zu übertragen. Wenige tun das aber, laut Statistik haben nur knapp sieben Prozent einen Erziehungsberechtigten für ihre Kinder ernannt. „Schwierigkeiten tauchen dann auf, wenn niemand die Verantwortung für diese Kinder übernimmt. Sie kommen dann in Pflegefamilien oder in Kinderheime“, so Rodica Negrea, Leiterin des Temescher Kinderschutzamtes.

Im Kreis Temesch gibt es, laut Generalschulinspektor Marin Popescu, 5.500 solcher Fälle. Meist ist es der Vater, der ins Ausland auf Arbeit geht. Richtung Italien, Spanien, Deutschland oder Frankreich. Sehr oft handelt es sich um unterbezahlte Jobs für unqualifizierte Arbeitskräfte, wie Reinigungskraft oder Bauarbeiter. Das Temescher Schulinspektorat überlässt die Lösung dieses Problems frei und nach Gutdünken den Lehrkräften. „Es gibt Lehrer, die verschiedene Extraaktivitäten organisieren“, so Popescu und gibt die Geschichtslehrerin Simona Bigher vom Lyzeum für Lebensmittelindustrie in Temeswar als positives Beispiel an. Hier wurden in diesem Jahr die meisten Fälle registriert, in denen Kinder zurückgeblieben sind und die Eltern anderweitig arbeiten. „Die Lehrerin hatte selbst die Initiative, etwas Konkretes zu unternehmen“, so Popescu. Bigher hat das Projekt „Die Schule wie ein Zuhause“ gestartet, bei dem sie sich regelmäßig mit den Schülern trifft, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Dabei handelt es sich um Volontariatsarbeit, die sich der Schulinspektor auch von anderen Lehrkräften erwünscht. „Wir wollen dieses Projekt auch in anderen Schulen fördern“, so Popescu.

 

„Salvaţi copiii“ hat acht Tageszentren eingerichtet


Auch die Organisation „Salvaţi copiii“ versucht sich mit dem Phänomen durchzuschlagen:  Um Kinder mit Eltern im Ausland sollen sich nun auch Sozialarbeiter und Psychologen kümmern. Acht spezielle Tageszentren in Form von After Schools wurden von „Salvaţi copiii“ in verschiedenen Verwaltungskreisen eingerichtet, wo die Kleinen von Lehrern und Psychologen betreut werden. Doch damit wird das Problem längst nicht gelöst: „Die Nachfrage ist viel größer. Es gibt Wartelisten mit Kindern, die in diesen Zentren nicht aufgenommen werden können, weil es nicht genug Personal gibt“, so der Psychologe Cristian Badi, Mitarbeiter bei „Salvaţi copiii“. Ein Tageszentrum für Kinder mit Eltern im Ausland wurde im März 2010 auch in der Grundschule Nummer 15 in Temeswar eingerichtet. Das Geld für die Einrichtung der Räumlichkeit sponserte die Intesa SanPaolo Bank. Die Gehälter der beiden Lehrkräfte, die hier arbeiten, werden von der Stiftung „Enel Cuore“ übernommen.

 

Kreativität und Freizeit


Zurück zur 10-jährigen Patricia: In diesem Tageszentrum war sie von Anfang an dabei. Seit dem Frühjahr 2010. Damals ging sie in die zweite Klasse und konnte kaum mit anderen Kindern kommunizieren. Nun lächelt sie öfter, malt gern und erzählt von ihrer Katze. Sie ist eines der 70 Kinder der Grundschule Nr. 15, die dieses Zentrum besuchen. „Die Kinder haben mit der Zeit Vertrauen in uns gewonnen und fühlen sich hier beschützt. Das Problem in solchen Fällen ist aber, dass diese Kinder ihre Freizeit nicht richtig zu schätzen wissen. Denn sie müssen um sich selbst sorgen, mehr im Haushalt helfen, das Essen zubereiten, waschen, putzen usw. Solche Tageszentren bieten ihnen dann die Möglichkeit, etwas Kreatives in ihrer Freizeit zu unternehmen“, erklärt der Psychologe.

 

„Wir wachsen zusammen auf“


Rund vier Stunden am Tag verbringt Cristian Badi mit den Kindern im Tageszentrum „Wir wachsen zusammen auf“ in der Grundschule Nr. 15. Von Montag bis Freitag, zwischen 12 und 16 Uhr. 25 Kinder zwischen 7 und 16 Jahren besuchen täglich das Zentrum im Temeswarer Ronaţ-Stadtviertel. Der Rest bis zu 70 macht bei den Wochen- und Monatsaktivitäten mit, d.h. bei den Kino-, Theater- oder Museumsbesuchen.

Gemeinsam mit der Lehrerin Gabriela Lazea (23) hilft Badi den Kleinen bei den Hausaufgaben, bringt ihnen bei, wie sie den Eltern eine E-Mail schreiben können und organisiert Theater- oder Kinobesuche. In ihrem Unterfangen werden Badi und Lazea auch von Volontären unterstützt. Oft sind es Lyzealschüler oder Studenten. Auch Haretina Danci macht da mit: Die 19-Jährige ist selbst ohne ihren Vater aufgewachsen und kann die Schwierigkeiten der Kleinen verstehen. „Ich will etwas bewirken, auch wenn ich den Vater oder die Mutter nie ersetzen kann. Wenn ein Elternteil nicht da ist, wird immer etwas fehlen“, sagt Haretina, die zwei-dreimal pro Woche in die Tagesstätte kommt. „Wichtig ist, dass unsere Beziehung zu diesen Schülern anders ist, als die Beziehung, die sie mit den Lehrern pflegen. Sie sollen uns nicht als eine Autorität ansehen, sondern als Freunde, auf deren Rat sie aber Rücksicht nehmen sollen“, erklärt Gabriela Lazea.

 

Depression, Drogenkonsum, Selbstmord


Kein Tageszentrum kann aber das liefern, was das Kind am meisten braucht: die Elternliebe, die Zuneigung, die Geborgenheit. Psychologen schlagen Alarm und warnen vor negativen Auswirkungen auf das Erwachsenwerden des Kindes: „Es gibt zwei Extremen. Entweder entwickelt sich das Kind zu einem Außenseiter: Unmotiviert, abwesend, der in der Schule nicht mehr mitmachen will. Oder, er wird aggressiv und kann nicht richtig den Kontakt zu anderen pflegen“, so Cristian Badi. Zu den häufigsten Risiken zählt er Depression, Drogenkonsum und Schulschwänzen auf. „Das Kind weiß nicht, wie es mit diesem Phänomen umgehen soll. Sie werden darauf nicht vorbereitet. Sie erfahren nur eines Tages, dass der Vater oder die Mutter wegfährt. Das ist viel zu plötzlich“, fügt er hinzu.

Die Medien haben in den letzten Jahren von 20 Selbstmordfällen unter Kindern mit Eltern im Ausland berichtet. Es handelte sich dabei um Jugendliche, die von den Eltern allein zu Hause zurückgelassen wurden, und mit der Isolation nicht klar kommen konnten. Drei dieser Fälle wurden im Dokumentarfilm „Home alone – A Romanian Tragedy“ (2010) in der Regie von Ionuţ Carpatorea präsentiert. Der Regisseur hat mit Eltern und Verwandten der verstorbenen Kinder gesprochen, die nun mit dem Drama umgehen müssen. Doch der Film steht für die gesamte Generation, und soll ein Alarmsignal sein – für Politiker, Sozialarbeiter, für Eltern und für die Kinder selbst.